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Er war der bedeutendste gescheiterte Politiker des 20. Jahrhunderts

Im Westen geehrt, in seiner Heimat verachtet. Gorbatschow brachte Kräfte in Bewegung, die die herrschende Weltordnung zerstörten – und am Ende sein Lebenswerk.

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Der frühere Sowjetpräsident Michail Gorbatschow ermöglichte die deutsche Einheit. Nun ist er nach langer Krankheit in Moskau im Alter von 91 Jahren gestorben.
Der frühere Sowjetpräsident Michail Gorbatschow ermöglichte die deutsche Einheit. Nun ist er nach langer Krankheit in Moskau im Alter von 91 Jahren gestorben. © Boris Yurchenko/AP/dpa

Von Frank Herold

Mehr als 30 Jahre sind seit jenem Tag vergangen. Es herrscht eine merkwürdige Stimmung, als Michail Gorbatschow am 6. Oktober 1989 auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld eintrifft. Erich Honecker hat ihn zu den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR eingeladen.

Das dürfte dem SED-Generalsekretär schwer gefallen sein, denn der führende Genosse aus Moskau folgt einem Kurs, den er ablehnt. Gorbatschow hat in der Sowjetunion eine Politik der Reformen, einen radikalen Umbau des real existierenden Sozialismus, eingeleitet.

Gibt es überhaupt einen Grund, diesen 40. Jahrestag der DDR zu feiern? Seit dem Sommer verlassen Menschen in Scharen das Land über Ungarn und die Grenze nach Österreich oder über den Zaun der Botschaft der Bundesrepublik in Prag. Die geblieben sind, demonstrieren seit einem Monat in Leipzig. Sie rufen Honecker und seinem Politbüro zu: „Wir sind das Volk!“

Michail Gorbatschow (l) wird nach seiner Ankunft zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Staatsjubiläum der DDR von Erich Honecker mit dem traditionellen Bruderkuss willkommen geheißen.
Michail Gorbatschow (l) wird nach seiner Ankunft zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Staatsjubiläum der DDR von Erich Honecker mit dem traditionellen Bruderkuss willkommen geheißen. © Wolfgang Kumm / dpa (Archiv)

Gorbatschow hat die offiziellen Termine hinter sich, als er am 7. Oktober Unter den Linden einen öffentlichen Termin wahrnimmt. Die Menschen bedrängen ihn, jubeln ihm zu. Er ist ihr Hoffnungsträger. Gorbatschow spricht ein paar Sätze, ruhig, freundlich, sogar ein wenig lächelnd.

Aber der Inhalt dieser Sätze verrät, wie frustriert er nach den Gesprächen mit der DDR-Führung sein muss. „Gefahren warten nicht auf jene, die auf das Leben reagieren“, sagt Gorbatschow. „Wer die vom Leben und von der Gesellschaft ausgehenden Impulse aufgreift und dementsprechend seine Politik gestaltet, der dürfte keine Schwierigkeiten haben, das ist eine normale Erscheinung.“

Acht berühmte Worte, die Gorbatschow nie gesagt hat

Keine 30 Sekunden dauert diese Passage. In die Geschichte eingegangen ist sie mit nur acht Worten. Acht Worte, die Gorbatschow nie gesagt hat, einen Aphorismus, den der Übersetzer prägt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Damit hat Gorbatschow der Führung um Honecker endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen, das wird sich bald zeigen. Einen Monat später fällt die Mauer, ein Jahr später ist die DDR Geschichte.

Nicht nur an Jahrestagen der Einheit müssen die Deutschen Gorbatschow dankbar sein. Die Wiedervereinigung hätte es ohne ihn nicht geben. Irgendwann wäre die Teilung Europas wohl auch ohne ihn überwunden worden, aber sie wäre sicher anders verlaufen.

  • Ein großes Porträt, anlässlich von Gorbatschows 90. Geburtstag, lesen Sie hier.

Für seinen Beitrag zur Überwindung des Kalten Krieges wurde er im Westen geehrt, in seiner Heimat bis zuletzt verachtet. Denn was im Westen als Sieg erscheint und gefeiert wird, hält die große Mehrheit der Russen heute, drei Jahrzehnte später, für eine Niederlage. Gorbatschow hat - ohne es zu beabsichtigen - das russische Imperium verspielt.

Im Theater wäre Michail Gorbatschow eine große tragische Figur. Was er gewollt hat, ist ihm nicht gelungen. Was ihm gelungen ist, hat er nicht gewollt. Je mehr er das erstarrte sowjetische System reformiert, desto schlimmer wird es. Das erkennt natürlich auch Gorbatschow.

Michail Gorbatschow im Jahr 2014 am Pariser Platz in Berlin, im Hintergrund das Brandenburger Tor.
Michail Gorbatschow im Jahr 2014 am Pariser Platz in Berlin, im Hintergrund das Brandenburger Tor. © Jens Kalaene/dpa

Das erklärt sein unschlüssiges Schwanken, seine Widersprüchlichkeit, die zunehmend zu seiner Natur werden. Er hat Kräfte in Bewegung gebracht, die nicht nur die herrschende Weltordnung zum Einsturz bringen, sondern die auch am Ende ihn selbst beiseite schieben.

So kommt es wohl auch, dass die größte politische Leistung dieses Mannes nicht mit seinem Namen in den Geschichtsbüchern steht. So wie etwa die unsägliche Breshnew-Doktrin zur Knebelung Mittel- und Osteuropas mit dem Namen eines seiner Vorgänger verbunden ist.

Vielmehr hat Gorbatschows Sprecher Gennadi Iwanowitsch Gerassimow 1989 für die Befreiung dieser Region vom Diktat Moskaus den Begriff „Sinatra“-Doktrin erfunden: Jedes Land hat das Recht, es auf seine Weise zu versuchen. Wahrscheinlich ist es sogar richtig, dass es keine „Gorbatschow-Doktrin“ gibt.

Er hatte nie das Ziel, als Befreier Osteuropas in die Geschichte einzugehen. Gorbatschows Absicht war es, die Sowjetunion zu verbessern und damit zu retten, nicht sie zu begraben.

Gorbatschow – von frühester Jugend an geradlinig und unauffällig

Gorbatschow ist den Weg aller kommunistischen Funktionäre gegangen: von frühester Jugend über die Stufen des Apparates nach oben, geradlinig und unauffällig durch die Nomenklatura. Als er, 54-jährig, im März 1985 zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wird, ist das noch kein Zeichen für einen sich anbahnenden Kurswechsel.

Nach einem halben Jahrzehnt unter der Führung von senilen und todkranken Männern - Breshnew, Andropow, Tschernenko – vollzieht die kommunistische Partei aber endlich den überfälligen Generationswechsel.

Dass es rasch zu Veränderungen kommen muss, war aber selbst den dogmatischsten Funktionären klar. Die Sowjetunion hatte die wichtigsten Entwicklungen der wissenschaftlich-technischen Revolution verpasst. Der Rückstand zum Westen wurde nicht wie es die kommunistische Fortschrittstheorie, der dialektische Materialismus, vorherbestimmte – immer kleiner.

Er wurde stetig größer. Der Afghanistan-Krieg zehrte an den inneren Ressourcen und beschädigte das äußere Ansehen des Landes. Zudem hatte US-Präsident Ronald Reagan mit seinem Sternenkriegsprogramm SDI gerade eine neue Runde des Wettrüstens eingeleitet, das die Kapazitäten der maroden Sowjetunion mit Sicherheit überfordern würde.