Der Neue aus Sachsen

Die blaue Stunde hängt über Berlin. Unten auf den Straßen rauscht es, oben thront die deutsche Flagge. Kassem Taher Saleh beobachtet den Turm, von dem sie weht. Schwarz, rot und gold, in die angehende Oktobernacht. „Einfach surreal“, sagt der 28-Jährige. „Innerlich hab’ ich wahrscheinlich noch nicht begriffen, dass ich Teil des neuen Bundestages bin.“ Unten im Innenhof schimmern leuchtende Lettern unter Blättern durch: „Der Bevölkerung“.
Kassem Taher Saleh kehrt der Besucherterrasse den Rücken, umrundet die Kuppel des Reichstags, lässt den Blick über die blauen Sitze und den Adler im Plenarsaal schweifen. Wo genau dort sein Platz innerhalb der Fraktion der Bündnisgrünen sein wird, weiß er noch nicht. Dass er im Bundestag sitzen wird, steht seit der Bundestagswahl vor drei Wochen fest.
„Ich hatte noch keine Zeit, zu reflektieren und zu realisieren. Es war Wahlkampf, Wahlabend, und dann ging alles so richtig los“, sagt er. Erste Fraktionssitzungen, die Suche nach Mitarbeiterinnen und einer Wohnung in Berlin, neue Technik, neue Kontaktdaten, Wege in und durch die Stadt. In Berlin teilt er sich übergangsweise einen Raum mit einer anderen Abgeordneten im Jakob-Kaiser-Haus, wo die meisten Parlamentarier untergebracht sind. „Vom Rest des Bundestagsgebäudes kenne ich erst einen Bruchteil.“

In seiner Heimatstadt Dresden, in Görlitz und in Plauen, wo Saleh aufgewachsen ist, plant er, Büros zu eröffnen. Abgeordnete erhalten monatlich gut 10.000 Euro „Entschädigung“. Für ihr Team in Berlin dürfen sie fast 23.000 Euro ausgeben, hinzu kommen unter anderem Gelder für Mieten oder Reisen.
Von Beruf ist Kassem Taher Saleh Bauingenieur, hat bisher als Bauleiter für eine Dresdner Baufirma gearbeitet. Als Politiker habe er einen „Raketenstart“ hingelegt, sagt er selbst. 2019 der Eintritt bei den Grünen, 2020 die Frage der Grünen Jugend, ob er kandidieren wolle. Die Initiative „Brand New Bundestag“ unterstützt ihn und neun weitere Kandidierende mit Workshops, Geld, Coaching, weckt Medieninteresse. Sie bekennen sich dazu, dass die Erde sich um höchstens 1,5 Grad Celsius erwärmen soll, und zur Seenotrettung von Geflüchteten. 2021 wird Kassem Taher Saleh auf Platz vier der grünen Landesliste in Sachsen und zum Direktkandidaten im Wahlkreis 159 Dresden-Süd gewählt. Zum guten Listenplatz habe ihm die Initiative maßgeblich verholfen. Eine Gegenleistung erwarte sie nicht, heißt es. „Progressive Politik“ sei das Ziel. „Dann war’s einfach nur durchziehen.“
Die Wahlparty der Partei ist längst beendet, als in jener Nacht Ende September gegen 5 Uhr klar wird, dass vier Grüne aus Sachsen in den Bundestag ziehen – auch er. „Der Wahlabend war eine Achterbahnfahrt.“ 8,6 Prozent hat die Partei in Sachsen geholt. Bundesweit 14,6. Bis früh um 7 Uhr feiert der neue Abgeordnete. Dann bringt er eine Torte zu der Dresdner Baufirma, für die er bisher gearbeitet hat, lässt sich beim Friseur frisch machen, fährt nach Berlin.
Wohnen - die soziale Frage des 21. Jahrhunderts
In welchem Bundestagsausschuss er künftig mitarbeiten wird, entscheidet sich erst später. Sein Favorit ist klar. „Bauen, Wohnen, Mietpolitik. Das ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts.“ Wohnen müsse günstiger, Heizen umweltfreundlicher werden. „Dresden wird immer heißer. Ich habe diesen Sommer keine Schmetterlinge gesehen. Wir müssen wieder eine Symbiose aus Städten und Natur schaffen, sonst können wir uns ohne Klimaanlage irgendwann nicht mehr fortbewegen.“ Auf die Frage, ob er eher Team Robert Habeck oder Annalena Baerbock sei, antwortet er: „Ich bin eher Team 1,5-Grad-Ziel. Mir sind Personaldebatten scheißegal.“
Vorbilder habe er nicht, die beiden Parteivorsitzenden genauso wenig wie sonst jemanden. Mit dem Ex-Vorsitzenden Cem Özdemir war er essen. Auch Claudia Roth schätze er sehr. „Jetzt mit ihnen allen in einer Fraktion zu sein – ich begreif’s einfach immer noch nicht. Ohne Scheiß.“
Geboren ist Kassem Taher Saleh 1993 in der Stadt Zakho im Irak. Als er zehn Jahre alt war, flohen seine Eltern mit ihm und seinen Brüdern aus der Heimat. Kurdisch spricht er fließend, außerdem Deutsch, Englisch und Spanisch. Oft rutscht ein sächsisches „Nu“ in einen Satz. 2018 wurde er eingebürgert. „Ich möchte nicht primär meine Fluchtgeschichte in den Vordergrund stellen. Ich möchte als Mensch, Bauingenieur, junger Bündnisgrüner wahrgenommen und akzeptiert werden“, sagt er. „Ich kann nicht nur über Asyl sprechen oder über die Situation in Erstaufnahmeeinrichtungen. Ich kann auch über Gebäudebegrünung, Rohstoffe oder Mieten reden.“ Außerdem wolle er nicht immer wieder gezwungen werden, sich an die Flucht und die Gründe dafür zu erinnern.

