Die Welt kann ganz schön ungerecht sein. Als wäre der Kohleausstieg nicht schon schwierig genug für Deutschland im Ganzen und die Lausitz im Besonderen, da erschwert nun auch noch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine alle Anstrengungen zusätzlich, die Erwärmung der Welt und damit den Klimawandel aufzuhalten. Eine Zeitenwende nannte Kanzler Olaf Scholz das.
Öl- und Gasembargo, eine schnell steigende Inflation, Ernährungsprobleme in der Dritten Welt und der Beginn eines neuen Kalten Krieges sind die schrillen Töne einer vermutlich nicht nur kurzfristig wirkenden Begleitmusik. Der Krieg in der Ukraine stellt die Gewissheiten des Strukturwandels in der Lausitz in Frage, auf die sich Politik, Energiewirtschaft und Umweltverbände erst so mühsam 2019 verständigt hatten. Gewissheiten, die selbst heute noch nicht alle Bürger überzeugt haben. Der jüngste Lausitz-Monitor zeigte in dieser Woche, wie wenig Vertrauen die Lausitzer in den Wandel haben, wie sehr er als Bedrohung von Wohlstand wahrgenommen wird und wie wenig als Aufbruch in eine bessere Zukunft.
Nun wäre es völlig verkehrt, alles beim Kohleausstieg wieder in Frage zu stellen. Das Grundproblem ändert auch der Krieg in der Ukraine nicht: Das viele Kohlendioxid in der Atmosphäre heizt das Klima an. Das wiederum sorgt für extreme Witterungsausschläge. Deshalb verständigte sich die Staatengemeinschaft darauf, die Erwärmung auf möglichst 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Ein Ziel, das ernsthafte Wissenschaftler für kaum noch erreichbar halten. Für Klimaforscher Mojib Latif geht trotzdem, wie er im „Spiegel“ erklärte, nicht gleich morgen die Welt unter. Vielmehr warnte er davor, immer mit Verboten in der Klimadiskussion zu agieren: „Wir müssen darauf achten, dass wir nicht immer nur diese Schreckensszenarien kommunizieren, sondern gleichzeitig ein positives Zukunftsbild entwerfen.“ Das erwarten auch die Menschen in der Lausitz.
Kohlefahrplan nicht in Frage stellen
Der Krieg in der Ukraine ist eine Zäsur, in der es von Illusionen Abschied zu nehmen gilt, von angstvollen Übertreibungen. Es ist Zeit für mehr Realitätssinn. Der Kohlefahrplan der Großen Koalition sollte nicht mehr in Frage gestellt werden. 2038 wird in Boxberg das letzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen. Schon bislang schloss der Plan auch einen früheren Ausstieg nicht aus, wenn die Energieversorgung abgesichert und der Strukturwandel in der Region positive Früchte trägt.
Aber die Reihenfolge muss stimmen. Und es kann auch das Gegenteil passieren, wenn es sich erweisen sollte, dass es Engpässe bei der Stromproduktion bis 2038 gibt. Die Blöcke in Jänschwalde müssen 2025 und 2027 nicht unbedingt als Sicherheitsreserve abgeschaltet werden. Und wenn eintritt, was amerikanische Forscher versprechen, könnten auch Atomkraftwerke wieder eine Alternative werden: kleiner, sicherer und ohne große Rückstände. Technologieoffenheit ist ehrlicher, als am Ende Atomstrom aus Frankreich oder Polen zu importieren. Zumal absehbar ist, dass mehr Strom als bislang für E-Autos und Wärmepumpen, für Stahlwerke mit grünem Wasserstoff und ohne Koks, für eine Chemie ohne Gas nötig sein wird.
Bund und Land müssen an ihren finanziellen Zusagen für die Region festhalten und durch beschleunigte Planungsverfahren auch absichern, dass die Milliarden bis 2038 in schnellere Eisenbahnverbindungen nach Dresden und Berlin fließen, in bessere Autobahnen und Nahverkehrsverbindungen, in lebenswerte Städte und Dörfer. Das müssen die Menschen spüren und sehen.
Dass die Entscheidung über das Großforschungszentrum im September fallen wird, ist gut. Rund 10.000 Jobs werden damit in der gesamten Region in Verbindung gebracht. Doch das bedeutet für die Lausitz auch: Es wird diesen Aufschwung nur geben, wenn sich die Region als Zuwanderungsland und Rückkehrergebiet versteht. In acht Jahren leben – wenn nichts passiert – 15 Prozent weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter in den Kreisen Görlitz und Bautzen. Im Bergbau ist jetzt schon jeder zweite Mitarbeiter älter als 50 Jahre. Es bräuchte also neben neuer Anziehungskraft auch eine Willkommenskultur.
Erste Anzeichen gibt es dafür. Knapp 5.000 polnische EU-Bürger siedelten sich in den vergangenen Jahren allein in Görlitz an, die meisten bereichern die Stadt mit Firmen, Cafés, Restaurants, verringern den Leerstand, gehen ihrer Arbeit nach und verleihen der Stadt internationales Flair. Noch ist das die Ausnahme, aber es zeigt, wie es gehen kann. Görlitz und Bautzen entwickeln sich peu à peu zu den Ankern, die ausstrahlen und mitziehen. Dieser Verantwortung müssen sich beide Städte bewusst sein.
Die Zeitenwende für die Oberlausitz kennt noch ein Datum: 12. Juni. Wenn die neuen Landräte in Bautzen und Görlitz gewählt werden, dann tritt die Aufbaugeneration nach 1990 ab. Und die Bürger müssen eine Antwort darauf geben, welcher Vision sie folgen wollen: eine weltoffene, sich ständig wandelnde und dabei doch auch Traditionen bewahrende Oberlausitz oder eine der Abschottung und der Perspektivlosigkeit. Mit der Wahl ist für die Bürger zudem der Abschied von einer bequemen Illusion verbunden: Der Glaube, auf sie käme es nicht an. Genau das Gegenteil ist der Fall.