Wie junge Sachsen um ein Mandat kämpfen

Manchmal hilft nur ein Lächeln. So geht es zumindest Carolin Renner von den Grünen, wenn die Menschen in Görlitz ihr mal wieder nicht mehr als ein Kopfschütteln schenken. Es ist ein grau bewölkter und windiger Morgen auf dem Marienplatz. Das Bekenntnis zu mehr Klimaschutz und Migration reizt die Görlitzer, die gerade auf dem benachbarten Wochenmarkt eingekauft haben, offenbar. Die 24-Jährige stoppt das nicht, sie bleibt dran.
Carolin Renner kandidiert dieses Jahr erstmals für den Bundestag. Allerdings auf Listenplatz 13 von 15. Ihr Einzug ins Berliner Parlament ist unwahrscheinlich. Zuletzt stellten die sächsischen Grünen drei Abgeordnete und erhielten nur 4,6 Prozent der Zweitstimmen. Trotzdem gibt Renner am Samstagmorgen die energische Wahlkämpferin, die schwungvoll vom Wahlstand aufbricht und mit wippenden Schritten auf die Görlitzer zueilt. Ihre gelbe Regenjacke warnt schon von Weitem.
Männer können sich mutmaßlich nur schwer vorstellen, welcher Druck auf ihr lastet. Wer sich als Frau für die Bundestagswahl aufstellt und das in einem Wahlkreis, den der geradezu übermächtige AfD-Spitzenkandidat und Bundessprecher Tino Chrupalla dominiert, muss viel Gegenwind ertragen. Bei der Bundestagswahl 2017 siegte der AfD-Mann im Kampf um das Mandat mit 32,4 Prozent der Direktstimmen gegen den heutigen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Der spricht bis heute von einem Trauma.
Aber nicht nur die AfD ist eine Belastung. „Ich wurde schon oft auf der Straße sexuell belästigt“, sagt Carolin Renner. Mehrmals kam das während des Wahlkampfs vor. Aber auch vorher kannte Renner solche Erfahrungen, von der Straße oder aus dem Park. Bestimmte Orte meidet sie deswegen oder geht nur zusammen mit ihren Freundinnen oder Freunden auf die Straße. Dieses Unsicherheitsgefühl lastet sie jedoch nicht Geflüchteten an wie die AfD, sondern Männern im Allgemeinen.
Mehr junge Politikerinnen für das Land
Im Wahlkampf zeigt Renner lieber die selbstbewusste Frau mit klarem politischen Kompass. Themen, die aus ihrer Sicht besonders wichtig sind: straffreie Aufklärung der Ärztinnen und Ärzte zur Abtreibung oder konsequenter Queerfeminismus. Das feministische Konzept geht davon aus, dass die Geschlechter von Männern und Frauen nicht biologisch oder psychologisch vorherbestimmt sind, sondern durch die Gesellschaft. Mit allen Vorurteilen und Klischees, die dazugehören. Im Wahlkreis 157 Themen, die eine Mehrheit des vornehmlich konservativen Publikums eher abschrecken.

Auch deshalb steht Carolin Renner heute auf dem Görlitzer Marienplatz, sagt sie. „Ich möchte das Gesicht für junge Frauen sein. Und zeigen, dass wir genauso einen erfolgreichen Wahlkampf führen können.“ Um den ländlichen Raum zu fördern, wolle sie im überalterten und von Abwanderung geplagten Görlitz bleiben – so auch das Hauptargument ihrer Vorstellungsrede zur Listenaufstellung bei den Grünen. Ungewöhnlich für eine Region, in der laut Lausitz-Monitor jeder Zweite zwischen 16 und 29 Jahren wegziehen will . Carolin Renner stammt aus einem Dorf im Spreewald und studiert ab Oktober in Görlitz soziales Management im Master. Sie könne sich vorstellen, den Strukturwandel in der Lausitz zu begleiten. Genauso gern würde sie einen Dienst in ihrer Partei übernehmen: entweder als Kandidatin oder im Hintergrund als Organisatorin. Für den Bundestagswahlkampf hat sie ihr Studium kurzzeitig pausiert.
Vom Kloputzer und Koch zum Direktkandidaten
Wenn Markus Pohle nicht gerade eine selbstgedrehte Zigarette raucht, isst er Gummibären. „Das ist meine Wahlkampfnahrung“, sagt der 30-Jährige mit einem Schmunzeln. Seinen linken Arm stützt der Linken-Kandidat locker in die Hüfte, die andere Hand fährt langsam über das Werbematerial auf dem Stand seiner Partei. Er wirkt ruhig, dabei ist sein Terminplan so kurz vor der Wahl voll. „Ich funktioniere nur noch.“ Seine Hauptaufgabe sei es als Direktkandidat, seiner Partei im Kreis ein Gesicht zu verleihen. Das Gesicht trägt hellbraunes Sakko, weißes Hemd, schwarze Anzugshose und gleichfarbige Lederschuhe. „Ohne Sakko habe ich meist weniger Gespräche am Wahlstand. Offensichtlich wirke ich so seriöser.“
Pohle steht auf dem letzten Listenplatz der sächsischen Linken. Er ist in Chemnitz geboren, wohnt seit 2010 in Leipzig. In einem Leben vor der Linken hat er Geschichte und Europastudien studiert, schrubbte währenddessen auf der Leipziger Messe die Toiletten. Nach dem Studium arbeitete er als Koch – aufgrund persönlicher Krisen und fehlender Perspektive, wie er sagt. 2017 ist Markus Pohle in die Linke eingetreten. „Als die AfD stärkste Kraft in Sachsen wurde, da wusste ich: Es reicht nicht aus, nur aller paar Jahre die Linke zu wählen.“

