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Ein Jahr Zeitenwende-Rede von Scholz: Was ist aus den Ankündigungen geworden?

Nur drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine läutete Kanzler Scholz die Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik ein. Was hat sich seitdem getan?

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Olaf Scholz (SPD) ist gerade einmal 82 Tage Kanzler, als er am 27. Februar 2022 im Bundestag die Rede hält, die möglicherweise die bedeutendste seiner Amtszeit bleiben wird.
Olaf Scholz (SPD) ist gerade einmal 82 Tage Kanzler, als er am 27. Februar 2022 im Bundestag die Rede hält, die möglicherweise die bedeutendste seiner Amtszeit bleiben wird. © dpa

Berlin. Olaf Scholz (SPD) ist gerade einmal 82 Tage Kanzler, als er im Bundestag die Rede hält, die möglicherweise die bedeutendste seiner Amtszeit bleiben wird. "Wir erleben eine Zeitenwende", sagt er drei Tage nach dem vom russischen Präsidenten Wladimir Putin befohlenen Einmarsch von Truppen in die Ukraine. "Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus."

In 29 Minuten stellt Scholz die über Jahrzehnte von dem Prinzip der militärischen Zurückhaltung geprägte deutsche Außen- und Sicherheitspolitik auf den Kopf. Die Bundeswehr soll mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden. Und es werden Waffen in einen laufenden Krieg mitten in Europa geliefert.

An diesem Montag jährt sich die Zeitenwende-Rede vom 27. Februar 2022 zum ersten Mal. Was ist aus den Ankündigungen des Kanzlers geworden? Hat Scholz sein Solidaritätsversprechen an die Ukraine gehalten? Steht die Bundeswehr inzwischen besser da? Und wie blicken die Verbündeten auf die Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik?

Waffenlieferungen: Mit Verspätung die Kurve gekriegt

Erst waren es Panzerfäuste und Stinger-Raketen. Heute sind es Schützen- und Kampfpanzer. Die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine sind in den vergangenen zwölf Monaten Schritt für Schritt ausgeweitet worden. Scholz setzte sich dabei selbst drei Leitlinien: entschlossene Unterstützung der Ukraine, keine Alleingänge, keine direkte Nato-Beteiligung am Krieg.

Aus Sicht der Ukraine, aber auch einiger osteuropäischer Bündnispartner haperte es allerdings an der Entschlossenheit. Die Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern begann schon im Frühjahr 2022. Die Entscheidung wurde aber erst im Januar getroffen.

Unter dem Strich zählt Deutschland heute in absoluten Zahlen allerdings nach den USA, Großbritannien und Polen zu den größten Lieferanten militärischer Ausrüstung. Das geht aus einer aktuellen Statistik des Kiel Instituts für Weltwirtschaft hervor. Bei den schweren Waffen liegt Deutschland sogar auf Platz zwei. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sieht es allerdings anders aus. Da ist Deutschland mit Lieferungen im Wert von knapp 2,6 Milliarden Euro unter den 30 Nato-Staaten nur die Nummer 18.

100 Milliarden Euro für die Bundeswehr: Schleppende Aufrüstung

Der Parlamentarische Staatssekretär im Finanzministerium, Florian Toncar (FDP), musste auf die Anfrage des CDU-Abgeordneten Ingo Gädechens kürzlich folgende ernüchternde Antwort geben: "Das Sondervermögen Bundeswehr hat im Haushaltsjahr 2022 keine Mittel verausgabt." Aus dem 100-Milliarden Topf seien insgesamt zehn Verträge mit einem Wert von 10,061 Milliarden Euro geschlossen worden.

Das Verteidigungsministerium weist allerdings darauf hin, dass rund 30 Milliarden Euro bereits verplant seien. "Wir sind an die Regularien und Gesetze gebunden und dürfen erst zahlen, wenn die Leistung erbracht ist." Damit werde unter anderem die Vollausstattung der Soldaten mit Kleidung, die Bewaffnung von Drohnen und die Beschaffung der US-Tarnkappenjets F-35 finanziert.

