Das sagt der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann. Der Meißner Bürgerrechtler Frank Richter hält dagegen. Ein Streitgespräch.
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Oliver Reinhard
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Herr Oschmann, Sie beklagen ein großes Desinteresse des Westens am Osten. Stellen Sie das auch an der Uni Leipzig unter Ihren Studentinnen und Studenten aus dem Westen fest?
Dirk Oschmann: Wir haben eine sehr bunt zusammengesetzte Studentenschaft, die ostdeutsch ist und westdeutsch, aber auch international. Da spielt das Thema an der Oberfläche keine Rolle. Erst wenn man mit den Studierenden ins Gespräch kommt, merkt man, dass die Herkunft für manche doch auch wichtig ist. Einige aus dem Westen berichten, dass sie erst in Leipzig zu Westdeutschen gemacht werden, weil sie dort von Ostdeutschen so angesprochen werden, es ihnen vorher aber ganz egal war. Genauso absurd ist es im umgekehrten Fall, wenn Ostdeutsche, für die ihr Ostdeutsch-Sein vorher gar keine Rolle gespielt hat, plötzlich von Westdeutschen zu Ostdeutschen gemacht werden.
Frank Richter: Mir ist es ziemlich egal, und mein Selbstbewusstsein hängt auch nicht davon ab, ob die Westdeutschen sich jetzt dauernd für mich oder für den Osten interessieren. Es freut mich zwar, wenn jemand kommt und danach fragt, aber wenn er es nicht tut, stört es mich auch nicht.
Aber das mangelnde Interesse vieler Westdeutscher gegenüber dem Osten ist ja ein Fakt, umgekehrt gilt das übrigens auch. Nehmen Sie das denn nicht wahr, wenn Sie im Westen sind?
Richter: Ich bin da sehr entspannt, was mich persönlich betrifft. Aber das heißt ja nicht, dass es diese harten Konfliktlinien, die Herr Oschmann beschreibt, nicht gibt oder dass sie nicht wichtig wären. Es gibt sie – und sie sind wichtig. Ich habe aber Unterschiede festgestellt. In Frankfurt am Main zum Beispiel ist es mir sehr schwergefallen, die Gefühlslage der Menschen im Osten zu erklären. Und wissen Sie, wo es mir am leichtesten gefallen ist?
In Nordrhein-Westfalen?
Richter: Im Saarland. Die Saarländer kennen das Gefühl, ein bisschen am Rand zu liegen und kulturell ein bisschen anders geprägt zu sein. Und sie haben – wie NRW – ebenfalls einen Strukturwandel mit Massenarbeitslosigkeit erlebt. Also: „Den Westen“ gibt es nicht. Wir können daher nicht beklagen, dass „der Westen“ manchmal „den Osten“ pauschal abqualifiziert, wenn wir umgekehrt das Gleiche tun.
Oschmann: 1990 war die Anerkennung der Differenz zwischen Ost und West kein Problem. Aber seit 2010 habe ich das Gefühl, dass sich die Leute hier im Osten zunehmend Sorgen machen, dass diese Differenz nicht verringert wird, sondern entweder stabil bleibt oder sogar wächst. Und dass es auch nicht möglich ist, im Osten gleichberechtigt mit dem Westen etwas daran zu ändern und diese Gesellschaft mitzugestalten. In fast allen gesellschaftlichen Bereichen funktionieren Repräsentation, Teilhabe und Mitgestaltung nicht. Jedenfalls nicht so, wie man das erwarten würde.
Die Fakten sind ja tatsächlich: In Medien, Wirtschaft – überall ist immer noch „der Westen“ dominant.
Oschmann: Daraus resultiert bei vielen Menschen tiefe Verärgerung bis hin zum Zorn, sogar bis hin zu einer zunehmenden Demokratieskepsis. Hier im Osten sagen viele: Wir werden an dieser Demokratie nicht in angemessenem Maße beteiligt, wir dürfen sie nicht mitgestalten, unsere Ideen sind nicht gefragt. Und diese Wahrnehmung hat sich nach meinem Dafürhalten verstärkt, auch durch die Konflikte, die es gegeben hat, durch Flüchtlingskrise, Energiekrise und Krieg in der Ukraine.
