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Warum wurde diese Familie nach Georgien abgeschoben?

Familie Imerlishvili hat acht Jahre in Pirna gelebt. Fünf der sieben Kinder wurden dort geboren. Wie konnte es zu der plötzlichen Abschiebung nach Georgien kommen?

Von Franziska Klemenz
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Seit der Abschiebung am 10. Juni harrt Familie Imerlishvili in Georgien aus, dessen Landessprache die Kinder nicht verstehen.
Seit der Abschiebung am 10. Juni harrt Familie Imerlishvili in Georgien aus, dessen Landessprache die Kinder nicht verstehen. © privat

Die Polizei kam um 1 Uhr morgens. Die Familie wurde wach geklingelt und die Kinder aus dem Schlaf gerissen. Dramatische Szenen spielten sich in der Pirnaer Wohnung der neunköpfigen georgischen Familie ab, die wenige Stunden später in einem Flugzeug nach Tiflis saß. Nach acht Jahren in Deutschland wurde eine bestens integrierte Familie aus ihrem Leben gerissen. Doch wie konnte es dazu kommen? Eine Spurensuche.

Auf welcher Grundlage konnte die Familie vor acht Jahren einreisen und so lange bleiben?

Ilona und Ilia Imerlishvili, ihre zwei ältesten Kinder und Ilonas Vater Noro sind am 3. Juni 2013 nach Deutschland eingereist. Sie begründen ihre Flucht aus Georgien damit, dass mehrere Familienmitglieder politisch verfolgt worden seien, korrupte Strukturen und eine enge Anbindung des Staats zur Mafia hätten ihnen Probleme bereitet. Nach dem Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft in Chemnitz zogen die schwangere Ilona, ihr Ehemann und ihre Kinder in eine Unterkunft in Pirna, während ihr Vater zunächst in Dippoldiswalde untergebracht wurde und später nachzog.

Nach ihrer Einreise hat die Familie im Juni 2013 einen Antrag auf Asyl beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gestellt. Nachdem dieses den Antrag abgelehnt hatte, zog die Familie vor das Verwaltungsgericht, das den Antrag im Juni 2017 ablehnte, und anschließend vor das Oberverwaltungsgericht, dessen Ablehnungsbeschluss Ende Oktober 2020 folgte.

In den Jahren ihres Aufenthalts brachte Ilona Imerlishvili fünf Kinder zur Welt. Wenn Eltern, die sich in einem Asylantragsverfahren befinden, in Deutschland Kinder zur Welt bringen, treten für diese weitere Asylverfahren in Gang. Wäre das Verfahren der Eltern bewilligt worden, hätten auch die später geborenen Kinder Aufenthaltstitel erhalten. Der Landesdirektion zufolge war Ilia Imerlishvili seit 2016 ausreisepflichtig. Das Asylverfahren von Vater Noro läuft noch. Auch ihm könnte die Ablehnung des Verfahrens drohen.

Warum ist die Familie nicht schon früher abgeschoben worden?

Die Bearbeitungszeiten des Bundesamts für Migration (BAMF) und der Gerichte summierten sich zu dieser Dauer. Nach der Ablehnung durch das Oberverwaltungsgericht Ende Oktober 2020 stellte die Anwältin der Familie außerdem einen Antrag wegen „nachhaltiger Integration“ nach Paragraf 25b des Aufenthaltsgesetzes, der besonders gut integrierten Familien mit minderjährigen Kindern den dauerhaften Aufenthalt einräumt, sofern sie mindestens sechs Jahre lang ununterbrochen geduldet waren und mehr als die Hälfte ihres Lebensunterhalts eigenständig bestreiten.

Welche Sozialleistungen hat die Familie während ihrer Zeit in Deutschland erhalten?

Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz hat das Landratsamt für die Wohnung der Familie gezahlt, außerdem sieht es einen monatlichen Satz vor, der etwas niedriger liegt als Hartz IV. Einen Anspruch auf Kindergeld erhalten Familien erst, wenn positiv über ihren Asylantrag entschieden wurde.

Haben die Eltern selbst zum Unterhalt der Familie beigetragen?

Der Familienvater der sieben Kinder hat zuletzt Vollzeit und unbefristet als Pfleger gearbeitet und dafür monatlich 2197,06 Euro brutto erhalten. Seine Ehefrau hat etwa 50 Stunden im Monat gearbeitet, als ehrenamtliche Dolmetscherin bei der Caritas und als Haushaltshelferin. Ihr monatliches Gehalt betrug 312 € netto.

Wann hat die Familie einen Asylantrag gestellt? Warum wurde er nicht positiv beschieden?

