Feuilleton
Merken

Wie Putin die Ukraine weiter westwärts treibt

Russland setzt im Konflikt ausschließlich auf militärischen Druck. Die Westorientierung seines Nachbarlandes vertieft sich dadurch nur. Ein Gastbeitrag.

 7 Min.
Teilen
Folgen
Auch in Sjewjerodonezk feierten Ukrainer am 16. Februar den "Tag der Einheit".
Auch in Sjewjerodonezk feierten Ukrainer am 16. Februar den "Tag der Einheit". © Vadim Ghirda/AP/dpa

Von Sebastian Hoppe

Überall wird derzeit vor der erneuten Kriegsgefahr im östlichen Europa gewarnt. Vergessen wird dabei, dass bereits seit nunmehr acht Jahren Krieg in der Ukraine herrrscht.

So ist das Land einerseits auf dem eigenen Territorium mit den Truppen der selbsternannten, von Russland unterstützten Donezker und Lugansker Volksrepubliken konfrontiert und andererseits damit beschäftigt, die russische Annexion der Krim im März 2014 nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Etwa 14.000 Menschen verloren bisher ihr Leben, Millionen wurden zu Flüchtlingen, täglich gibt es weiter Kämpfe.

Seit vier Monaten nun lässt Wladimir Putin Militäreinheiten in einem Ausmaß an der Grenze zur Ukraine und in Belarus zusammenziehen, die es erlauben würden, die Ukraine im Ernstfall militärisch niederzuringen. Zwei Narrative flankieren Moskaus Maßnahmen. Zum einen sei der Truppenaufmarsch eine Reaktion auf einen baldigen NATO-Beitritt der Ukraine. Zum anderen bereite Kiew eine militärische Rückholaktion des Donbass' oder gar der Krim vor. Beides sind Mythen, die man auch als solche klar benennen sollte.

Putin will nicht die Sowjetunion wieder auferstehen lassen

Niemand kann wirklich sagen, ob Putin tatsächlich bereit wäre für einen offenen Angriffskrieg auf ein souveränes Land. Eine solche Intervention würde sich in die Riege unilateraler Militäroperationen einreihen, etwa des US-Einmarschs in den Irak 2003, den man in Moskau als westliche Ursünde sieht.

In Anbetracht gegenteiliger Versicherungen hochrangiger russischer Vertreter und der gravierenden wirtschaftlichen und politischen Folgen, die eine solche Intervention auch für Russland nach sich ziehen würde, scheint dies wenig wahrscheinlich, wenn auch nicht unvorstellbar.

Einschätzungen, Putin wolle "russische Erde einsammeln" oder die Sowjetunion wieder auferstehen lassen, sind in ihrer Eindimensionalität übertrieben. Fest steht jedoch, dass die russische Führung mit dem erneuten Drehen an der militärischen Eskalationsschraube ihrer in den vergangenen 20 Jahren mehrmals vorgebrachten Forderung, Russland eine exklusive Einflusssphäre in seinen post-sowjetischen Nachbarstaaten zuzugestehen, eine neue Qualität verliehen hat.

Russland bestreitet seine Invasionsabsichten, hat jedoch weit über 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenze zusammengezogen und Truppen zu Übungen in das benachbarte Belarus entsandt, so dass die Ukraine von drei Seiten umschlossen ist.
Russland bestreitet seine Invasionsabsichten, hat jedoch weit über 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenze zusammengezogen und Truppen zu Übungen in das benachbarte Belarus entsandt, so dass die Ukraine von drei Seiten umschlossen ist. © Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Kein West-Interesse an einem NATO-Mitglied Ukraine

Hierzu gehört auch, dass im Dezember vergangenen Jahres erstmals zwei Vertragsentwürfe vorgelegt wurden, die im Wesentlichen auf einen Rückzug der NATO-Infrastruktur auf das Jahr 1997 sowie einen kategorischen Ausschluss einer ukrainischen Mitgliedschaft in dem Militärbündnis hinauslaufen.

