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Was passiert, wenn Putin den Gashahn zudreht?

Eskaliert die Ukraine-Krise weiter, könnten Gaslieferungen ausbleiben. Ein russischer Lieferstopp hätte gravierende Folgen – weil es kaum Alternativen gibt.

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Dreht Russlands Präsident Putin den Gashahn zu, hätte das gravierende Folgen.
Dreht Russlands Präsident Putin den Gashahn zu, hätte das gravierende Folgen. © Pool Sputnik Kremlin/AP

Von Jakob Schlandt und Christian Schaudwet

Offiziell will es niemand einräumen, doch die Gefahr, dass Russland Europa bei einer Eskalation der Ukrainekrise von Gaslieferungen abschneidet, ist real. Politik und Wirtschaft sind in Alarmbereitschaft. Die USA und EU arbeiten nach einem Bericht des „Handelsblatts“ an einem Konzept für die Notversorgung Europas und haben schon Gespräche mit Industrievertretern hierzulande geführt. Denn ein Lieferstopp hätte gravierende Folgen.

Wie wichtig ist Russland für die europäische Gasversorgung?

Die EU deckt ihren Erdgasbedarf von 380 Milliarden Kubikmetern pro Jahr zu knapp 40 Prozent aus Russland, Deutschland zu mehr als der Hälfte. Gas ist im deutschen Energiemix in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden, was sich mit dem Kohle- und Atomausstieg voraussichtlich fortsetzen wird. 87 Milliarden Kubikmeter hat Deutschland 2020 insgesamt verbraucht – Anfang der Achtzigerjahre waren es weniger als 60 Milliarden Kubikmeter.

Die EU hat einen sehr liquiden Erdgas-Binnenmarkt, der Energieträger kann leicht von einem ins andere Land gepumpt werden. Deutschland spielt dabei als Drehkreuz und wichtigster Empfänger russischen Gases eine zentrale Rolle.

Wie könnte Russland Gas als Druckmittel gegen die EU einsetzen?

Russland hat den Gasfluss in die EU bereits gesenkt. Durch alle Pipelines aus Russland inklusive der wichtigen Nord Stream in der Ostsee kam zuletzt weniger Gas, durch die Jamal-Leitung via Belarus und Polen gelangt gar kein Gas mehr nach Deutschland. Der russische Gazprom-Konzern erfüllt zwar immer noch seine vertraglichen Mengenvorgaben. Er liefert aber bei steigendem Bedarf keine zusätzlichen Mengen durch die Ukraine, wie er es in den vergangenen Jahren stets getan hat.

Durch alle Pipelines aus Russland, auch der wichtigen Nord-Stream-Verbindung in der Ostsee, kam zuletzt weniger Gas.
Durch alle Pipelines aus Russland, auch der wichtigen Nord-Stream-Verbindung in der Ostsee, kam zuletzt weniger Gas. © dpa

Bei einer militärischen Eskalation gegen die Ukraine, die die EU wahrscheinlich mit Sanktionen beantworten würde, könnte Gazprom den Gasfluss unter Bruch seiner Lieferverträge beliebig weiter senken bis hin zu einem völligen Lieferstopp. Damit würde sich Russland allerdings auch selbst schaden. Dem Land entgingen hohe Einnahmen, es wäre als Lieferant für viele Jahre diskreditiert und die Europäer würden sich verstärkt nach anderen Quellen umsehen.

Was würde bei einem russischen Lieferstopp passieren?

Unmittelbare Auswirkungen auf die Versorgung hätte ein Stopp zunächst nicht. Das europäische Leitungsnetz ist voller Gas, und Europa verfügt über unterirdische Gasspeicher. In Deutschland, wo die größten Speicher der EU liegen, ist der Füllstand allerdings schon auf 47 Prozent gesunken – für diese Jahreszeit ein historisches Tief.

Obwohl die Versorgung der Verbraucher, der Industrie und der Gaskraftwerke also nicht abrupt enden würde, wäre eine Panik am derzeit ohnehin nervösen internationalen Energiemarkt fast unvermeidlich. Schon die bisherigen Preissprünge der vergangenen Monate wurden zum Teil von Nachrichten über verringerte Gasflüsse aus Russland ausgelöst.

Was bedeutet es für die privaten Verbraucher?

Rein physisch sind private Haushalte und auch Unternehmen, die Wärme auf Gasbasis liefern, zum Beispiel über ein Fernwärmenetz, privilegiert beim Gasbezug in Krisenzeiten. Ebenso wie Einrichtungen mit sozialen Aufgaben, wie zum Beispiel Krankenhäuser. Auch kleine Gewerbe fallen darunter. Das regelt das Energiewirtschaftsgesetz, wie Sebastian Bleschke, Geschäftsführer des Erdgasspeicherverbandes INES, erläutert. Die Gasnetzbetreiber müssen vereinfacht gesprochen alles, was sie an Gas zur Verfügung haben, diesen Kunden zukommen lassen. Das ist auch auf EU-Ebene und in Leitfäden der Branche so geregelt, die insbesondere wegen einer Gasknappheitskrise vor zehn Jahren ausgearbeitet wurden. Deutschland ist daher prinzipiell vorbereitet.

Aber: Die Großmarktpreise würden vermutlich in Dimensionen steigen, die weit jenseits von allem bis dato gesehenen lägen. Erst einmal kommen diese Preissteigerungen aber nicht bei den Privatkunden an, denn sie haben ja einen Vertrag und einen Tarif mit einem Lieferanten abgemacht. Der kann – legal – die Preise frühestens mit sechswöchiger Vorlaufzeit anheben, bei vielen Verträgen gelten die Preisabmachungen aber auch länger.