Als die Partei ihn fragte, ob er nicht für Meißen kandidieren wolle, stimmte er schnell zu. Meißen gehört zu den Kreisen, in denen die AfD 2017 besonders gute Zweitstimmenergebnisse eingeholt hat: 32,9 Prozent. Das Direktmandat holte die Partei damals wohl deshalb nicht, weil mit dem früheren Bundesinnenminister Thomas de Maizière ein besonders prominenter CDU-Kandidat im Spiel war. Die Linken gingen mit historisch schlechten rund 13 Prozent der Erst- und Zweitstimmen aus dem Rennen. Von Markus Pohle erhoffte sich der Kreisverband nun neue Impulse.
Politisches Interesse ist wichtiger als das Parteiprogramm
Die Augen des Wahlkämpfers wandern durch seine in Gold gerahmte Brille die Coswiger Hauptstraße entlang: mal ernst mit zusammengekniffenen Augen, mal nachdenklich mit hochgezogenen Augenbrauen. Wo sind die nächsten Passanten? „Hallo, darf ich Ihnen etwas für die Bundestagswahl mitgeben?“, fragt er ruhig. „Ich habe Sie schon gewählt“, erwidern manche Menschen, die vorbeigehen. Andere schütteln nur den Kopf und eilen an ihm vorbei. Entweder haben sie noch persönliche Erledigungen abzuarbeiten, oder die Linke stößt sie ab. Mehr passiert um 12 Uhr nicht in Coswig. Ein Wunder sei, dass überhaupt noch Menschen vorbeikämen, sagt der Linken-Politiker.
Eine Schülerin hält mit dem Fahrrad am Wahlkampfstand an. „Für was setzen Sie sich ein?“, fragt sie. Mit ihr unterhält sich Markus Pohle vergleichsweise lange. Sie ist auch die einzige Coswigerin am Mittag, die offene Fragen stellt und nicht bloß ihren Frust über die Politik am Stand rauslässt. Ein Phänomen, dass dem Wahlkämpfer nicht nur in Coswig begegnet. Der Linken-Kandidat erklärt der Schülerin das deutsche Wahlsystem und, warum es die Linke gibt. Er versucht allerdings nicht, das Mädchen von der Partei zu überzeugen. Wichtiger als ein Kreuz bei der Linken sei, dass sie überhaupt politisches Interesse hegt. „Das ist im Zweifel wichtiger, als mein Programm herunterzurattern“, sagt Markus Pohle.
Auch die CDU lobt die Grüne
Zurück nach Görlitz, an einem Samstagmorgen. Carolin Renner bestückt die Alu-Transportbox auf dem blauen Wahlkampf-Dreirad der Grünen mit dem richtigen Material. Flyer, Parteiprogramme und die Wahlkampfzeitung der Grünen mit Sachsen-Beilage. Immer wieder huscht sie zum Dreirad, nimmt Wahlflyer heraus oder prüft die Anzahl. Oft koordiniert sie auch, wer was noch zu erledigen hat oder, was wo noch fehlt. Wie die Rückwand des Partei-Pavillons. Oder sie steckt Mini-Windmühlen aus Holz und recycelten Papier zusammen.

Die werden ihr und den anderen Grünen gefühlt gleich wieder aus der Hand gerissen. Von den vielen Familien, die vom Görlitzer Wochenmarkt kommen und ihren Kindern welche schenken. Ob die Beliebtheit des Wahlkampfgeschenks sich auf die Partei übertragen lässt, bleibt offen. Denn die Grünen hatten es in Ostsachsen nie leicht.
Bevor die Grünen ihren Görlitzer Wahlstand abbauen, besuchen Carolin Renner und ein Parteikollege der Grünen Jugend noch den Stand der CDU bei der Görlitzer Frauenkirche. Dort begrüßt ein CDU-Mitglied, das nicht genannt werden will, die Grünen-Kandidatin herzlich. „Du erinnerst mich an eine Parteikollegin, die mindestens genauso viel Lebensfreude und Tatkraft versprüht“, sagt der Konkurrent ihr. „Das hat mir meinen Tag verschönert“, antwortet Carolin Renner etwas perplex und kehrt aus der konservativen Sphäre zu ihrem eigenen Stand zurück. Das Kompliment des politischen Gegners verblüfft sie sichtlich. „Unter demokratischen Parteien sollte das normal sein", sagt er.