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Armutsforscher Butterwegge fordert in Dresdner Rede mehr Umverteilung

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge hält in seiner Dresdner Rede ein nüchternes, aber leidenschaftliches Plädoyer für mehr soziale Gerechtigkeit.

Von Marcus Thielking
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Für seine Thesen bekam Christoph Butterwegge im Dresdner Schauspielhaus viel Applaus.
Für seine Thesen bekam Christoph Butterwegge im Dresdner Schauspielhaus viel Applaus. © kairospress

Es kann nicht schaden, wenn auf der Bühne jemand steht, der weiß, wovon er redet. Hier steht nun also Christoph Butterwegge: Sohn einer alleinerziehenden Mutter, wie er selbst erzählt, unehelich geboren, Gymnasium, Studium, dann erst mal arbeitslos – und doch hat er es später zum Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gebracht. Wie er da auf der großen Bühne des Dresdner Schauspielhauses auftritt und redet, könnte er auch ein Professor für Physik sein, hellgraues Sakko, bequeme Outdoor-Schuhe, er redet ruhig und sachlich und trägt viele Zahlen vor, denn „ganz ohne Zahlen geht es nun mal nicht“.

Sein Vortrag bei den Dresdner Reden am Sonntagvormittag ist jedoch alles andere als trocken und langweilig. Es geht um nichts weniger als ein „Kardinalproblem der Menschheit“, so Butterwegge, nämlich die soziale Ungleichheit. Mit diesem Thema befasst sich der Politikwissenschaftler seit Jahrzehnten, mit vielen Büchern, Studien und Statistiken – auch deshalb weiß der 72-Jährige, wovon er redet. Von einem „Kardinalproblem“ spricht er, weil soziale Unwuchten die Ursache für viele andere gesellschaftliche Krisen seien. Auch für Kriege.

Warme Milch gegen den Hunger

Butterwegge spricht völlig frei, steht meist zwei Schritte neben dem Rednerpult, auf dem er vorher einen analogen Reisewecker aufgeklappt hat, um immer die Zeit im Blick zu haben. Alles andere hat er im Kopf, so oft hat er in seinem Leben schon gesprochen über die Definitionen von Armut und Reichtum, Verteilung von Vermögen, Steuersysteme und Sozialleistungen. Das alles ist sehr komplex, doch Butterwegge gelingt es, zwischendurch mit drastischen Beispielen immer wieder das Publikum wachzurütteln.

Er erzählt von der Rentnerin, die abends in ihrer Wohnung im Dunkeln sitzt, um Strom zu sparen, und warme Milch trinkt, weil ihre Oma ihr in der Kindheit erzählt hat, dass man dann den Hunger nicht so spürt – dem gegenüber stellt er den Reichtum von Milliardären, die allein aus den Erträgen ihrer Aktien Jahr für Jahr Millionen verdienen. Für solche Passagen ist ihm der Beifall gewiss. Immer wieder gibt es herzlichen Zwischenapplaus im Dresdner Schauspielhaus – übrigens auch, als bei der Begrüßung darauf hingewiesen wird, dass Butterwegge zu den Erstunterzeichnern des „Manifests für Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht gehört.

Seine Milchglas-Milliardärs-Rechnung könnte man als populistisch abtun. Aber als erfahrener Redner weiß er wohl nur zu gut, dass Statistiken allein nicht reichen, um dem Publikum das wahre Ausmaß der sozialen Ungleichheit zu verdeutlichen. Viele Deutsche, so Butterwegge, lebten immer noch in dem Irrglauben, die Bundesrepublik sei eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, ein Begriff, den die westdeutsche Soziologie in den 50er-Jahren in Zeiten des Wirtschaftswunder-Aufschwungs geprägt hatte: als ob es krasse Armut oder krassen Reichtum in diesem Land so gut wie gar nicht gäbe. Butterwegges Vortrag zielt denn auch vor allem darauf ab, den Zuhörerinnen und Zuhörern klar zu machen, dass diese Zeiten längst vorbei seien.

Für einen besonderen „Langzeit-Skandal“ hält er es, dass in einem reichen Land wie Deutschland Millionen Kinder und Jugendliche von Armut bedroht seien. Diese Altersgruppe könne man kaum als Faulenzer, Drückeberger oder gar Sozialschmarotzer abtun, wie es in Debatten zur Sozialpolitik oft der Fall sei. Butterwegge erzählt, dass er von 2005 bis 2008 sehr oft und regelmäßig in Dresden war, als Mitglied einer Enquete-Kommission des Landtages zur demografischen Entwicklung in Sachsen. Schon damals habe er darauf hingewiesen, dass es klüger wäre, Armut von Kindern zu bekämpfen statt Armut an Kindern, aus bloßer Angst, das Volk stürbe aus. Wenn der Staat Kinderarmut bekämpfe, „dann werden auch mehr Familien bereit sein, Kinder in die Welt zu setzen“.