Schon jetzt haben die Verbraucher mit steigenden Energiepreisen zu kämpfen.
Schon jetzt haben die Verbraucher mit steigenden Energiepreisen zu kämpfen. © dpa-Zentralbild

Wirklich geschützt sind die Haushalte aber dadurch nicht. Schon jetzt ächzen die Versorger unter den hohen Einkaufspreisen. Unseriöse Anbieter haben die Belieferung eingestellt, was wiederum die sogenannten Grundversorger unter Druck setzt, denn sie müssen die heimatlos gewordenen Kunden aufnehmen. Oft greifen sie derzeit zum Mittel, Neukunden sehr viel höhere Tarife abzuverlangen, was aber rechtlich umstritten ist.

Was ist mit der Industrie und den Gaskraftwerken?

Nach Haushalten und Wärmeversorgung kommen in der Rangfolge derer, die auf jeden Fall Gas erhalten sollen im Krisenfall, die Gaskraftwerke. Vor zehn Jahren hatten nämlich die Engpässe bei der Erdgasversorgung dazu geführt, dass vielen Gaskraftwerken die Versorgung abgeklemmt wurde, denn sie hatten sogenannte unterbrechbare Verträge unterzeichnet, die gegen einen Rabatt die Möglichkeit offenlassen, ihnen hin und wieder den Hahn zuzudrehen.

Damals drohte deshalb aus der Gaskrise eine Stromkrise zu werden, die Stromerzeugung geriet ins Schlingern. Ein Blackout ist noch schlimmer als Gasausfall, deshalb wurden sogenannte systemrelevante Gaskraftwerke festgelegt. So soll, und auch das wird in Notfall-Leitfäden ausformuliert, die Stromversorgung gesichert bleiben.

Deutlich wird also: Die großen gewerblichen und industriellen Gaskunden sind als Erste gekniffen im Fall einer ausgewachsenen Gaskrise. Chemiewerke zum Beispiel würden systematisch im Krisenfall von der Versorgung abgeklemmt, aber auch der Einsatz im kleineren Maßstab zum Beispiel in fertigenden Betrieben würde wohl gestoppt. Das hätte natürlich zahlreiche Folgewirkungen, die deutsche Wirtschaft würde vermutlich innerhalb kurzer Zeit nahezu zum Stillstand kommen. Denn irgendwo in der Lieferkette kommt praktisch immer Gas zum Einsatz.

Ob das Lahmlegen der deutschen Industrie überhaupt reichen würde und den Verbrauch auf ein Maß reduzieren könnte, das ganz ohne russische Lieferungen ausreicht, wäre sogar offen. Gut ein Drittel des Gasverbrauchs in Deutschland entfällt auf diese Kundengruppe. Ganz ohne russische Lieferungen würde der – wirtschaftlich ohnehin verheerende – Industriepuffer möglicherweise nicht einmal ausreichen.

Was wären rasche Alternativen zu russischem Gas?

Wirkliche Alternativen gibt es kurzfristig nicht. Das Angebot an verflüssigtem Erdgas (LNG), das in Tankschiffen transportiert wird, ist derzeit dünn. Japan, China und Südkorea sind abhängig von LNG, das vorwiegend in den USA und in Katar produziert wird.

Hinzu kommt: „Der LNG-Import in die EU ist vom jetzigen Niveau aus nicht mehr stark steigerbar“, sagt der Energie- und Osteuropaexperte Georg Zachmann vom Brüsseler Thinktank Bruegel. Die USA erwägen zwar zusätzliche Lieferungen nach Europa, aber nach Zachmanns Einschätzung „ist nicht klar, wie viel die Amerikaner überhaupt liefern können oder wollen“.

An LNG-Importterminals in Europa wie beispielsweise Gate in Rotterdam und Grain in der Themse-Mündung landen derzeit monatlich rund zwölf Milliarden Kubikmeter Gas an. Die Gesamtkapazität aller europäischen Terminals liegt bei 15 Milliarden bis 17 Milliarden Kubikmeter. Der LNG-Anteil am europäischen Tagesverbrauch beträgt im Moment nach Angaben aus der Branche 20 bis 30 Prozent.

Norwegen, das etwa 30 Prozent des EU-Gasbedarfs deckt, kann keine zusätzlichen Mengen liefern, wie sein Ministerpräsident Jonas Gahr Støre klargestellt hat. Auch die Pipelines aus Nordafrika und Aserbaidschan sind ausgelastet. Die Niederlande fahren ihre Produktion wegen förderbedingter Erdbeben langsam herunter. Aus eigenen Quellen kann Deutschland nur rund zehn Prozent seines Bedarfs decken.

Wie lässt sich die Abhängigkeit von Russland mittelfristig verringern?

Mit einem schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien und mit „grünem“ Wasserstoff – so beantwortet zumindest Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) diese Frage. Er und die Energiebranche halten auf dem Weg dorthin aber auch Erdgas und zusätzliche Gaskraftwerke für notwendig. Sie sollen wegfallende Kohle- und Kernkraftwerke ersetzen und dann zur Verfügung stehen, wenn Sonne und Wind nicht liefern.

Um weniger auf russisches Gas angewiesen zu sein, könnte Deutschland den Bau von LNG-Terminals vorantreiben. Habeck deutete am Dienstag an, dass er mindestens eines der laufenden, von Umweltschützern bekämpften Projekte unterstützen will. LNG als feste Versorgungsgröße würde allerdings voraussetzen, dass auf dem Weltmarkt genug LNG zu bekommen ist. Mittelfristig soll ein solches Terminal auf den Import von klimaschonendem Wasserstoff umgerüstet werden.