Richter: Demokratie ist am Ende des Tages nun mal die knallharte Dominanz der Mehrheit über die Minderheit. Natürlich: Mehrheiten müssen Minderheitenrechte respektieren. Aber am Ende entscheidet im Parlament, im Bundestag, im Gemeinderat, wo auch immer, nun mal die Mehrheit. Und wir müssen zunächst mal feststellen: Die Menschen im Osten sind deutschlandweit die Minderheit, und sie sind einem politischen und auch ökonomischen System beigetreten. Weil die DDR am Ende war und die Volkskammer am 23. August 1990 den Beitritt mit großer Mehrheit entschieden hat.
Nun entschuldigt das ja nicht die Ost-West-Verwerfungen, die nicht nur Herr Oschmann beschreibt, oder?
Richter: Natürlich nicht. Aber so sympathisch und vermittelnd Sie mir jetzt hier gegenübersitzen, Herr Oschmann, so hart und unvermittelt sind ja viele Ihrer Formulierungen. Sie reden zum Beispiel vom totalen Ausschluss des Ostens von der Teilhabe in der Bundesrepublik. Wenigstens im politischen Bereich kann man das absolut nicht sagen. Auch Sachsen hat durch den Bundesrat Mitbestimmungsmöglichkeiten auch auf die Bundespolitik. In anderen Bereichen, etwa in der Wissenschaft, mag das anders sein. Aber auch da würde ich mehr Differenzierung anmahnen.
Herr Oschmann, Sie sagen etwa: „In der West Wahrnehmung ist der Osten „ein Geschwür am Körper des Westens, das er nicht mehr loswird“. Härter geht’s ja nicht. Warum? Wollen Sie wachrütteln? Oder sich nur mal Luft machen?
Oschmann: Natürlich stellt der Osten zahlenmäßig die Minderheit. Aber juristisch ist das längst zurückgewiesen worden, vom Osten als einer „Minderheit“ zu sprechen. Trotzdem tun auch wir es hier, und allein das ist für mich schon ein Wahrnehmungsproblem des Ostens. Was die Politik anbelangt, da haben Sie recht, Herr Richter. Da gibt es Mitgestaltung und Teilhabe. Aber selbst im Stab des Ostbeauftragten ist man doch ziemlich desillusioniert, was konkrete Handlungsmöglichkeiten betrifft.
Oschmann: Wenn etwa in Mecklenburg-Vorpommern die Ministerpräsidentin Frau Schwesig stolz darauf ist, dass jetzt 50 Prozent ihrer Mitarbeiter aus dem Osten kommen, wo es doch eigentlich 80 Prozent sein müssten. In anderen Bereichen wie der Wirtschaft oder überhaupt den Führungspositionen liegt die Quote zwischen zwei und vier Prozent, obwohl sie bei 18 oder 19 Prozent liegen müsste, wenn wir das Bevölkerungsverhältnis zum Maßstab nehmen. Es haben sich auch schon Studenten der Uni Leipzig in Briefen an eine große Tageszeitung beschwert, dass zu wenige Leute aus dem Osten ihre Professoren sind, die meisten aus dem Westen kommen und sie keine ostdeutschen Rollenvorbilder haben. Das führt dann unter anderem dazu, dass sich zu wenig Studierende aus dem Osten auf Stipendien bewerben, weil sie denken, sie wären dafür gar nicht vorgesehen und hätten auch gar keine Chancen.
Aber woran liegt das? Es gibt eine Studie, nach der Ostdeutsche sich auch viel weniger für Führungsposten bewerben. Also selbst mitschuldig?
Oschmann: Das Bewusstsein, man könne nicht mitmischen oder habe keine Chance gegen westdeutsche Konkurrenten, muss sich ja irgendwann gebildet haben, aus Gründen. Sicher gibt es auch eine gewisse Trägheit, eine Bequemlichkeit, das ist nicht so leicht auszumachen.