Will sich die NATO nicht selbst abschaffen, kann sie dem unmöglich zustimmen. Das weiß auch der russische Präsident. Ebenso wird er wissen, dass vor allem Frankreich und Deutschland, aber mittlerweile auch die USA, wenig Interesse an einer absehbaren NATO-Perspektive für die Ukraine haben.

Zwar steht diese seit 2019 als Staatsziel in der ukrainischen Verfassung und auch die Bukarester Erklärung der NATO von 2008 beinhaltete die Kompromissklausel, dass Georgien und die Ukraine zu einem unbestimmten späteren Zeitpunkt dem Bündnis beitreten könnten.

Allerdings traten Paris und Berlin bereits vor 14 Jahren den Aufnahmeplänen des damaligen amerikanischen Präsidenten Bush Jr. entgegen. Bis heute liegt kein sogenannter Membership Action Plan vor, der den Weg zur Mitgliedschaft ebnen würde.

Das Bedrohungsgefühl des Kreml sollte man ernst nehmen

Tatsächlich lassen sich die Motive hinter Moskaus angestrebter Verfügungsmacht über die Ukraine nicht auf deren hypothetische NATO-Mitgliedschaft reduzieren. Zwei Dimensionen fließen hier ineinander.

Ideologisch fällt auf, dass Putin in den vergangenen Jahren mehrmals die ihm zufolge bestehende nationale Einheit des ukrainischen und russischen Volkes betont hat. Die souveräne Staatlichkeit der Ukraine firmiert hier lediglich als Anomalie. Strategisch gelte es folglich zu verhindern, dass NATO, EU und die USA diese "natürliche" Einheit erschweren.

Dass Russlands Vorgehen seit 2014 selbst zur massiven Entfremdung der ukrainischen Gesellschaft gegenüber ihren östlichen Nachbarn beigetragen hat, findet in dieser Sicht keine Berücksichtigung. Zahlreiche Ukrainer kennen mittlerweile jemanden, der im Krieg gegen Russland gestorben ist. Nichtsdestotrotz sollte der Westen die im Kreml vorherrschende Wahrnehmung einer äußeren Bedrohung ernst nehmen.

Vorbereitungen auf der Gegenseite: Soldaten der 92. mechanisierten Iwan-Sirko-Brigade der ukrainischen Streitkräfte während einer Militärübung.
Vorbereitungen auf der Gegenseite: Soldaten der 92. mechanisierten Iwan-Sirko-Brigade der ukrainischen Streitkräfte während einer Militärübung. © Ukrinform/dpa

Die EU ist ein größeres Problem für Russland als die NATO

Leider haben vergangene Entscheidungen der NATO und der USA immer wieder Argumente für diese Sichtweise geliefert. So intervenierte man 1999 ohne Völkerrechtsmandat in Serbien, marschierte 2003 in den Irak ein und überdehnte das UN-Mandat 2011 in Libyen. Auch mag die jüngste Militärhilfe der NATO-Mitglieder USA und Türkei an die Ukraine Putins Eskalationswillen befeuert haben.

Jedoch machen, neben eigenen Völkerrechtsbrüchen in Form eines Einmarschs in Georgien 2008, der Annexion der Krim 2014, und diversen staatlich organisierten Auftragsmorden im Ausland, zwei Widersprüche das derzeitige Vorgehen Russlands problematisch. Erstens zeigt sich, dass der Kreml keinerlei Mittel hat, die Ukrainer selbst von der Sinnhaftigkeit eines exklusiven Einflusses über ihr politisches Schicksal zu überzeugen. In dieser Hinsicht ist die EU ein viel größeres Problem für Russland als die NATO.