Der Asylantrag, den die Familie im Juni 2013 gestellt hatte, wurde mehrfach abgelehnt. Endgültig verlor er seine Erfolgschancen, nachdem das Oberverwaltungsgericht am 26. Oktober 2020 einen Antrag der Familie auf Berufung abgelehnt hatte, der sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtes wandte. Das wollte nicht anerkennen, dass die Familie über eine „Flüchtlingseigenschaft“ verfüge. Es sei nicht davon auszugehen, „dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Georgien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit eine Verfolgung“ im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention droht, dass also keine „begründete Furcht vor Verfolgung wegen (…) Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ besteht.

Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, muss der Antragsteller damit rechnen, dass er abgeschoben werden darf. Für die Familie aber lief noch das Verfahren nach Paragraf 25b des Aufenthaltsgesetztes. Die Abschiebung während eines solchen Verfahrens ist rechtlich zwar möglich, allerdings gibt es auch Kommunen und Landkreise, die das im Gegensatz zum Landratsamt in Pirna nicht praktizieren. Die Ausländerbehörde des Landratsamts hatte der Landesdirektion mitgeteilt, dass die den Antrag ablehnen wolle. Abgeschlossen war das Verfahren aber noch nicht.

Die Mädchen und Jungen der AWO-Kita in Pirna-Sonnenstein möchten, dass ihre nach Tiflis abgeschobenen Spielfreunde wieder zurückkommen.
Die Mädchen und Jungen der AWO-Kita in Pirna-Sonnenstein möchten, dass ihre nach Tiflis abgeschobenen Spielfreunde wieder zurückkommen. ©  privat

Ist die Familie darüber informiert worden, dass die Abschiebung bevorsteht?

Die Familie war nicht darüber informiert, dass sie am 10. Juni abgeschoben wird, deswegen konnte sie sich auch nicht darauf vorbereiten. Das Aufenthaltsgesetz erlaubt es nicht, über den konkreten Zeitpunkt von Abschiebungen zu informieren, damit Betroffene nicht untertauchen können.

Wann und warum ist das Ganze ein Fall für die Härtefallkommission geworden?

Der Fall landete erst am 10. Juni 2021, dem Tag der Abschiebung, bei der Härtefallkommission. Die Anwältin der Familie war vorher nicht davon ausgegangen, dass dieser Schritt nötig werden könnte. "Wir wollten den Vortritt denjenigen lassen, die in größerer Not sind, weil wir nicht mit der Abschiebung gerechnet hätten. Es gab kein Bedürfnis, weil wir die Erfolgschancen des Antrags nach AufenthG Paragraf 25b sehr hoch eingeschätzt haben", sagt Anne Nitschke.

Die Härtefallkommission besteht aus neun Personen, die Innenministerium, kirchliche und Flüchtlingsverbände vertreten. Sachsens Ausländerbeauftragter Geert Mackenroth (CDU) sitzt der Kommission vor. Während die Familie am Flughafen Halle/Leipzig ausharrte, beriet sich die Kommission. Das Innenministerium war eine Stunde vor Abflug darüber informiert worden, dass eine Entscheidung aussteht. Zehn Minuten vor dem Abflug der Maschine entschied die erforderliche einfache Mehrheit von fünf Stimmen, sich mit dem Fall befassen zu wollen.

Paragraf 5, Absatz 4 der der Sächsischen Härtefallkommissionsverordnung sieht vor: "Für die Dauer des Verfahrens werden unmittelbare Rückführungsmaßnahmen des Ausländers ausgesetzt." Ab dem Zeitpunkt hätte die Rückführung rechtlich abgebrochen werden müssen. Das Flugzeug hatte seine Parkposition allerdings schon verlassen. Weil die Familie abgeschoben worden ist, muss die Härtefallkommission ihr Verfahren unterbrechen. Regulär würde sie in einem nächsten Schritt darüber entscheiden, ob Familie Imerlishvili als Härtefall einzuordnen ist. Für diesen Beschluss ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Dem Beschluss muss zuletzt der Innenminister zustimmen. Sachsens derzeitiger Innenminister Roland Wöller (CDU) hat Positiv-Entscheidungen der Kommission schon mehrfach widersprochen.

Warum ist es nicht möglich, eine Familie, die so gut in Deutschland integriert war, dauerhaft hier bleiben zu lassen?

