Von Heinz-Peter Meidinger
Corona wirkt, als sei plötzlich eine Decke, die über unseren Schulen lag, weggezogen worden. Die Pandemie hat auf einen Schlag die Schwachstellen und Probleme der Bildungspolitik und unserer Schulen unverhüllt ans Licht geholt. Dabei sind das keine neuen Entdeckungen, die uns da offenbart werden. Im Grunde genommen sind es Versäumnisse, Defizite und Strukturmängel, auf die viele schon seit Langem hingewiesen haben. Wenn Politik über Jahre und Jahrzehnte nicht in der Lage und noch schlimmer, oft auch nicht willens ist, Probleme zu lösen, dann ist das kein vorübergehendes, sondern ein dauerhaftes Politikversagen.
In Analogie zum katholischen Katechismus könnte man da von Todsünden sprechen, von Todsünden der Schulpolitik. Natürlich gibt es, wenn man in diesem Bild bleibt, bei den bildungspolitisch Verantwortlichen in den verschiedenen Bundesländern kleine und große Sünder. Heilige, die frei von Sünden sind, sucht man allerdings vergebens.
Wenn man nach den Hauptversäumnissen forscht, die uns in der Corona-Pandemie jetzt so massiv auf die Füße fallen, dann landet man bei einer entscheidenden Schwäche des deutschen Bildungsföderalismus: der Unfähigkeit der Länder, sich in entscheidenden Fragen auf notwendige gemeinsame Lösungen zu verständigen.
An sich ist die Idee des Bildungsföderalismus gut und begrüßenswert: Es ist grundsätzlich besser, wenn politische Entscheidungen näher an den Orten getroffen werden, an denen diese umgesetzt werden müssen. Bürgernähe und die Chance auf passgenaue Lösungen sind so eher sicherzustellen. Aber ein funktionierender Bildungsföderalismus setzt voraus, dass es ein gemeinsames Fundament gibt, dass Schulen, Bildungsniveau, Chancengerechtigkeit und Abschlussprüfungen vergleichbar sind. Und im Bedarfs- oder Notfall muss in einem solchen System auch gewährleistet sein, dass man schnell zu gemeinsamen Lösungen kommt, dass es also auch ein Krisenmanagement gibt, das diesen Namen verdient.
Flickenteppich für die Schulen
Davon kann jedoch bei der Bewältigung der Corona-Krise keine Rede sein. Bis heute gibt es trotz gemeinsamer Corona-Gipfel zwischen Bund und Ländern einen bunten Flickenteppich, was den Schulbetrieb in den verschiedenen Bundesländern angeht.
Dieser Flickenteppich hat seine Ursachen nicht in erster Linie im unterschiedlichen Infektionsgeschehen, sondern in politischen Erwägungen, bei denen nicht selten die Balance zwischen Bildungsauftrag und Gesundheitsschutz aus dem Blick geraten ist.
Wenn es einen bundeseinheitlich am regionalen Infektionsgeschehen orientierten Hygienestufenplan gegeben hätte, wie ihn Eltern-, Schüler- und Lehrerverbände immer gefordert haben und noch fordern, dann hätte man etwa an Sachsens Schulen viel früher auf die ab Ende Oktober massiv steigenden Infektionszahlen durch rechtzeitige Einführung der Maskenpflicht und Halbierung der Lerngruppen reagieren können und müssen. So war man dann übergangslos Mitte Dezember als erstes deutsches Bundesland zur Vollbremsung und kompletten Aussetzung des Präsenzunterrichts gezwungen.
Ein für alle Bundesländer verbindlicher Hygienestufenplan, der klar regelt, bei welchen Inzidenzwerten welcher Schulbetrieb – Präsenzunterricht mit oder ohne Maskenpflicht, Wechselbetrieb, Distanzunterricht – möglich ist, hätte auch den Vorteil, dass Schulen sich bei steigenden oder fallenden Infektionszahlen bereits perspektivisch auf das kommende Szenario organisatorisch vorbereiten könnten. So aber hängen deutschlandweit alle Schulleitungen, aber auch alle Eltern und Schüler in der Luft und warten auf die meist ganz kurzfristig erfolgenden neuesten Beschlüsse der Politik.