Laut einer anderen Studie mussten fast alle Ostdeutsche, die Karriere gemacht haben, dafür vorher in den Westen gehen …
Oschmann: Eben darum habe ich dieses Buch so und nicht anders geschrieben. Ich spitze ganz bewusst zu, weil es schon ganz viele differenzierte Studien zu diesem Thema gibt. Und ich wollte nicht nur irgendein neues Buch über den Osten schreiben, sondern dezidiert ein Buch über den Westen. Außerdem wollte ich einen Ton anschlagen, der die Dinge auf eine Weise ins Bewusstsein hebt, dass sie eben nicht mehr als irgendwie normal erscheinen oder als etwas, mit dem man sich abgefunden hat oder abfinden könnte. Mein Ton hat einen klaren strategischen Zweck.
Richter: Und ich hatte vor unserem Gespräch schon Angst, dass mir hier der Bullerjahn des Zorns begegnet … Aber Herr Oschmann, ich kenne viele Menschen, die aus Westdeutschland hierhergekommen sind und hier sehr qualifiziert ostdeutsche Interessen vertreten. Da geht es nicht darum, woher Sie kommen, sondern darum, was Sie tun. Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Wenn Sie zu schnell personalisieren oder gar moralisieren, tun Sie vielen Menschen unrecht.
Oschmann: Ich war ja lange in Jena, wo es Lothar Späth gab, ohne den Jena nicht das wäre, was es heute ist. Und es gibt viele, die mit großem Engagement aus dem Westen in den Osten gekommen sind und hier Großartiges leisten. Aber das ist nicht mein Thema. Sondern mein Thema ist: Warum ist es trotzdem so, dass der Osten nicht den Eindruck hat, mitgestalten zu können? Es geht mir darum, zu verstehen, warum der Osten in so einer Art Bockigkeit verharrt.
Richter: Aber wenn Sie schon das Gesamtbild malen wollen, müssen Sie den doppelten Transfer betrachten: von West nach Ost in die Führungsebenen und von Ost nach West auf die Arbeitsebene. Das war jedenfalls die Regel. Das führt zu nachhaltigen Verwerfungen an den sozialen und geografischen Peripherien des Landes, insbesondere auch in Sachsen, die demokratiefeindlich oder demokratiegefährdend sind – da gebe ich Ihnen vollständig recht.
Herr Oschmann, Ihre These, dass es ohne den Westen den ostdeutschen Rechtsextremismus in diesem Umfang nicht gäbe, ist ebenfalls arg gewagt …
Richter: Überhaupt ist vieles, was Sie schreiben, vergossene Milch von gestern. Und ich sehe in Ihrem Buch die Auffassung durchschimmern – die ich übrigens bei vielen Menschen hier im Osten sehe –, dass die Geschichte gefälligst ausgleichend und gerecht sein müsse. Das ist sie aber nicht. Wir werden mit manchen Verwerfungen leben müssen. Aber wenn wir uns nicht darin vergraben wollen, müssen wir Auswege finden. Die fehlen mir in Ihrem Buch.
Oschmann: Natürlich ist Geschichte nicht gerecht. Aber Geschichte ist kein abstrakter Prozess, sie wird konkret gesteuert von konkreten Akteuren. Auch die Besetzung von Führungspositionen sind klare Personalentscheidungen. Die Uni Leipzig ist da nur ein Beispiel von vielen, überall sitzen auf den Lehrstühlen fast ausschließlich Professoren aus dem Westen.
Weil die Westnetzwerke aus den frühen Neunzigern immer noch funktionieren, auch bei Neubesetzungen von Lehrstühlen 30 Jahre danach?
Oschmann: Das ist so, und in der Wissenschaft ist es sogar besonders dramatisch, aufgrund dieser Netzwerke: Auf der Ebene der Verwaltung und des technischen Personals sind Leute aus dem Osten, auf der Führungsebene der Professoren und der Professorinnen Leute aus dem Westen. Wir haben es hier mit einer nach Herkunft organisierten Klassengesellschaft zu tun.
Sie sagen, das Label „Ostdeutsch“ sei ein Stigma. Es gibt aber viele junge Menschen, die ihr Ostdeutsch-Sein neu entdecken, es als etwas Positives empfinden und sehr selbstbewusst damit umgehen. Ganz zu schweigen von dem lauten Auftrumpfen mit „Ost, Ost, Ostdeutschland“ ostdeutscher Fußballfans, von Rostock bis Dresden.
