Herr Prof. Decker*, an vielen Montagen treffen sich in Dresden immer noch "Querdenker" und Pegida-Anhänger. Auch an Bundesstraßen in der Lausitz wird weiter regelmäßig gegen die Corona-Politik demonstriert. Im ersten Halbjahr registrierte die Polizei in Sachsen insgesamt 1.400 Proteste dieser Art. Woher kommt die Ausdauer?
Die "Querdenker"-Bewegung ist in Sachsen relativ stark, weil sie unter anderem
propagandistisch an eine Tradition anknüpft, die mit dem Ende der DDR verbunden
ist. Begriffe wie Volk und Widerstand sind auf den Montagsdemonstrationen im
Herbst 1990 gerufen worden.
Sie meinen den legendären Satz: „Wir sind das Volk“?
Zum Beispiel. Der war aber vor 30 Jahren, anders als jetzt, nicht völkisch gemeint. Damals war der Satz ein Kontrapunkt gegen einen Staat, der den Volksbegriff inflationär verwendete. Die Demonstranten der Wende waren von dem Gefühl geleitet, das politische System sei nicht mehr legitimiert. Die Volkskammer etwa wurde nicht mehr als Repräsentantin der Bevölkerung empfunden.
Das ist doch heute ebenso der Fall, zumindest in Teilen der AfD, bei "Querdenkern" und Radikalen.
Ja. Eine Generation nach der Wende ist das Gefühl
eines massiven Legitimationsverlusts des politischen Systems bei Teilen der
Bevölkerung in Ostdeutschland wieder da. Diese Ressentiments sind aber nicht
durch Manipulation entstanden, sondern durch unerledigte
Transformationserfahrungen, etwa bei den Folgen der Wende wie gebrochene
Erwerbsbiografien, den Niedergang ländlich geprägter Heimatregionen, den
Verlust von Sicherheit.
Die Proteste geschehen nur aus Enttäuschung und Frust, sie sind aber nicht system-, also demokratiegefährdend?
Parteien wie die AfD, teils auch die Freien Wähler oder extreme Gruppen wie die Freien Sachsen haben in diesem Gefühl die Chance der Manipulation erkannt. Alexander Gauland oder Björn Höcke befeuern diese Emotion. Sie bestärken etwa die "Querdenker" darin, an eine Schwellenzeit zu glauben, an ein Momentum des Umsturzes, in dem Neues entsteht, wenn man dafür kämpft. Nur, dass es dann nicht mehr um mehr Demokratie geht, im Gegenteil.
Sondern um was?
Das wird nicht genau verraten. Mehr Völkisches jedenfalls, mehr Nation, weniger Moderne.
Und bis dahin stilisiert man sich als Opfer von Verschwörungen?
Die Verschwörungsmentalität ist historisch nicht ohne Beispiel. Zu Anfang der 19. Jahrhunderts war der Antisemitismus als stärkstes Bindeglied ein Code, in dem sich unterschiedliche Bürgerschichten in ihrer Ablehnung der Demokratie und des Liberalismus erkannten. Seine Verbreitung vereinte diese Bürger und verhalf dann auch der NSDAP zur Macht. Die Codes von heute, die Brückenideologien, das sind die Verschwörungsmythen. Anthroposophen, Impfgegner, Naturfreaks, Homöopathie-Fans, Hardcore-Christen, Esoteriker – sie alle verbindet ein genereller Reflex gegen moderne Gesellschaften.
Zurück in die Vergangenheit also?
Auf den Demonstrationen der "Querdenker" entdeckt man
eine Ursprungssehnsucht nach dem Motto: „Früher war alles besser“. Dass es
heute gefühlt schlimmer ist, dafür braucht es Schuldige. Für die "Querdenker" sind das wahlweise das Finanzkapital, dunkle Mächte im Hintergrund, die
Pharmaindustrie, Superreiche, Politiker, Medienleute. Verschwörungstheorien und
Esoterik sind eine Rückkehr des Antisemitismus in einem anderen Gewand. Und das
wird weiter wehen.
Warum scheinen vor allem ostdeutsche Bürger unter dieses Gewand zu passen?
Die im Herbst 2020 veröffentlichte zehnte Leipziger Autoritarismus-Studie zeigt, dass gut der Hälfte der Ostdeutschen eine Verschwörungsmentalität eigen ist. Psychologisch könnte man sagen: Diese Ressentiments sind eine dunkle Ressource. Sie speist sich aus autoritären Dynamiken in der Gesellschaft, aber auch aus der Überforderung vieler Menschen etwa durch Globalisierung oder Digitalisierung. Das gilt vor allem im Osten.
Warum?