Leicht war die Ankunft in Deutschland Anfang der 2000er nicht. „Sachsen ist mehrheitlich ein konservatives Land. Was ich nicht so schätze, ist die mangelnde Offenheit gegenüber Neuem.“ Mit der Zeit habe er anderes schätzen gelernt. „Wenn man sich erst mal mit den Leuten versteht, ist die Loyalität extrem hoch. Da sind die meisten zu jeder Minute bereit, dir zu helfen. Ich bin Sachsen extrem dankbar für meinen Weg. Ich fühle mich als Sachse, Plauener, Dresdner.“
So wie einige in Deutschland ihn zum Ausländer erklären, gelte er im Irak als Europäer. „Ich spreche nicht den Slang, kleide, bewege, artikuliere mich anders.“ Zuletzt war er 2019 in seiner Geburtsstadt Zakho. „Ich kam an, stieg ins Taxi, hab’ mich angeschnallt, und der Fahrer hat mich deswegen ausgelacht, hat gesagt: Du kommst doch gar nicht von hier.“
Seine Eltern betreiben einen Laden mit orientalischen Lebensmitteln in Plauen. „Krass stolz“ seien sie auf ihn. „Meine Herkunft ist ein Teil von mir, und das wird es auch immer sein“, sagt er. „Man sollte ein vielseitiges Umfeld haben. Meines kommt nicht nur aus der links-grünen, sondern auch aus der migrantischen Blase. Ich habe auch Freunde, die Arbeiter oder Adelige sind.“
Fußball half, um sich in Sachsen zu Hause zu fühlen
Er ist zum Beispiel Mitglied bei Dynamo Dresden. Geht mit Freunden gern ins Stadion. K-Block. Da, wo sich besonders eingeschworene Fans tummeln. „Fußball hat mir extrem geholfen, mich in Sachsen zu Hause zu fühlen.“ Beim 1. FC Wacker Plauen spielte er am liebsten als Verteidiger und im Mittelfeld. Einen „gewissen Sportsgeist“ habe er auch außerhalb des Stadions. „Ich hasse es zu verlieren.“ Auch bei der Bundestagswahl. „Hätte ich es nicht geschafft, ich wäre sicherlich enttäuscht gewesen und hätte einige Tage gebraucht, es zu verdauen.“
Zehn Tage nach der Wahl trifft sich der Grünen-Kreisverband im Dresdner Volkshaus. Von einem „krass coolen Wahlkampf“ ist die Rede. Der Saal applaudiert Kassem Taher Saleh und der anderen Dresdner Direktkandidatin, die mit Blumensträußen auf einer Bühne stehen. Ein Direktmandat haben sie nicht errungen, sind aber nun beide im Bundestag. Sie gehören einer neuen Abgeordneten-Generation an, die gerade viel Interesse erfährt: jünger, diverser.
Ein paar Stunden später, gegen Mitternacht, teilt Kassem Taher Saleh in einem Dönerladen in der Dresdner Neustadt Gläschen mit dampfendem Tee aus. Die Gruppe am Tisch unterhält sich über den Wahlkampf. Auch in die „Milieus“, in denen die AfD stark ist, seien sie gegangen. „Wir waren in Pirna, Prohlis, Dresden-Plauen. Das haben wir Bündnisgrünen bisher viel zu wenig gemacht“, sagt Kassem Taher Saleh.