Unterschiede der Schulsysteme
Neben dem fehlenden Krisenmanagement ist aber vor allem eine besonders große Schwäche des Bildungsföderalismus, so wie er heute aufgestellt ist, folgenreich: die enormen Leistungsunterschiede und damit die ungerechten Bildungschancen von Kindern je nach Bundesland, in dem man wohnt. Schülerinnen und Schüler in Sachsen und Bayern auf der einen Seite sowie Bremen und Berlin auf der anderen Seite trennen bei Leistungsvergleichen bis zu zweieinhalb Lernjahre. Das sind Welten.
Das ist zunächst einmal eine Benachteiligung der Kinder aus den leistungsschwachen Bundesländern, die mit geringeren Kompetenzen aus den Schulen entlassen werden. Es ist aber – weil sich die Leistungsunterschiede wegen der mangelnden Vergleichbarkeit der Abschlussprüfungen nicht in den Zeugnisnoten widerspiegeln – auch eine Benachteiligung der Jugendlichen aus den leistungsstärkeren Bundesländern.
Bis heute war die für die Zusammenarbeit der Länder im Schulbereich zuständige Kultusministerkonferenz (KMK) nicht in der Lage, beispielsweise über gemeinsame Prüfungsteile das Abitur in Deutschland vergleichbar zu machen. Eine 2,0 in Sachsen zählt bei der Bewerbung in einem zulassungsbeschränkten Studienfach genauso wie eine 2,0 in NRW, obwohl die Noten ganz unterschiedlich zustande gekommen sind. Ganz abgesehen von dem Problem, das derzeit Familien haben, wenn sie von einem Bundesland in das andere umziehen und dann feststellen, wie die Unterschiede der Schulsysteme das schulische Fortkommen ihrer schulpflichtigen Kinder beeinträchtigen.
Woran scheitert bislang jeder wirksame Versuch in der Kultusministerkonferenz, mehr Vergleichbarkeit auf hohem Niveau herzustellen? Es ist in erster Linie das Einstimmigkeitsprinzip, das bis dato Voraussetzung für eine Einigung bei entscheidenden Fragen ist. Und es ist die schwache rechtliche Grundlage, auf der sich KMK-Beschlüsse bewegen, die abhängig davon sind, ob diese auch im jeweiligen Land umgesetzt werden, was nicht immer der Fall ist.
Vorschläge zur Reform
Jede Krise beinhaltet auch Chancen. Wir haben jetzt die Chance, den Bildungsföderalismus so zu reformieren, dass er hinkünftig Probleme löst, statt sie zu ignorieren.
Erstens: Notwendig ist eine grundlegende Reform der Kultusministerkonferenz. Neben der Ersetzung des Einstimmigkeitsprinzips durch eine Zweidrittelmehrheit sollte ihr Apparat auch personell aufgestockt werden, um ihre Handlungsfähigkeit zu erhöhen. Bislang spiegeln KMK-Beschlüsse oft lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner wider. Sinnvoll wäre es auch, den jährlichen Wechsel in der KMK-Präsidentschaft durch längere Amtszeiten zu ersetzen, weil das jetzige Wahlsystem kurzatmiges Agieren fördert statt der notwendigen Langzeitperspektiven.
Zweitens: Wir brauchen in Deutschland außerdem endlich einen Bildungsstaatsvertrag, der die Zusammenarbeit der Länder auf eine stabile gesetzliche Grundlage stellt und gleichzeitig wichtige Eckpunkte der Vergleichbarkeit von Prüfungen, von Schularten, der Lehrerbildung und der Entscheidungsfindung in Krisensituationen regelt.
Eine solche Reform würde nicht automatisch alles zum Besseren wenden, sie wäre aber eine gute Voraussetzung dafür, die vorhandenen Probleme zu lösen, wozu auch der Lehrermangel und die fehlende Zusammenarbeit bei der Digitalisierung gehört. Wenn Corona für eine solche Reform den entscheidenden Anstoß liefert, würde diese Pandemie neben den negativen Folgewirkungen für Schulen auch eine positive Seite gehabt haben. Es wäre der Startschuss für einen funktionierenden Wettbewerbsföderalismus.
Heinz-Peter Meidinger (66) ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und ein gefragter Schulexperte. Sein Essay basiert auf seinem soeben erschienenen Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik“ (Claudius-Verlag, 128 S., 15 Euro).
Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.