Feuilleton
Merken

„Der Osten wird vom Westen fremdbestimmt“

Das sagt der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann. Der Meißner Bürgerrechtler Frank Richter hält dagegen. Ein Streitgespräch.

Von Oliver Reinhard
 17 Min.
Teilen
Folgen
Ist der Osten eine reine Erfindung des Westens und hat in Deutschland nichts zu melden? Darüber streiten im Podcast "Debatte in Sachsen" der Leipziger Bestseller-Autor Dirk Oschmann und Frank Richter.
Ist der Osten eine reine Erfindung des Westens und hat in Deutschland nichts zu melden? Darüber streiten im Podcast "Debatte in Sachsen" der Leipziger Bestseller-Autor Dirk Oschmann und Frank Richter. © Foto: SZ/Veit Hengst

Herr Oschmann, Sie beklagen ein großes Desinteresse des Westens am Osten. Stellen Sie das auch an der Uni Leipzig unter Ihren Studentinnen und Studenten aus dem Westen fest?

Dirk Oschmann: Wir haben eine sehr bunt zusammengesetzte Studentenschaft, die ostdeutsch ist und westdeutsch, aber auch international. Da spielt das Thema an der Oberfläche keine Rolle. Erst wenn man mit den Studierenden ins Gespräch kommt, merkt man, dass die Herkunft für manche doch auch wichtig ist. Einige aus dem Westen berichten, dass sie erst in Leipzig zu Westdeutschen gemacht werden, weil sie dort von Ostdeutschen so angesprochen werden, es ihnen vorher aber ganz egal war. Genauso absurd ist es im umgekehrten Fall, wenn Ostdeutsche, für die ihr Ostdeutsch-Sein vorher gar keine Rolle gespielt hat, plötzlich von Westdeutschen zu Ostdeutschen gemacht werden.

Frank Richter: Mir ist es ziemlich egal, und mein Selbstbewusstsein hängt auch nicht davon ab, ob die Westdeutschen sich jetzt dauernd für mich oder für den Osten interessieren. Es freut mich zwar, wenn jemand kommt und danach fragt, aber wenn er es nicht tut, stört es mich auch nicht.

Aber das mangelnde Interesse vieler Westdeutscher gegenüber dem Osten ist ja ein Fakt, umgekehrt gilt das übrigens auch. Nehmen Sie das denn nicht wahr, wenn Sie im Westen sind?

Richter: Ich bin da sehr entspannt, was mich persönlich betrifft. Aber das heißt ja nicht, dass es diese harten Konfliktlinien, die Herr Oschmann beschreibt, nicht gibt oder dass sie nicht wichtig wären. Es gibt sie – und sie sind wichtig. Ich habe aber Unterschiede festgestellt. In Frankfurt am Main zum Beispiel ist es mir sehr schwergefallen, die Gefühlslage der Menschen im Osten zu erklären. Und wissen Sie, wo es mir am leichtesten gefallen ist?

In Nordrhein-Westfalen?

Richter: Im Saarland. Die Saarländer kennen das Gefühl, ein bisschen am Rand zu liegen und kulturell ein bisschen anders geprägt zu sein. Und sie haben – wie NRW – ebenfalls einen Strukturwandel mit Massenarbeitslosigkeit erlebt. Also: „Den Westen“ gibt es nicht. Wir können daher nicht beklagen, dass „der Westen“ manchmal „den Osten“ pauschal abqualifiziert, wenn wir umgekehrt das Gleiche tun.

Oschmann: 1990 war die Anerkennung der Differenz zwischen Ost und West kein Problem. Aber seit 2010 habe ich das Gefühl, dass sich die Leute hier im Osten zunehmend Sorgen machen, dass diese Differenz nicht verringert wird, sondern entweder stabil bleibt oder sogar wächst. Und dass es auch nicht möglich ist, im Osten gleichberechtigt mit dem Westen etwas daran zu ändern und diese Gesellschaft mitzugestalten. In fast allen gesellschaftlichen Bereichen funktionieren Repräsentation, Teilhabe und Mitgestaltung nicht. Jedenfalls nicht so, wie man das erwarten würde.

