Wir müssen in Krisenzeiten wieder lernen zu verzichten

Die Krisen reißen einfach nicht ab. Klima, Corona, Krieg, Inflation, Gas. Erholung und etwas Abstand findet man derzeit nicht mal im Grünen. Wälder und Felder brennen, vermutlich auch Tiere. Brandgeruch durchzieht das Land. In Parks und Gärten hängen die Gewächse mitleiderregend darnieder. Am Donnerstag war dann noch Erdüberlastungstag: Die Menschheit hat die Ressourcen eines Jahres aufgebraucht, noch früher als im Vorjahr.
Wenn dieser seltsame Sommer vorbei sein wird, muss man sich wohl einstellen auf einen Winter mit rationiertem warmem Wasser, auf kühlere Heizkörper, auf noch mehr knappe und teurere Waren und Dienstleistungen, auf dunklere Straßen. Manche Kommunen denken über Wärmehallen nach.
In vielen Fällen würde ein zusätzlicher Pullover nicht reichen, meinte dieser Tage ein Experte einer großen Immobiliengesellschaft. Da müsse noch eine Wolldecke her. Es rede keiner gern darüber, aber diesen Winter sei Verzicht angesagt.
Da ist es wieder, das Wort vom Verzicht. Seit Wochen irrlichtert es umher. Fremd, manchmal absurd nimmt es sich aus in der Konsumgesellschaft mit ihrer Maßlosigkeit, ihren dauerhaft beleuchteten Glitzerfassaden, den Privatpools und Mährobotern, den Gebirgen aus Paket-Rücksendungen oder aus Elektroapparaten, die wenige Monate oder Jahre nach dem Kauf schon Schrott sind.
Dazwischen wandelt der moderne Mensch – immer das Handy vor der Nase, den Blick gerichtet auf Urlaubs-Suchmaschinen, Wetter-Apps, Test-Portale, Event-Tipps und Spiele. Genügsamkeit ist nicht das, worauf die Bürger im Konsumzeitalter mehrheitlich konditioniert waren. Konsum und immer mehr Konsum war die ungeschriebene erste Bürgerpflicht. Verzicht nicht.
Verzicht lässt sich leichter mit vollem Bauch sinnieren
Wenn man die alten Philosophen befragt, ist die Haltung jedoch ein Rückschritt in der Zivilisation. Der Mensch muss zumindest versuchen, sich zu mäßigen und zu verzichten, um die Sucht nach Besitz, Geltung oder Macht zu kontrollieren. Das betonten schon die antiken Denker. Wichtig sei das nicht nur für die individuelle Entwicklung, sondern für das Zusammenleben. Eine Einschätzung, die sich auch in vielen Religionen findet.
Sicher, über Verzicht lässt sich leichter sinnieren, wenn der Bauch voll ist, die Wohnung wärmer als 15 Grad, der Job sicher. Es ist ein Unterschied, ob Verzicht freiwillig in der Gelehrten- oder Betstube gewählt wird oder die Umstände ihn aufzwingen, wie es in Kriegs- und Krisenzeiten geschah. Und immer noch geschieht.
Aus der Sicht von Menschen mit geringem Einkommen, die in Mietshäusern leben, sind die Aussichten auf den kommenden Winter anders als für gut verdienende Paare, die ein Haus mit Kaminofen und Wärmepumpe haben.

Viele Menschen sparen ohnehin seit Jahren bei Energie und Lebenshaltung, weil sie das müssen. Manche rechnen sogar angesichts von Inflation und Energiepreisen damit, beim Essen verzichten zu müssen. Wie Hohn mögen für sie jene Spar-Appelle wirken, die Genügsamkeit beim Heizen für den Erhalt der Freiheit fordern. Statt vieler Appelle wäre es gut, wenn beispielsweise das Schulessen kostenlos würde. Im Hinblick auf die soziale Frage wünscht man sich nicht nur eine Debatte über die Bekämpfung der Inflation und über Sondersteuern auf die Krisengewinne von Konzernen. Sondern endlich auch die Reform der Erbschaftssteuer. Verzicht muss gerecht verteilt sein.
Verzicht ist nach wie vor eine unbeliebte Angelegenheit
Auch über die Gaskrise hinaus ist Verzicht ein wichtiges Thema. Zeitgenössische Denker sagen: Verzicht ist eine Kulturtechnik, die über den Erhalt der menschlichen Spezies entscheiden werde. Die Menschheit, insbesondere die der Industriestaaten, darf ihren Konsum nicht einfach in grüne Mäntelchen packen. Sie muss teilen, reduzieren, verzichten. Das wird tiefgreifende Folgen für Wirtschaft und Wohlfahrt haben. Deutschland muss noch viel weiter und intensiver nachdenken, wie der Staat beschaffen sein muss, um „in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere“ zu schützen. So steht es im Grundgesetz.
Das Thema Nachhaltigkeit ist zwar präsenter als vor Jahren. Aber Verzicht ist nach wie vor eine heikle, unbeliebte Angelegenheit im politischen Alltagsgeschäft. Das Tempolimit liegt immer noch in weiter Ferne. Man wünschte sich, die Bundesregierung würde es machen wie beim Neun-Euro-Ticket und es einfach mal drei Monate ausprobieren. Hoffentlich bietet sie einen Nachfolger für das Neun-Euro-Ticket an. Und warum nicht Inlandsflüge verbieten wie in Frankreich, wenn die Strecke mit dem Zug zurückgelegt werden kann?
Krisen und Verzicht erzeugen Entbehrungen und Leid, befördern jedoch auch Ideen und Wandel. Der Erste Weltkrieg zog technische Innovationen nach sich und das Frauenwahlrecht. Durch den Krieg in der Ukraine ist mehr Bewegung in die Energiewende gekommen. Knappheit, Klimaextreme und Energiespartipps führen derzeit dazu, dass innegehalten und mehr freiwillig verzichtet wird, ob nun auf ausgiebiges Duschen, exzessives Wässern des Rasens, das jährliche neue Handy oder Dauerbeleuchtung. Hoffentlich wird die neue Bereitschaft zum Verzicht nicht begraben, sobald die Gaskrise überwunden zu sein scheint. Wir können es uns schlicht nicht mehr leisten.