Politik
Merken

Wird Boris Palmer zum "grünen Sarrazin"?

Für Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock könnte der Streit im Wahlkampf zum Dauerärgernis werden. Für die Konkurrenz ist das dagegen ein gefundenes Fressen.

 0 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen.
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen. © Christoph Soeder/dpa

Es war eine Szene mit Symbolcharakter. Eine junge Frau spricht Boris Palmer Ende März auf der Neckarbrücke in Tübingen an. "Darf ich Sie kurz feiern?" Er: "Ja, gerne." Sie verneigt sich vor ihm. Die halbe Republik verneigte sich in diesen Tagen vor dem grünen Oberbürgermeister. Das Corona-Modellprojekt in der schwäbischen Unistadt gibt im Lockdown Hoffnung. Der Rebell, den seine Partei wegen zahlreicher Provokationen schon rauswerfen wollte, ist Dauergast in Talkshows und erklärt stolz seinen Coup. Palmer ist oben auf. Sogar bei den Grünen gibt es zarte Hoffnung, ihn wieder einbinden zu können. Doch jetzt, sechs Wochen später, ist nicht nur das Modellprojekt am Ende, sondern auch Palmer bei den Grünen wohl endgültig unten durch. Doch die Schlacht um seinen Rauswurf dürfte lang und unangenehm werden.

Was ist passiert? Knapp fünf Monate vor der Bundestagswahl, bei der die Grünen laut Umfragen erstmals eine reelle Siegchance haben, löst der bundesweit wohl bekannteste Kommunalpolitiker eine Debatte über Rassismus aus - auf Facebook, mit Aussagen über den früheren Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo. Er benutzt am Freitag einen rassistischen und obszönen Begriff aus einem Zitat, das Aogo zugeschrieben wird. Das Netz läuft über vor Empörung, Palmer ist wieder im Auge eines heftigen Shitstorms. Es gibt aber auch Zustimmung - auch von rechter Seite. Palmer fühlt sich missverstanden - mal wieder. Er rechtfertigt sich, es sei Ironie gewesen. Es sei immer das gleiche Muster, sagen seine Gegner. Vor allem im linken Lager der Grünen gibt es davon haufenweise.

Seine eigene Partei sieht jedenfalls rot. Aus der Berliner Parteizentrale heißt es, die Vorsitzenden hätten schnell mit Palmer Kontakt aufgenommen, am Samstagmorgen gab es ein Gespräch zwischen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und Palmer. Der Versuch, ihn zu einer Entschuldigung zu bewegen, misslingt offensichtlich. Um genau 10.30 Uhr zieht Baerbock die Notbremse. Auf Twitter erklärt sie: "Die Äußerung von Boris Palmer ist rassistisch und abstoßend. Sich nachträglich auf Ironie zu berufen, macht es nicht ungeschehen." Das Ganze sei eine neue Episode in einer Reihe von Provokationen, "die Menschen ausgrenzen und verletzen". Die Partei werde über Konsequenzen beraten.

Auch Palmer will Partei-Ausschlussverfahren

Gut vier Stunden später ist es soweit: Die Südwest-Grünen beschließen bei ihrem Parteitag in Stuttgart mit einer Dreiviertelmehrheit, ein Ausschlussverfahren gegen Palmer zu eröffnen.

Paradoxerweise hatte Palmer die Delegierten wenige Minuten vorher noch angefeuert, diesen Beschluss zu fassen. Er ließ sich für eine Gegenrede zu dem Ausschlussantrag in den Parteitag schalten. Er habe Aogo nur in Schutz nehmen wollen, weil der wegen der Aussage "trainieren bis zum Vergasen" nicht mehr als TV-Experte auftreten könne. Bei ihm selber gehe es darum, abweichende Stimmen zum Verstummen zu bringen, schimpft Palmer. "Daher kann und will ich nicht widerrufen." Er werde sich in dem Verfahren gegen "haltlose und absurde Vorwürfe" zur Wehr setzen, sagt Palmer, der seit 25 Jahren bei den Grünen ist und seit 2007 OB in Tübingen.

Und: Er sendet in seiner Rede ein eindeutiges Warnsignal an die Grünen im Bundestagswahlkampf. Er gedenkt zu kämpfen. "Ich bin heute mehr denn je überzeugt, dass diese Partei mich braucht." Er will sich den Vorgaben der "Generation beleidigt" nicht beugen. Der dpa sagt er: "Ich halte es geradezu für eine Bürgerpflicht, diesem selbstgerechten Sprachjakobinertum die Stirn zu bieten." Dass er damit auch viele Grüne meint, braucht er nicht extra zu betonen.

Nun muss Baerbock liefern

Wird Palmer also zum grünen Thilo Sarrazin? Die SPD hat mit dem ehemaligen Berliner Finanzsenator, der in seinen Büchern Theorien über eine angebliche Abschaffung Deutschlands durch Migration aufstellte, jahrelang herumgestritten. Mitte vergangenen Jahres war es dann soweit, Sarrazin wurde rausgeworfen. Ursprünglich wollten die Grünen sich so etwas nicht antun. Noch Ende des Jahres lobte Grünen-Parteichef Robert Habeck, bei Palmer habe ein "Lernprozess" eingesetzt. Zwar bleibe es dabei, dass die Grünen ihn nicht mehr unterstützen würden, falls er 2022 erneut als Tübinger OB antreten wolle. Aber über Palmers Corona-Politik sagte Habeck: "Boris macht sein Ding. Er macht es gut." Es war der zarte Versuch, Palmers Erfolge auch auf grüne Mühlen zu leiten.

Dass die Grünen nach der allseits gelobten Kür der Kanzlerkandidaten nun wegen Palmer in die Defensive geraten, kommt der politischen Konkurrenz gerade recht. FDP-Vize Wolfgang Kubicki sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, das Ausschlussverfahren sei "definitiv überzogen". Dagegen will die SPD klare Kante gegen Palmer sehen. Generalsekretär Lars Klingbeil sagte, die Grünen hätten mit Palmer ein Rassismusproblem. Viel zu oft seien dessen Entgleisungen unter den Teppich gekehrt worden. "Die Taktik des Durchmogelns geht nicht mehr. Es geht um Haltung."

Nun muss Baerbock liefern. Sie hat die Causa Palmer mit ihrem Tweet an sich gezogen, was bei den Grünen nicht jedem gefällt, weil es eher ein Signal an die eigenen - wütenden - Reihen gewesen sei. Denn das Ausschlussverfahren dürfte mitten in den Wahlkampf platzen. Und wenn es dem begabten Rhetoriker Palmer auf dieser Bühne nur ansatzweise gelingt, die Grünen als Sprachpolizei und "entfesselte Identitätspolitiker" darzustellen, könnte das der Partei, die ja gerade in der Mitte der Union Stimmen abjagen will, durchaus wehtun. (dpa)