Sie können gegen- und miteinander: Dirk Oschmann (l.) und Frank Richter.
Sie können gegen- und miteinander: Dirk Oschmann (l.) und Frank Richter. © Foto: SZ/Veit Hengst

Die Fakten sind ja tatsächlich: In Medien, Wirtschaft – überall ist immer noch „der Westen“ dominant.

Oschmann: Daraus resultiert bei vielen Menschen tiefe Verärgerung bis hin zum Zorn, sogar bis hin zu einer zunehmenden Demokratieskepsis. Hier im Osten sagen viele: Wir werden an dieser Demokratie nicht in angemessenem Maße beteiligt, wir dürfen sie nicht mitgestalten, unsere Ideen sind nicht gefragt. Und diese Wahrnehmung hat sich nach meinem Dafürhalten verstärkt, auch durch die Konflikte, die es gegeben hat, durch Flüchtlingskrise, Energiekrise und Krieg in der Ukraine.

Richter: Demokratie ist am Ende des Tages nun mal die knallharte Dominanz der Mehrheit über die Minderheit. Natürlich: Mehrheiten müssen Minderheitenrechte respektieren. Aber am Ende entscheidet im Parlament, im Bundestag, im Gemeinderat, wo auch immer, nun mal die Mehrheit. Und wir müssen zunächst mal feststellen: Die Menschen im Osten sind deutschlandweit die Minderheit, und sie sind einem politischen und auch ökonomischen System beigetreten. Weil die DDR am Ende war und die Volkskammer am 23. August 1990 den Beitritt mit großer Mehrheit entschieden hat.

Nun entschuldigt das ja nicht die Ost-West-Verwerfungen, die nicht nur Herr Oschmann beschreibt, oder?

Richter: Natürlich nicht. Aber so sympathisch und vermittelnd Sie mir jetzt hier gegenübersitzen, Herr Oschmann, so hart und unvermittelt sind ja viele Ihrer Formulierungen. Sie reden zum Beispiel vom totalen Ausschluss des Ostens von der Teilhabe in der Bundesrepublik. Wenigstens im politischen Bereich kann man das absolut nicht sagen. Auch Sachsen hat durch den Bundesrat Mitbestimmungsmöglichkeiten auch auf die Bundespolitik. In anderen Bereichen, etwa in der Wissenschaft, mag das anders sein. Aber auch da würde ich mehr Differenzierung anmahnen.

Herr Oschmann, Sie sagen etwa: „In der West Wahrnehmung ist der Osten „ein Geschwür am Körper des Westens, das er nicht mehr loswird“. Härter geht’s ja nicht. Warum? Wollen Sie wachrütteln? Oder sich nur mal Luft machen?

Oschmann: Natürlich stellt der Osten zahlenmäßig die Minderheit. Aber juristisch ist das längst zurückgewiesen worden, vom Osten als einer „Minderheit“ zu sprechen. Trotzdem tun auch wir es hier, und allein das ist für mich schon ein Wahrnehmungsproblem des Ostens. Was die Politik anbelangt, da haben Sie recht, Herr Richter. Da gibt es Mitgestaltung und Teilhabe. Aber selbst im Stab des Ostbeauftragten ist man doch ziemlich desillusioniert, was konkrete Handlungsmöglichkeiten betrifft.

Inwiefern?

Oschmann: Wenn etwa in Mecklenburg-Vorpommern die Ministerpräsidentin Frau Schwesig stolz darauf ist, dass jetzt 50 Prozent ihrer Mitarbeiter aus dem Osten kommen, wo es doch eigentlich 80 Prozent sein müssten. In anderen Bereichen wie der Wirtschaft oder überhaupt den Führungspositionen liegt die Quote zwischen zwei und vier Prozent, obwohl sie bei 18 oder 19 Prozent liegen müsste, wenn wir das Bevölkerungsverhältnis zum Maßstab nehmen. Es haben sich auch schon Studenten der Uni Leipzig in Briefen an eine große Tageszeitung beschwert, dass zu wenige Leute aus dem Osten ihre Professoren sind, die meisten aus dem Westen kommen und sie keine ostdeutschen Rollenvorbilder haben. Das führt dann unter anderem dazu, dass sich zu wenig Studierende aus dem Osten auf Stipendien bewerben, weil sie denken, sie wären dafür gar nicht vorgesehen und hätten auch gar keine Chancen.

