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Sächsische Linkenpolitikerin: "Jedes Weiter-So verbietet sich"

Cornelia Ernst war Parteichefin, saß im Landtag und im EU-Parlament. Sie fordert die Partei auf, sich neu zu erfinden.

Von Thilo Alexe
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Nach 15 Jahren in Brüssel kandidierte Cornelia Ernst nicht mehr für das EU-Parlament.
Nach 15 Jahren in Brüssel kandidierte Cornelia Ernst nicht mehr für das EU-Parlament. © Die Linke

Frau Ernst, wie blicken Sie auf die Europawahl, bei der die Linke in Deutschland deutlich verloren hat?

Die Krise der Linken in Deutschland ist keine Krise der Linken in Europa. Wir hatten bisher 37 Mandate im Europaparlament, nun sind es 46. In der neuen Fraktion sind Linke aus Skandinavien, die haben bis zu zwölf Prozent eingefahren. Die italienische Linke hat sich faktisch neu erfunden. Und genau das brauchen wir auch. Denn die 2,7 Prozent für die Linke in Deutschland sind ein Debakel. Jedes Weiter-So verbietet sich.

Zusammen mit der sächsischen Bundestagsabgeordneten Clara Bünger haben Sie Carola Rackete als Spitzenkandidatin für die EU-Wahl empfohlen, die dann auch von der sächsischen Linken unterstützt wurde. War das eine gute Entscheidung?

Wir sind sehr froh, dass sie kandidiert und nun in Sachsen ihren Wahlkreis hat. Ich finde ihren aktivistischen Ansatz, früher bei der Flüchtlingsrettung, jetzt beim Thema Klima und Umwelt, richtig. Es muss darum gehen, auch außerparlamentarische Kräfte einzubinden. Und dafür steht Carola Rackete.

Sie sagen, die Linke müsse sich neu erfinden. Wie?

Schauen Sie nach Italien, dort war die einst starke Linke 2019 total eingebrochen. Jetzt haben wir in der neuen Fraktion in Brüssel allein zehn Abgeordnete aus Italien, wie den Bürgermeister von Riace, der europaweit bekannt wurde, weil er Migranten in seinem Ort erfolgreich ansiedelte. Und die Fünf-Sterne-Bewegung, die über lange Wege zu einer linken Politik fand, weil sich die Basis dieser Partei durchgesetzt hat. Das BSW versuchte übrigens, diese Partei für eine gemeinsame Fraktion in Brüssel zu gewinnen. Doch denen waren die BSW-Positionen bei Klimaschutz und Migration inakzeptabel. Jetzt sind die Fünf-Sterne in der Linksfraktion. Man muss immer wieder neue Schritte wagen, sich geistig und strukturell erneuern. Zum Beispiel in der Außenpolitik.

Beim Verhältnis zur Nato etwa?

Die erste Frage ist doch nicht, ob beziehungsweise wie stark man sich in der Nato engagiert, sondern, wie man mit unterschiedlichen Interessen umgeht. Versucht man friedlich Kompromisse zu finden? Oder müssen alle wie der Westen ticken? Will man Aufrüsten und Drohkulissen forcieren oder gelingt es, weltweit zur Abrüstung zurückzukehren?

Und zu Russland?

Die von der Linken geforderte gemeinsame Sicherheitsarchitektur in Europa unter Einbeziehung Russlands dürfte sich wohl nur schwer umsetzen lassen. Ein Neuanfang in Europa ist nötig. Und den kriegt man nicht hin, wenn neue Langstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden. In der Frage der Waffenlieferungen gibt es in der Brüsseler Linksfraktion zweifellos unterschiedliche Ansätze. Linke aus den nordeuropäischen Ländern pochen auf Waffenlieferungen in die Ukraine, Linke aus Südeuropa sind da wesentlich skeptischer. Und für beides gibt es Argumente.

Und wie gehen Sie damit um?

Gemeinsames finden: Die Linken in Europa sind sich einig, dass es eine zweite Strategie zur Beendigung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geben muss. Wir brauchen Diplomatie statt Aufrüstung und Russophobie. Wir verlangen, auch russischen Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren in Europa Asyl zu gewähren. Ebenso sind wir uns darin einig, dass der Konflikt zwischen Israel und der Hamas nicht mit Krieg beendet werden kann, der eher die Gefahr eines Flächenbrandes im Nahen Osten in sich birgt.

Funktioniert der Gedanke der Umverteilung noch? Was halten Sie von der These, dass etwa die AfD von der Erzählung einer nationalen Gemeinschaft profitiert, die weniger für Migranten und Waffen ausgibt und sich so gegenseitig hilft?

Natürlich muss man Reichtum besser umverteilen, Stichwort: Vermögenssteuer. Aber zu glauben, wenn alle Migranten aus Deutschland verjagt sind, seien unsere Probleme gelöst, ist doch Unfug. Zum einen tragen auch Migranten durch ihre Arbeit zum Wohlstand bei. Zum anderen zeigt doch die Geschichte: Eine Gesellschaft, die darauf setzt, sich abzuschotten, verringert die eigene Entwicklung und schafft Risiken. Der Blick aufs Nationale allein greift einfach zu kurz. Kein großes Thema kann nur national gelöst werden, weder Klimawandel noch die soziale Frage. Wer sich abschottet, kann kurzfristig gewinnen, wird aber langfristig verlieren.

Dennoch dominieren in Sachsen in Umfragen und bei der Europawahl zuwanderungskritische Positionen. Im Grundsatzprogramm der Linken ist von offenen Grenzen die Rede.

Es geht um offene Grenzen für Menschen in Not. Wenn wir aus zwei fürchterlichen Weltkriegen etwas begriffen haben, dann doch wohl die Gültigkeit der Genfer Flüchtlingskonvention, zu der sich Deutschland bekannt hat. Hinzu kommt, dass jedes Jahr aufgrund des demografischen Wandels weitere 400.000 Arbeitskräfte fehlen. Bis 2030 sollen es 3,5 Millionen sein, was in der gesamten Wirtschaft spürbar sein wird. Wir brauchen also auch Zuwanderung, die dort erfolgreich beginnt, wo Zuwandernde Integration ernst nehmen und eine Verwaltung auch Englisch sprechen kann, wie in vielen Staaten üblich.

Etliche Ihrer früheren Wähler stimmen nun für Sahra Wagenknecht. Warum?

Manchmal ist ein klarer Schnitt besser, den haben wir wohl verpasst. So wurde viel zu lange intern gestritten. Das hat unser öffentliches Profil beschädigt. Wir Linken waren doch nach der Wende lange Zeit die einzige Partei, die die Interessen der Ostdeutschen immer wieder aufgerufen hat, eine aktuelle Aufgabe, die von den Regierenden einfach nicht ernstgenommen wird. Für das Soziale zu stehen, ist noch keine Aussage, wenn wir nicht hinzufügen, dass wir hierbei niemanden ausgrenzen. Wir müssen das Soziale mit dem Demokratischen verbinden, Klischees zur diskriminierenden Herabsetzung der Menschen im Osten und Feindbildern, die Migration per se dämonisieren, mutig entgegentreten und gegen Faschisten klar Schiff machen. Auch hier und heute ist schon mehr Gerechtigkeit möglich. Diese Kämpfe verlangen aber eine Linke, die mutig ist, widerstandsfähig und bar jeder Eitelkeit. Alles andere hatten wir schon mal.

Was vermissen Sie nach 15 Jahren in Brüssel?

Die Multikulturalität. Brüssel ist eine tolle Stadt. Da kann man frei atmen.