Oschmann: Das gibt es, ganz klar. Das ist auch die Position des Ostbeauftragten, der sagt, man müsse „ostdeutsch“ positiv umdeuten und dieser negativen Fremdzuschreibung durch den Westen eine positive Selbstzuschreibung durch den Osten entgegensetzen. Aber ich halte das nicht für leistungsfähig genug. Weil dieser Effekt ja ein Gegeneffekt ist, eine Trotzreaktion auf die Abwertungserfahrungen. Dann wird halt gesagt: Gut, dann sind wir eben Osten. Dann fahren eben wir Dynamo-Ultras zu Auswärtsspielen in den Westen und versetzen den Rest des Landes in Schrecken. Aber ich bekomme viele Zuschriften, die von extremen Diskriminierungserfahrungen berichten, von Leuten, die ihr Ostdeutsch-Sein lieber nicht thematisieren.
Richter: Ich kann eine Diskriminierungserfahrung beibringen, über die ich dann später gelacht habe: Vor zwei oder drei Jahren hat mich eine junge Dame von einem Bielefelder Meinungsforschungsinstitut telefonisch gefragt, wie ich über die Corona-Maßnahmen denke. Dafür wollte sie wissen, wo ich geboren sei, in Deutschland, im EU-Ausland oder irgendwo auf der Welt, sie müsse das ankreuzen. Ich habe wahrheitsgemäß gesagt, dass ich in der DDR geboren bin. Darauf die Dame: Oh, diese Antwortmöglichkeit gibt es hier gar nicht ...
Sie hatte die DDR nicht auf dem Zettel?
Richter: Nein. Für sie war mit der Wiedervereinigung die DDR ausgelöscht. Das mache ich ihr gar nicht zum Vorwurf, wahrscheinlich hat ihr Professor in Bielefeld den Fragebogen erarbeitet. Aber ich habe mich gewehrt und gesagt: Wenn mein Geburtsland bei Ihnen nicht vorkommt, ist unser Gespräch hiermit beendet. Dabei habe ich mich lange überhaupt nicht mit dem Begriff „ostdeutsch“ identifizieren wollen. Ich bin die erste Hälfte meines Lebens Bürger der DDR gewesen und in der zweiten Hälfte Bürger der Bundesrepublik.
Ein ziemliches Dilemma …
Richter: Und wie kommen wir aus dem Ost-West-Dilemma raus? Sie setzen auf objektive Umstände, die anders organisiert werden müssten, Herr Oschmann. Ich würde eher für die subjektive Selbstbehauptung plädieren. Allein schon deshalb, weil ich das Wort „ostdeutsch“ nicht den Rechtsextremisten überlassen möchte, insbesondere die AfD betreibt das ja intensiv. Da müssen Sie aufpassen, dass Sie nicht Stichwortgeber für diese Leute werden, ohne das zu wollen. Aber ein bisschen sehe ich bei Ihrem Buch diese Gefahr.
Oschmann: Warum? Ich habe ein Buch geschrieben, das von keiner Seite vereinnahmt werden kann und auch nicht vereinnahmt wird. Und was ich von der AfD halte, habe ich öffentlich immer wieder kundgetan, nämlich gar nichts. Aber wenn man diese komplizierten Zusammenhänge verstehen will, darf man Wörter wie „ostdeutsch“ oder „Herkunft“ oder „Heimat“ nicht umgehen, auch wenn die sehr missbraucht werden können. Ich glaube nicht, dass wir da in einem Dissens sind.
Herr Richter hat es bereits gesagt: Inhaltlich haben Sie nichts Neues beizusteuern, Herr Oschmann, alle Fakten zum West-Ost-Ungleichgewicht sind bekannt und regelmäßig Thema. Trotzdem ist Ihr Buch ein irrer Erfolg, es ist schon in der vierten Auflage …
Oschmann: In der neunten.