Eine hauptsächliche Ursache unsozialer Entwicklungen sieht der Politikwissenschaftler in den Hartz-Reformen der Regierung Schröder vor 20 Jahren. Diese hielt Butterwegge damals schon für so unsozial, dass er 2005 aus der SPD ausgetreten ist. Seitdem ist er parteilos. Im Jahr 2017 trat er auf Vorschlag der Linkspartei als Gegenkandidat zu Frank-Walter Steinmeier bei der Wahl zum Bundespräsidenten an.

Die Deregulierung des Arbeitsmarktes, der Abbau von Leistungen des Sozialstaats und eine Steuerpolitik, die Reiche zu sehr verschone – all das, was von der rot-grünen Regierung Schröder als notwendige Modernisierung des Sozialstaats verstanden wurde, ist aus Butterwegges Sicht bis heute die Wurzel allen Übels. Die gesunkene Arbeitslosigkeit täuscht seiner Meinung nach darüber hinweg, dass inzwischen ein gewaltiger Niedriglohn-Sektor entstanden ist.

Niedriglohn-Beschäftigte, so führt er aus, hätten zwar Arbeit, seien aber oft von relativer Armut betroffen. Das heißt, sie können zwar gerade so Essen, Kleidung und Miete zahlen – hätten aber meist nicht genug Geld übrig, um regelmäßig auch mal ins Theater, Kino, Restaurant oder mit den Kindern in den Zirkus zu gehen. Diese relative Armut, so Butterwegge, sei mitnichten ein Luxus-Problem. Im Gegenteil: Sie könne für die Betroffenen erst recht demütigend und deprimierend sein.

Auf der anderen Seite werde der Reichtum der Reichen und Superreichen immer größer. Wobei er selbst den Begriff „Hyperreiche“ bevorzuge, denn ein Kind, das nachts noch aktiver sei als tagsüber, werde ja auch nicht „superaktiv“ genannt, als ob das etwas Positives wäre, sondern eben „hyperaktiv“. Und reich zu sein in extremem Ausmaß, also Zigmilliarden Euro zu besitzen, wie zum Beispiel manche Unternehmerfamilien in Deutschland: „Das ist nicht super!“, so Butterwegge.

Was heißt hier "reich"?

Kein Wunder also, dass für ihn die Lösung des Problems nicht zuletzt darin besteht, immens große Vermögen in Deutschland viel stärker zu besteuern. Wobei er immer wieder betont, dass es ihm dabei nicht um Gut- und Besserverdiener aus der oberen Mittelschicht geht. Als wirklich „reich“, so Butterwegge, würde er nur diejenigen bezeichnen, die ein so großes Vermögen besitzen, dass sie von den Erträgen dieses Vermögens – also Zinsen, Dividenden, Pachterlösen – bis an ihr Lebensende mit einem hohen Lebensstandard existieren können, ohne das Vermögen antasten zu müssen. Als ein konkretes Beispiel von mehreren schlägt Butterwegge vor, den Solidaritätszuschlag umzuwidmen in eine Art „Krisen-Soli“, den dann nur die wirklich Hochvermögenden zu entrichten hätten – dann allerdings in doppelter Höhe.

Ein weiteres politisches Instrument, das Butterwegge für sozial gerecht hielte, wäre eine solidarische Bürgerversicherung, in die wirklich alle Bürgerinnen und Bürger einbezogen würden, also auch Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister. Auch für diese Forderung gibt es ordentlich Zwischenapplaus.

Eine andere, oft gehörte populäre Forderung lehnt Butterwege allerdings ab: das bedingungslose Grundeinkommen. „Das wirkt natürlich auf den ersten Blick sympathisch“, sagt er, wenn alle einfach 1.000 Euro im Monat bekämen. „Aber je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto klarer ist mir geworden, dass das nicht die Lösung ist.“ Es sei eben nicht sozial gerecht, über alle denselben Betrag auszugießen, „gewissermaßen Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip“. Besser sei es, den wirklich Bedürftigen mehr zu geben, als dass Reiche oder gar Hyperreiche auch noch 1.000 Euro im Monat aus Steuermitteln erhielten.

Zum Schluss hat sich Butterwegge richtig warm geredet, verliert beinahe seinen Reisewecker aus dem Blick und bewegt sich neben dem Rednerpult immer freier und lebendiger. Der häufige Beifall aus dem Publikum zeigt ihm, dass er mit seinen Thesen hier in Dresden nicht gegen eine Wand redet. Minutenlanger, warmer Schlussapplaus mit einzelnen Bravo-Rufen ist auch ein gerechter Lohn.

Die Dresdner Reden sind eine Kooperation der Sächsischen Zeitung und des Staatsschauspiels Dresden. Die nächste und für dieses Jahr letzte Rede findet am 26. März statt: Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, spricht über „Resilienz und Krise – Ethische Überlegungen zu widerstandsfähigen Gesellschaften“.