Aber woran liegt das? Es gibt eine Studie, nach der Ostdeutsche sich auch viel weniger für Führungsposten bewerben. Also selbst mitschuldig?

Oschmann: Das Bewusstsein, man könne nicht mitmischen oder habe keine Chance gegen westdeutsche Konkurrenten, muss sich ja irgendwann gebildet haben, aus Gründen. Sicher gibt es auch eine gewisse Trägheit, eine Bequemlichkeit, das ist nicht so leicht auszumachen.

Laut einer anderen Studie mussten fast alle Ostdeutsche, die Karriere gemacht haben, dafür vorher in den Westen gehen …

Oschmann: Eben darum habe ich dieses Buch so und nicht anders geschrieben. Ich spitze ganz bewusst zu, weil es schon ganz viele differenzierte Studien zu diesem Thema gibt. Und ich wollte nicht nur irgendein neues Buch über den Osten schreiben, sondern dezidiert ein Buch über den Westen. Außerdem wollte ich einen Ton anschlagen, der die Dinge auf eine Weise ins Bewusstsein hebt, dass sie eben nicht mehr als irgendwie normal erscheinen oder als etwas, mit dem man sich abgefunden hat oder abfinden könnte. Mein Ton hat einen klaren strategischen Zweck.

Richter: Und ich hatte vor unserem Gespräch schon Angst, dass mir hier der Bullerjahn des Zorns begegnet … Aber Herr Oschmann, ich kenne viele Menschen, die aus Westdeutschland hierhergekommen sind und hier sehr qualifiziert ostdeutsche Interessen vertreten. Da geht es nicht darum, woher Sie kommen, sondern darum, was Sie tun. Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Wenn Sie zu schnell personalisieren oder gar moralisieren, tun Sie vielen Menschen unrecht.

Oschmann: Ich war ja lange in Jena, wo es Lothar Späth gab, ohne den Jena nicht das wäre, was es heute ist. Und es gibt viele, die mit großem Engagement aus dem Westen in den Osten gekommen sind und hier Großartiges leisten. Aber das ist nicht mein Thema. Sondern mein Thema ist: Warum ist es trotzdem so, dass der Osten nicht den Eindruck hat, mitgestalten zu können? Es geht mir darum, zu verstehen, warum der Osten in so einer Art Bockigkeit verharrt.

Richter: Aber wenn Sie schon das Gesamtbild malen wollen, müssen Sie den doppelten Transfer betrachten: von West nach Ost in die Führungsebenen und von Ost nach West auf die Arbeitsebene. Das war jedenfalls die Regel. Das führt zu nachhaltigen Verwerfungen an den sozialen und geografischen Peripherien des Landes, insbesondere auch in Sachsen, die demokratiefeindlich oder demokratiegefährdend sind – da gebe ich Ihnen vollständig recht.

Herr Oschmann, Ihre These, dass es ohne den Westen den ostdeutschen Rechtsextremismus in diesem Umfang nicht gäbe, ist ebenfalls arg gewagt …

Richter: Überhaupt ist vieles, was Sie schreiben, vergossene Milch von gestern. Und ich sehe in Ihrem Buch die Auffassung durchschimmern – die ich übrigens bei vielen Menschen hier im Osten sehe –, dass die Geschichte gefälligst ausgleichend und gerecht sein müsse. Das ist sie aber nicht. Wir werden mit manchen Verwerfungen leben müssen. Aber wenn wir uns nicht darin vergraben wollen, müssen wir Auswege finden. Die fehlen mir in Ihrem Buch.

Oschmann: Natürlich ist Geschichte nicht gerecht. Aber Geschichte ist kein abstrakter Prozess, sie wird konkret gesteuert von konkreten Akteuren. Auch die Besetzung von Führungspositionen sind klare Personalentscheidungen. Die Uni Leipzig ist da nur ein Beispiel von vielen, überall sitzen auf den Lehrstühlen fast ausschließlich Professoren aus dem Westen.