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Darum sind die "Querdenker" in Sachsen so stark

Die Proteste gegen die Corona-Politik reißen in Sachsen nicht ab. Warum das so ist, erklärt Demokratieforscher Oliver Decker aus Leipzig im Interview.

Von Ulrich Wolf
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Prof. Oliver Decker ist Gründungsdirektor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig.
Prof. Oliver Decker ist Gründungsdirektor des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts für Demokratieforschung an der Universität Leipzig. © PR

Herr Prof. Decker*, an vielen Montagen treffen sich in Dresden immer noch "Querdenker" und Pegida-Anhänger. Auch an Bundesstraßen in der Lausitz wird weiter regelmäßig gegen die Corona-Politik demonstriert. Im ersten Halbjahr registrierte die Polizei in Sachsen insgesamt 1.400 Proteste dieser Art. Woher kommt die Ausdauer?

Die "Querdenker"-Bewegung ist in Sachsen relativ stark, weil sie unter anderem propagandistisch an eine Tradition anknüpft, die mit dem Ende der DDR verbunden ist. Begriffe wie Volk und Widerstand sind auf den Montagsdemonstrationen im Herbst 1990 gerufen worden.

Sie meinen den legendären Satz: „Wir sind das Volk“?

Zum Beispiel. Der war aber vor 30 Jahren, anders als jetzt, nicht völkisch gemeint. Damals war der Satz ein Kontrapunkt gegen einen Staat, der den Volksbegriff inflationär verwendete. Die Demonstranten der Wende waren von dem Gefühl geleitet, das politische System sei nicht mehr legitimiert. Die Volkskammer etwa wurde nicht mehr als Repräsentantin der Bevölkerung empfunden.

Das ist doch heute ebenso der Fall, zumindest in Teilen der AfD, bei "Querdenkern" und Radikalen.

Ja. Eine Generation nach der Wende ist das Gefühl eines massiven Legitimationsverlusts des politischen Systems bei Teilen der Bevölkerung in Ostdeutschland wieder da. Diese Ressentiments sind aber nicht durch Manipulation entstanden, sondern durch unerledigte Transformationserfahrungen, etwa bei den Folgen der Wende wie gebrochene Erwerbsbiografien, den Niedergang ländlich geprägter Heimatregionen, den Verlust von Sicherheit.

Die Proteste geschehen nur aus Enttäuschung und Frust, sie sind aber nicht system-, also demokratiegefährdend?

Parteien wie die AfD, teils auch die Freien Wähler oder extreme Gruppen wie die Freien Sachsen haben in diesem Gefühl die Chance der Manipulation erkannt. Alexander Gauland oder Björn Höcke befeuern diese Emotion. Sie bestärken etwa die "Querdenker" darin, an eine Schwellenzeit zu glauben, an ein Momentum des Umsturzes, in dem Neues entsteht, wenn man dafür kämpft. Nur, dass es dann nicht mehr um mehr Demokratie geht, im Gegenteil.

Sondern um was?

Das wird nicht genau verraten. Mehr Völkisches jedenfalls, mehr Nation, weniger Moderne.

Immer noch demonstrieren Bürgerinnen und Bürger an der Bundesstraße 96 gegen die Corona-Politik, wie hier Ende August in Zittau.
Immer noch demonstrieren Bürgerinnen und Bürger an der Bundesstraße 96 gegen die Corona-Politik, wie hier Ende August in Zittau. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Und bis dahin stilisiert man sich als Opfer von Verschwörungen?

Die Verschwörungsmentalität ist historisch nicht ohne Beispiel. Zu Anfang der 19. Jahrhunderts war der Antisemitismus als stärkstes Bindeglied ein Code, in dem sich unterschiedliche Bürgerschichten in ihrer Ablehnung der Demokratie und des Liberalismus erkannten. Seine Verbreitung vereinte diese Bürger und verhalf dann auch der NSDAP zur Macht. Die Codes von heute, die Brückenideologien, das sind die Verschwörungsmythen. Anthroposophen, Impfgegner, Naturfreaks, Homöopathie-Fans, Hardcore-Christen, Esoteriker – sie alle verbindet ein genereller Reflex gegen moderne Gesellschaften.

Zurück in die Vergangenheit also?

Auf den Demonstrationen der "Querdenker" entdeckt man eine Ursprungssehnsucht nach dem Motto: „Früher war alles besser“. Dass es heute gefühlt schlimmer ist, dafür braucht es Schuldige. Für die "Querdenker" sind das wahlweise das Finanzkapital, dunkle Mächte im Hintergrund, die Pharmaindustrie, Superreiche, Politiker, Medienleute. Verschwörungstheorien und Esoterik sind eine Rückkehr des Antisemitismus in einem anderen Gewand. Und das wird weiter wehen.

Warum scheinen vor allem ostdeutsche Bürger unter dieses Gewand zu passen?

Die im Herbst 2020 veröffentlichte zehnte Leipziger Autoritarismus-Studie zeigt, dass gut der Hälfte der Ostdeutschen eine Verschwörungsmentalität eigen ist. Psychologisch könnte man sagen: Diese Ressentiments sind eine dunkle Ressource. Sie speist sich aus autoritären Dynamiken in der Gesellschaft, aber auch aus der Überforderung vieler Menschen etwa durch Globalisierung oder Digitalisierung. Das gilt vor allem im Osten.