Seit der Wende ist der Osten einer ständigen Transformation ausgesetzt. Das gilt im Grunde zwar auch für den Westen, aber die bereits in den 1970er-Jahren begonnen neoliberalen Umstrukturierungen sind dort viel länger sozialstaatlich und politisch abgefedert worden. Mit dem Ende DDR fiel nicht nur die Mauer. Viele Arrangements, darunter die Forderung nach Flexibilität, trafen die Menschen im Osten mit voller Wucht. Zunächst war auch erst einmal der Wunsch da, diese Anrufung, die Forderung der neuen Autorität zu erfüllen.
Was hat das alles mit Corona zu tun?
Die Pandemie könnte man verstehen als Kristallisationspunkt, in dem eine Mischung von autoritärer Wut und Enttäuschung mit älteren anti-modernen Ressentiments verschmilzt.
Die Corona-Proteste wären demnach Teil einer Entwicklung?
Zunächst entsteht ein stiller Groll, der sich zu Wut und Hass aufbauen kann und sich dann entlädt. Das führt zu antidemokratisch und antimodern geprägten Protesten. Da eine personelle Autorität wie etwa Trump in den USA oder Putin in Russland derzeit in Deutschland nicht da ist, flüchtet man in Esoterik oder Verschwörungserzählungen. Je mehr das machen, vor allem in den sozialen Medien, wächst der Wunsch nach einer illusionären, einer kollektiven Vereinigung, in der zumindest in der Gruppe scheinbar alle Widersprüche und Herausforderungen verschwinden. Die kommen gefühlt nur noch von einem bedrohlichen Außen. In letzter Konsequenz ist es eine Fantasie von Allmacht, die auf Kosten der Realität geht.
Ist es denn realistisch, dass sich das in der Mehrheit der Bevölkerung durchsetzt?
Überzeugend auftretende, rhetorisch begabte Verschwörungstheoretiker oder professionelle Populisten wie in der AfD nutzten diese gefährliche Gemengelage, um Einfluss zu gewinnen. Was zu ihrem politischen Triumph dann noch fehlt, ist eine Wirtschaftskrise.
Warum?
Kein Land der Welt definiert seinen Nationalstolz so sehr über die Ökonomie wie Deutschland. Umfragen zeigen: 98 Prozent der Bundesbürger sind stolz auf die Erfolge der deutschen Wirtschaft, das ist weltweit der höchste Wert. Deshalb werden in Deutschland vor allem ökonomische Krisen wahrgenommen. 2012, als die Folgen der Finanzkrise auch die Realwirtschaft erreichten und das Bruttoinlandsprodukt deutlich sank, da hatten wir in der Leipziger Autoritarismus-Studie noch deutlich höhere Werte der Verschwörungsmentalitäten als heute.
Welche Rolle spielen in dieser Entwicklung die sozialen Medien?
Ich bin überzeugt, dass bei künftigen Protesten antimoderner Kräfte schneller und umfangreicher mobilisiert werden kann. Diese narzisstischen Filterblasen im Internet, die sind eine Wunschmaschine und wirken wie ein massiver Verstärker. Seit etwa zehn Jahren profitiert davon auch die extreme Rechte. Sie stabilisiert sich und akquiriert zunehmend bürgerliches Milieu. Das werden wir auch in Wahlergebnissen sehen; der extreme Flügel in der AfD ist dafür ja bereits Beleg.
Was kann die Politik tun, um dem entgegenzuwirken?
Politik sollte den Bürgern wieder ein stärkeres Gefühl der Stabilität und Verbindlichkeit vermitteln. Die Liberalisierung der Gesellschaft ist zwar ein großer Erfolg, der erhalten und gestärkt werden muss, doch gerade die beständige Betonung von Gruppenidentitäten müssen als Symptom verstanden werden. Denn Gruppennormen werden immer dann für Menschen wichtig, wenn sie sich bedroht fühlen. Aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe entstehen die Fiktion der Sicherheit und die vermeintliche Legitimation, Aggressionen gegen Andere abführen zu dürfen. Deshalb muss darüber nachgedacht werden, wie statt beständiger Flexibilisierungsforderungen solidarische Schutzstrukturen geschaffen werden, etwa bei Wohnen und Arbeiten.
Und wenn das nicht geschieht?
Die permanenten Appelle in Richtung digitale Selbstorganisation und Flexibilisierung wird zwar anfangs meist mitgetragen, denn das ist ja wichtig für die Wirtschaft. Die Verrechnungskosten aber kommen später: Überforderung, Kontrollverlust, Wut.
*Zur Person: Prof. Oliver Decker ist Jahrgang 1968 und stammt aus Gengenbach im Schwarzwald und wuchs in Köln auf. Der Sozialwissenschaftler ist seit September 2020 Gründungsdirektor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Bereits seit 2002 ist er mitverantwortlich für die als Mitte-Studien zur rechtsextremen Einstellung in Deutschland bekannte Studienreihe. Zudem ist er an die Sigmund-Freud-Privatuniversität Berlin als Professor für Sozialpsychologie und interkulturelle Praxis berufen worden.