Von teils „extrem krassem Hass“ spricht eine Wahlkampfhelferin. Ein Passant sei auf die Kamera des Teams losgegangen. Andere haben Obst geworfen. Manchmal wäre es fast zu Schlägereien gekommen. Gerade auf kritischem Pflaster hatte das Team immer ein Auto dabei, mit dem es im Notfall hätte flüchten können. „An den Wahlkampfständen war ich oft eine Viertelstunde damit beschäftigt, Unwahrheiten zu beseitigen. Ich kam gar nicht dazu, meine Politik, meine Position zu erklären.“
Wenn Kassem Taher Saleh in Dresden unterwegs ist, trägt er gern Kapuzenpulli oder gelbe Jeansjacke. Am nächsten Morgen auf dem Weg nach Berlin hat er eine Barbour-Steppjacke mit Cordkragen über Hemd und Pullover gezogen. Wie alle Abgeordneten hat er jetzt eine Bahncard 100 für die erste Klasse. Seine Gummisohlen quietschen auf dem Steinboden der Bundestagsgebäude. Gemälde, Schriftzüge und Ziegelsteine mit den Namen früherer Abgeordneter säumen seinen Weg. Türen öffnen automatisch. „Welcome to the jungle“, sagt er. Willkommen im Dschungel.
Er guckt aufs Handy, liest Nachrichten, postet Kommentare. „Mein Instagram- und Twittergame leidet extrem“, sagt er am Abend bei einem Livestream mit anderen Abgeordneten der Grünen vor Publikum. Als das Gespräch vorbei ist, lässt er sich in seinen Stuhl fallen, legt die Hände hinter den Kopf und seine schwarz-gold gerahmte Brille auf den Schreibtisch. Ein Elektro-Audi, der Fahrdienst des Bundestags, bringt ihn später nach Neukölln zu einem Freund.
Am nächsten Vormittag erwartet ihn ein kurdisches Fernsehteam. „Ich brauche jetzt ein schönes Bild“, sagt die Korrespondentin in Pumps und Blazer. „Der ist jetzt ein Held bei uns, ne?“, sagt sie. „Der ist unser Schatz. Deutschland ist ein Einwanderungsland, das muss man auch hier drin sehen.“ Sie zeigt zur Parlamentskuppel.
Kassem Taher Saleh ist ein Mensch, der meist sehr höflich auftritt. „Tut mir leid noch mal wegen der Störung“, sagt er einem Touristenführer, neben dessen Gruppe das Fernsehteam gedreht hatte. „Schönes Wochenende“, sagt er den Sicherheitsleuten des Bürogebäudes, ehe er mit Rucksack und Laptop aus der Glastür eilt.
Er ist auch einer dieser Menschen, die Dinge oft dreimal sagen. „Fakten, Fakten, Fakten“ seien Hauptaufgabe guter Politik. „Liefern, liefern, liefern“ müsse er. Die Erwartungshaltung sei riesig, „nicht nur von der deutschen, sondern auch in der ausländischen Community.“ Den modernen Osten wolle er im Bundestag vertreten, eine Stimme für Menschen in Sachsen sein, die gegen Rechts protestieren. „Ich habe diese Stimme nicht gesehen im Bundestag.“ Er wolle als Politiker stärker mit Sachsens Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. „Leistung, Leistung, Leistung“ brauche es dafür. „Auf dem Fußballfeld war ich für viele die Zielscheibe Nummer eins, weil ich anders aussehe. Umso mehr, wenn man dann noch gut spielt.“ Wenn er dann „das entscheidende Tor“ geschossen habe, seien die Widersacher verstummt. „Das probiere ich jetzt auch hier in der Politik.“
Sein Glaubenssatz: „Weiter, weiter, immer weiter“
Er setzt sich an einen jener typischen Berlin-Mitte-Tische, die an Bierbänke erinnern und draußen im Kies stehen, aber mit ihrem dunkelbraunen Lack und den Silber-Scharnieren eigentlich zu chic dafür sind. „Schickimicki“ sei es hier, sagt der Neu-Berliner und stochert in einer Bowl herum – ein großer Essenstrend in Großstädten.
Bevor er die Stadt übers Wochenende verlässt, gibt er einem Kollegen die Faust, erzählt, dass er sich jetzt fachlich einlesen wolle. Der lacht. „Kannste vergessen. Dafür findeste gerade keine Zeit.“
Am Berliner Hauptbahnhof wuselt es. Bis vor Kurzem ist Kassem Taher Saleh jeden Montagmorgen hier vorbeigekommen, auf dem Weg nach Hamburg, wo er als Bauleiter tätig war. „Die Kommunikation auf dem Bau ist super, die wird mir fehlen. Jeder sagt seine Meinung offen und direkt.“ Der Zug rollt durchs Grüne nach Dresden. „Ich muss jetzt mal wieder ein bisschen runterkommen und mich sammeln“, sagt er. „Gerade kann ich auf alles nur reagieren.“ Eine Bewerberin für sein Büro ruft an. Die Verbindung bricht ab. Er schüttelt den Kopf. „Digitalisierung und Deutschland …“
Er klappt seinen Laptop zu, eilt aus dem Zug. „Weiter, weiter, immer weiter“ lautet sein Glaubenssatz – das hat schon Torhüter Oliver Kahn gesagt.