Ich als geborener Wessi glaube: Ihr Buch funktioniert perfekt als Indikator und Trigger für ein ostdeutsches Marginalisierungsgefühl. Das ist zwar existent und berechtigt, aber oft nur unterschwellig, vielleicht aus Scham – und jetzt bohren Sie den Finger richtig tief in die Wunde. Was sagen Sie als Ossi dazu?
Oschmann: Es wird mir oft vorgeworfen, ich würde irgendwelche Mauern wieder hochziehen oder irgendwelche Gräben aufreißen. Nein, ich habe nur mal versucht, in aller Drastik die Existenz dieser Gräben und Mauern zu zeigen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Dass man sozusagen eine andere Art des Umgangs miteinander finden muss, um sie vielleicht zu überwinden, einzureißen oder zu überbrücken.
Nur: Wer den Finger in die Wunde legt, verlangsamt auch den Heilungsprozess. Ob Ihre schärfsten Kritiker deshalb kurioserweise zumeist Ostdeutsche sind und nichtWestdeutsche?
Oschmann: Es ist tatsächlich interessant, wie scharf manche Leute aus dem Osten reagieren. Für mich ist das ein Indiz für etwas, was der Philosoph Jürgen Habermas angesprochen hat, nämlich den Mangel an Öffentlichkeit in dem Gebiet der ehemaligen DDR. Es gab vor 1989 laut Habermas keine Öffentlichkeit, und es gab auch danach keine in dem Sinne, dass die medialen Perspektiven ja komplett westdeutsche Medienperspektiven sind, zumindest in den überregionalen Medien.
Einspruch: Alle Korrespondentinnen und Korrespondenten der großen Zeitungen wie Zeit, Welt, Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche in Sachsen sind inzwischen Ostdeutsche.
Oschmann: Ja, heute ist das so, aber der Text von Habermas stammt aus dem Jahr 2019 und fasst die Entwicklungen der 30 Jahre seit 1989 zusammen. Und da waren die Perspektiven die längste Zeit komplett westdeutsch. Aber das Ausbrechen der Diskussion um mein Buch ist doch ein Zeichen dafür, dass es diesen Diskurs in dieser Form bisher nicht gegeben hat, dass er aber extrem notwendig ist, weil nämlich auch im Osten eine Fülle an verschiedenen Perspektiven auf diese Zusammenhänge existiert. Insofern bin ich auch froh, dass jetzt so viele kritische Stimmen kommen. Dann erreicht das Buch doch etwas, nämlich dass die Leute ins Reden und Nachdenken kommen. Offenbar ist es ein Buch, zu dem man sich nicht neutral verhalten kann, wenn man aus Deutschland kommt.
Ein regelmäßiger Vorwurf an Sielautet: Sie schieben dem Westen alle Verantwortung zu für das, was im Osten nicht gut läuft. Damit sprächen Sie den Osten von jeder Verantwortung frei und entmündigen ihn letztlich. Was davon lassen Sie gelten?
Oschmann: Zunächst mal habe ich ein Buch über den Westen geschrieben, über das, was der Westen veranstaltet in den politischen und medialen und auch den Wirtschaftseliten über die letzten 30 Jahre, nämlich den Osten als etwas Zurückgebliebenes und irgendwie Defizitäres zu konstruieren. Und ich bekomme eine Unmenge an Zuschriften von Menschen, die aus dem Buch Mut geschöpft haben, offener mit der Situation umzugehen und eben nicht, sich entmündigt zu fühlen. Genau so, wie Sie es eben beschrieben haben: als Ermutigung zu einem ostdeutschen Selbstbewusstsein. Und nicht andersherum.
Richter: Wenn wir Ihr Buch nicht aushalten würden, dann stünde es wirklich schlecht um unsere Gesellschaft … So sehr es mich an manchen Stellen aufgeregt hat, weil Sie derart überziehen: Warum Sie überziehen, das wusste ich so genau noch nicht. Ich hätte es so nicht geschrieben, aber ich bin Ihnen dankbar für dieses Buch. Auch wenn ich die Ermutigung, auf die Sie anspielen, nicht gebraucht hätte. Aber die wichtige Frage lautet doch: Was machen wir jetzt damit? Wie lösen wir die Probleme, die Sie beschreiben, im Blick auf die Vergangenheit – oder vielleicht besser im Blick auf die Zukunft?