Der dauerhafte Aufenthalt von Familie Imerlishvili wäre möglich gewesen, wenn die Ausländerbehörde des Landratsamts dem Antrag nach Paragraf 25b zugestimmt hätte. Mit Schreiben vom 17. März 2021 kündigt dass Amt an, dass es gedenkt, den Antrag nicht anzuerkennen, begründet das mit der – seit Januar nicht mehr vorhandenen – Befristung des Jobs von Ilia Imerlishvili. Bedingung für die Bewilligung des Aufenthalts aufgrund von nachhaltiger Integration ist unter anderem, dass die Familie mehr als die Hälfte ihres Lebensunterhalts selbst bestreitet. Der Anwältin zufolge hätte in dieser Rechnung abgesehen von der Entfristung des Jobs auch berücksichtigt werden müssen, dass die Familie im Falle eines dauerhaften Aufenthalts Kindergeld erhalten hätte - in anderen amtlichen Kontexten zählt dieses als Einkommen.

Ein weiterer Grund für die Ablehnung des Antrags ist der Ausländerbehörde zufolge eine Bewährungsstrafe von Ilia Imerlishvili aus dem Jahr 2014. Die Staatsanwaltschaft Dresden stuft den Familienvater deswegen aber nur als „geringfügig vorbestraft“ ein. „Seit sieben Jahren war nichts mehr“, heisst es von dort. Der Staatsanwaltschaft Dresden zufolge ist "seit sieben Jahren nichts mehr gewesen", zuvor sei der Familienvater lediglich "geringfügig vorbestraft" worden.

Doch laut Ausländerbehörde ist Ilia Imerlishvili 2021 erneut „polizeilich in Erscheinung getreten“, man bescheinigt ihm einen „ausgeprägten Mangel zur Fähigkeit der Eingliederung in die Rechtsordnung der Bundesrepublik“. Gemeint ist das Fahren eines Autos mit georgischem Führerschein, der in Deutschland nur wenige Monate gültig ist. Seit das Ehepaar das weiß, nimmt es Fahrstunden. Ende Juni wäre die praktische Prüfung gewesen.

Man wirft der Familie außerdem vor, Reisepässe zu spät vorgelegt zu haben, was die Anwältin der Familie bestreitet. Bevor Sachsens oberste Ausländerbehörde, die Landesdirektion, den Vollzug einer Abschiebung einleitet, erkundigt sie sich bei der Ausländerbehörde des Landratsamts darüber, ob es Abschiebehindernisse oder Duldungsgründe gibt. Das ist auch in diesem Fall geschehen. Doch das Landratsamt Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in Pirna hat die Frage danach verneint.

Wer hat entschieden, wann und dass die Abschiebung über Nacht läuft?

Für die Planung der Abschiebung ist Sachsens oberste Ausländerbehörde, die Landesdirektion, zuständig - genauer: das Referat 63 "aufenthaltsbeendende Maßnahmen" der Abteilung 6 für Asyl und Ausländerrecht. Diese Abteilung organisiert Polizei und Flugzeug, entscheidet über Zeitpunkt und Uhrzeit der Abschiebung. Familie Imerlishvili war eingereiht in eine Sammelabschiebung von 50 Menschen, die per Charterflug nach Georgien gebracht worden sind.

Gibt es eine Chance, die Familie zurück nach Deutschland zu holen? Gibt es dafür überhaupt eine rechtliche Grundlage?

Für abgeschobene Familien gilt zunächst eine Einreisesperre von mindestens 30 Monaten in die Bundesrepublik Deutschland. Damit Familie Imerlishvili legal zurückkehren kann, muss zunächst diese Einreisesperre fallen. Andernfalls würde sie mit dem Betreten deutschen Bodens eine Straftat begehen. Über eine Herabstufung der Sperr-Dauer könnte die Ausländerbehörden des Landratsamts entscheiden. Die Landesdirektion hat eigenen Angaben zufolge darauf keinen Einfluss. Auch das Innenministerium (SMI) könnte die Entscheidung theoretisch beeinflussen. Das allerdings sagt dazu auf Anfrage: „Es gibt keine aktiven Bestrebungen des SMI, der Familie eine Wiedereinreise in das Bundesgebiet zu ermöglichen.“

Erst wenn Familie Imerlishvili sich legal auf deutschem Boden befindet, könnte das angestoßene Verfahren nach AufenthG Paragraf 25b oder auch das Härtefallverfahren nach AufenthG Paragraf 23a weiterlaufen. Die rasche Rückkehr nach Deutschland kann nur erfolgen, wenn Behörden respektive Ministerium ihren bisherigen Kurs korrigieren. Alternativ kann die Familie gerichtlich gegen ihre Abschiebung vorgehen. Das allerdings würde erheblich mehr Zeit in Anspruch nehmen.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels stand: "Wenn das Landratsamt den Antrag nach Paragraf 25b des Aufenthaltsgesetztes nicht abgelehnt hätte." Tatsächlich wurde der Antrag nicht abgelehnt, sondern die Ablehnung wurde nur angekündigt. Abgeschlossen war das Verfahren noch nicht.