Was die Ukraine will, ist im Land selbst umstritten

Zwar sind der größte Binnenmarkt der Welt, Strukturfonds und gezielte Wirtschaftshilfen keine Allheilmittel für ein Land, dessen Bevölkerung heute über einen geringeren durchschnittlichen Lebensstandard als zum Ende der Sowjetunion verfügt. Allerdings wird der Ukraine hier eine Entwicklungsperspektive geboten, für die sich seit 2014 breite Bevölkerungsgruppen und mittlerweile zwei gewählte Regierungen entschieden haben.

Leider findet sowohl im Westen als auch in Russland die kulturelle und politische Diversität der Ukraine zu wenig Beachtung. Zwar spricht sich eine dünne Mehrheit für eine NATO-Mitgliedschaft aus. Von einem gesellschaftlichen Konsens kann aber nur begrenzt die Rede sein. Zur Wahrheit gehört ebenfalls, dass es diese Mehrheit im Jahr 2008 trotz Bukarester Erklärung nicht gab. In Moskau hingegen wird seit Jahren unterschätzt, dass jenseits historisch-kultureller Affinitäten keine politischen Mehrheiten für eine engere Anbindung an Russland bestehen.

Auf dem Kiewer Maidan demonstrieren Menschen Solidarität gegen die russischen Drohgebärden. Doch wohin das Land will, ob in die NATO oder nicht, ist im Inneren umstritten.
Auf dem Kiewer Maidan demonstrieren Menschen Solidarität gegen die russischen Drohgebärden. Doch wohin das Land will, ob in die NATO oder nicht, ist im Inneren umstritten. © Bryan Smith/ZUMA Press Wire/dpa

Wiederbelebung gegenseitiger Rüstungskontrollen

Zweitens hat Moskaus Außenpolitik seit 2008 das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt. War die Neutralität der Ukraine noch bis 2014 in Gesetzen festgeschrieben, gilt mittlerweile das Gegenteil. Östliche NATO-Mitglieder fordern mehr Bündnispräsenz auf ihrem Territorium.

Daran würden weder eine Militärinvasion inklusive Regime Change in Kiew etwas ändern noch die diese Woche diskutierte Option einer Anerkennung der selbsternannten "Volksrepubliken" in Donezk und Lugansk, möglicherweise verbunden mit einer offiziellen Einladung russischer Truppen in den Donbass.

Erhöhen würden sich lediglich die Kosten für Moskau, ohne dass ein international kodifizierten Hebel innerhalb der Ukraine bestünde, den das Minsker Abkommen zumindest formal derzeit noch bietet.

Alle diplomatischen Formate sollten ausgeschöpft werden, um die gegenwärtige Situation zu entschärfen und langfristig neue vertrauensbildende Formate zu schaffen, etwa durch kodifizierte militärische Absprachen und eine Wiederbelebung gegenseitiger Rüstungskontrollen.

Die Armee reicht nicht aus, um Weltpolitik zu machen

Die NATO, Washington und Kiew müssen abwägen, ob unter den derzeitigen Umständen ein dogmatisches Festhalten an einer ukrainischen NATO-Beitrittsperspektive sinnvoll ist. Wie diese Woche deutlich geworden ist, bahnt sich diesbezüglich möglicherweise in Kiew eine Strategie der Selbstbeschränkung an. Parallel sollte der Westen wirtschaftspolitische Initiativen intensivieren, welche die soziale und infrastrukturelle Resilienz und ökonomische Entwicklungsfähigkeit der Ukraine fördern.

Im Kreml hingegen muss man sich daran gewöhnen, dass die Pole der hochgehaltenen multipolaren Welt nicht nur durch Armee und Flotte zusammengehalten werden. Die russische Staatselite verengt seit Jahren das innen- und außenpolitische Instrumentarium auf Militär, Geheimdienst und Polizei. Wo, wie in der Ukraine, eine Gesellschaft auf Entwicklung hofft und dies in Wahlen zum Ausdruck bringen kann, wird ein solches Modell keine Einflusssphäre begründen können.

Unser Gastautor Sebastian Hoppe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Stiftung Wissenschaft und Politik.