Sie haben da ja einige Empfehlungen, Herr Oschmann. Eine davon lautet: Der Osten muss in eine öffentliche Debatte mit sich selber treten und auf Augenhöhe am gesamtdeutschen Diskurs teilnehmen. Worüber?
Oschmann: Über die Fremdbilder und Selbstbilder des Ostens. Über das, was gerade stattfindet. Sie haben ja darauf hingewiesen, dass es scharfe Gegenrede zum Buch auch gab von Journalisten mit ostdeutschem Hintergrund. Das ist zunächst zwar nicht so angenehm für mich. Aber es ist eine notwendige Debatte, weil das ein ganz wesentlicher Prozess zur Selbstverständigung und der Selbstreflexion ist, ohne den wir nicht bestehen können, gerade nicht in den größeren Debatten, die dann auch mit dem Westen zu führen sind. Aber hier geht es ja nicht nur um Deutungshoheiten, die vom Westen aus etabliert worden sind. Es geht auch um Deutungshoheiten, die sich in der Selbstwahrnehmung des Ostens etabliert haben.
Das beseitigt aber nicht die Schieflage, etwa in den Führungspositionen. Brauchen wir also eine Ostquote?
Oschmann: Diese Frage kommt immer wieder. Ich hätte sie vor fünf oder sechs Wochen noch anders beantwortet.
Richter: Und wie beantworten Sie sie jetzt?
Oschmann: Eigentlich braucht es das. Es braucht eine Quote. Als das Buch erschien, wäre ich noch dagegen gewesen. Aber ich habe inzwischen verstanden, dass es zu lange dauert, um diesen Teilhabe- und Gestaltungsprozess in die Wege zu leiten. Es muss einfach mehr an ostdeutschem Personal auch sichtbar werden in der Mitgestaltung. Damit die Nachrückenden sehen: Es funktioniert! Wir haben als Blaupause ja die Frauen, die auch über Quoten in die Mitgestaltung gekommen sind. Das wäre ohne Quote nicht möglich gewesen, jedenfalls nicht in dieser Dimension.
Herr Richter, was sagen Sie, Ostquote oder nicht?
Richter: Ich bin hin und her gerissen. Ich habe oft schon für die Quote plädiert, wider Willen, aber eigentlich mit derselben Argumentation wie Herr Oschmann. Wenn es nicht anders geht, muss man es halt so machen. Wie bei der Frauenquote.
Damit bekämen wir aber ein ziemliches Problem: Wer eine Frau ist oder nicht, ist ziemlich klar, jedenfalls in den allermeisten Fällen. Aber wer ist eine Ostdeutsche oder ein Ostdeutscher? Muss man dafür im Osten geboren sein? Was ist mit jemandem, der vor 20 Jahren in Dresden geboren wurde, aber seit 15 Jahren in Hannover lebt? Bin ich nach 26 Jahren Dresden weniger ostdeutsch als er?
Oschmann: Es gibt verschiedene Definitionsvorschläge dazu, zum Beispiel vom Zittauer Soziologen Raj Kollmorgen, der gesagt hat: Ostdeutsche sind alle, die im Osten geboren wurden und die die Hochphase ihrer Sozialisation hier verbracht haben, also Kindheit und Jugend. Natürlich wird es Streitfälle geben oder Grenzfälle, aber da würden sich sicher auch Lösungen finden lassen. Außerdem verliert ein Westdeutscher seine kategoriale Privilegiertheit auch im Osten nicht. Und in der allgemeinen Wahrnehmung ist doch ganz klar, wer Ostdeutscher ist. Da muss man nicht groß nachdenken.
Oschmann: Es gibt immerhin eine hohe Substanz-Rate bei diesem Begriff. Natürlich müsste man das für eine Quotenregelung irgendwie juristisch festlegen, um eine klare Regelung zu haben.
Richter: Wenn ich an die juristischen Auseinandersetzungen denke, die dann eventuell entstehen, wird mir aber jetzt schon angst und bange …