Vielen geht die Beschaffung nicht schnell genug. Es wird auch heftig darüber gestritten, ob und inwieweit der reguläre Wehretat noch einmal deutlich angehoben werden muss. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hält das für notwendig, Grüne und Teile der SPD sehen das anders.

Zwei-Prozent-Ziel noch weit entfernt

Von der Aufstockung wird auch abhängen, ob Scholz in absehbarer Zeit das zentrale Versprechen an die Nato-Partner aus seiner Zeitenwende-Rede einhalten kann. "Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren", sagte er vor einem Jahr. 2022 lag der Anteil nach der offiziellen Nato-Statistik erst bei 1,44 Prozent. Für das laufende Jahr werden nach internen Berechnungen der Bundesregierung 1,6 Prozent erwartet. Um die zwei Prozent zu erreichen, müsste der Wehretat um 15 auf 65 Milliarden Euro aufgestockt werden.

Scholz hat sein Versprechen bereits etwas relativiert. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sprach er statt von "mehr als zwei Prozent" nur noch von einer dauerhaften Anhebung "auf zwei Prozent". Während man in Deutschland um diese Marke ringt, denken einige Nato-Staaten allerdings schon weiter. "Einige Verbündete sind entschieden dafür, aus dem gegenwärtigen Zielwert von zwei Prozent einen Mindestwert zu machen", sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einigen Wochen in einem dpa-Interview. Die USA liegen jetzt schon bei fast 3,5 Prozent.

Bundeswehrverband: "Es braucht mehr Tempo"

Die von der Zeitenwende besonders Betroffenen ziehen ein Jahr nach der Scholz-Rede eine eher kritische Bilanz. "Für die Soldaten hat sich seitdem noch nichts spürbar verbessert", sagt der Chef des Bundeswehrverbands, André Wüstner, der "Bild am Sonntag". Dies sei zwar in der Kürze der Zeit auch kaum möglich. "Dennoch braucht es mehr Tempo. Ob bei Material, Personal oder Infrastruktur, es braucht in dieser Legislaturperiode eine echte, in der Truppe spürbare Wende, sonst war's das mit der Zeitenwende."

Melnyk: "Epochaler Tabubruch" - aber dann "Zickzackkurs"

Und wie lautet die Bilanz der Ukraine? Andrij Melnyk saß am 27. Februar 2022 als ukrainischer Botschafter auf der Tribüne des Bundestags, als Scholz seine Rede hielt. Er nennt sie heute "einen epochalen Tabubruch" - und meint das im positiven Sinne. "Aber die Umsetzung der Zeitenwende hinkt erheblich, sie erinnert eher an einen Zickzackkurs mit vielen Rückschlägen als an einen strategischen Vorstoß", sagt der heutige ukrainische Vizeaußenminister.

"Erst im letzten Moment, nur unter Druck von außen"

Ähnlich sieht das der frühere polnische Außen- und Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski. Auch wenn die Bundesregierung finanziell und militärisch viel für die Ukraine getan habe, herrsche bei den Verbündeten die Wahrnehmung vor, "dass Deutschland das Notwendige erst im letzten Moment tut, nur unter Druck von außen", sagte der liberal-konservative Politiker, der für die Oppositionspartei PO im Europa-Parlament sitzt.

Für das aus seiner Sicht zu zögerliche Vorgehen des Kanzlers macht Sikorski innenpolitische Gründe aus. "Ich glaube, er versucht seine Wähler in dem Tempo mitzunehmen, in dem sie bereit sind, es zu akzeptieren. Aber dieses Tempo kann nicht mit der Geschwindigkeit der Ereignisse in der Ukraine mithalten, und damit geht es auf Kosten des deutschen Ansehens im Ausland."

Scholz zieht in einer Regierungserklärung Bilanz

Was andere als zögerlich und schleppend empfinden, nennt Scholz besonnen und durchdacht. Er bekräftigt immer wieder, dass er seine Außenpolitik nicht an aufgeregten Debatten ausrichten wolle. Am kommenden Donnerstag zieht er seine Bilanz in einer Regierungserklärung im Bundestag. Anschließend reist er nach Washington zu US-Präsident Joe Biden, den er als engsten Verbündeten bei der Unterstützung der Ukraine sieht. (dpa)