Karl Lauterbach, Mann der Fakten

Berlin. Auch wenn es oft nicht so scheint: Der neue SPD-Gesundheitsminister hat Humor. Der Mann, der seit Anfang Dezember Deutschland durch die vierte Corona-Welle lenkt, lässt vor allem auf Twitter auch mal die Sau raus. Versteckt zwischen dutzenden Leseempfehlungen zu den aktuellsten Corona-Studien postete er zum Jahreswechsel das Foto eines von außen über den Fenstersims lugenden Lauterbachs, zusammen mit der Aufschrift: "Übertreibt es nicht. Ich sehe euch. Grüße, euer Karl."
Und auch das vor zwei Wochen gepostete Foto zusammen mit Bill Gates auf der Münchner Sicherheitskonferenz zeugt von einer gewissen Ironie. Schließlich existieren krude Verschwörungstheorien, die Gates vorwerfen, die Corona-Pandemie inszeniert zu haben. Hämische Kommentare folgten auf den Fuß: "Wieviel hast du von ihm kassiert, um Deutschland weiter zu vernichten?" "Wacht auf ihr Impfschafe." Und: "Sehr generös von Lauterbach, den Aluhüten und Querschwurblern persönlich Bildmaterial zu liefern."
Natürlich ist nicht klar, ob Lauterbach mit dem Foto provozieren wollte. Um die Sprengkraft des Fotos wird er gewusst haben. Anlass für das Gespräch mit Bill Gates war aber die Verteilung der Corona-Impfstoffe an ärmere Länder. "Der Schwerpunkt muss meines Erachtens darin liegen, Pandemien zu verhindern", schreibt Lauterbach zu dem Tweet, dann brauche es keine Impfstoffe für Milliarden von Menschen.
Wie so häufig geht es Lauterbach ums Existenzielle. Als Gesundheitsminister ist es sein Job, das Leben und die Gesundheit einer ganzen Nation zu bewahren. Trotz dieses schwierigen Jobs inklusive Hass und Häme in den sozialen Medien glänzt Lauterbach mit guten Zustimmungswerten. Laut ZDF-Politbarometer vom Februar steht er gleichauf mit Kanzler Olaf Scholz an zweiter Stelle der beliebtesten Politiker, den ersten Platz hält die eigentlich längst aus dem Amt geschiedene Angela Merkel.
Die große Zustimmung könnte auch daran liegen, dass sich Karl Lauterbach grundlegend von seinem Vorgänger Jens Spahn (CDU) unterscheidet. Spahn war nach seinem Abitur zwölf Jahre als Bankkaufmann tätig, bevor er Rechts- und Politikwissenschaften studierte. Lauterbach dagegen ist Mediziner, genauer Epidemiologe und Gesundheitsökonom. In seinem am Montag erschienenen Buch "Bevor es zu spät ist" skizziert Lauterbach auch, wie er zur Medizin kam.
Mit 13 Jahren wurde er am Knie wegen einer Knochenzyste operiert. Wegen eines Behandlungsfehlers nistete sich ein Hospitalkeim ein. Die nächsten Jahre fürchtete er außerdem, die Zyste könne zurückkommen, was möglicherweise die Amputation seines Beins zur Folge gehabt hätte. Heute weiß man: Eine zurückkehrende Zyste ist meistens gutartig. Lauterbachs Sorge war umsonst, der behandelnde Arzt verschwieg den Behandlungsfehler allerdings vorerst. "Ich fasste damals den Entschluss, Mediziner zu werden, um die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern", schreibt Lauterbach. "Ich wollte etwas verändern."
Lauterbach wurde aber kein Arzt, sondern Forscher. Ein einzelner Arzt könne auch noch so gut sein, schreibt Lauterbach, als Wissenschaftler habe man mehr Einfluss auf die Gesundheit aller Menschen. Doch damit nicht genug: Lauterbach saß seit 2005 im Deutschen Bundestag, mittlerweile ist er Gesundheitsminister. Teile seiner wissenschaftlichen Karriere hing er an den Nagel, um in die Politik zu gehen.
Die Corona-Krise reicht ihm nicht, Lauterbach will auch das derzeit größte Problem der Menschheit anpacken, den Klimawandel. Damit so wenig Kipppunkte wie möglich überschritten werden - etwa das unumkehrbare Schmelzen des Grönland- und westantarktischen Eises oder die Abschwächung des Golfstroms - , müsse die Politik entschlossener den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen. Und dazu brauche es mehr Wissenschaftler in der Politik, so wie ihn, schreibt er.
Die Politik definiere das Problem häufig so, dass es bereits zu einer politischen Lösung passe, meint Lauterbach. "Wir suchen uns die Probleme aus, die wir lösen wollen", danach könnten sich Parteien und Politiker als Problemlöser inszenieren. Dass politische Ziele Priorität vor wissenschaftlichen Erkenntnissen haben, sei im demokratischen Prozess legitim, doch der Klimawandel brauche eine völlig andere Herangehensweise, weil er das Leben der nachfolgenden Generationen aufs Spiel setzt, so Lauterbach.
Im vergangenen Bundestag gehörten 33 der insgesamt 709 Parlamentarier einer Hochschule an, Mediziner gab es inklusive Lauterbach 14. Um sich selbst auf den wissenschaftlichen Stand zu bringen, fehle den meisten Abgeordneten trotz wissenschaftlichem Dienst und Sachverständigenräte die Zeit, meint Lauterbach. Deren Input sei ohnehin parteipolitisch gefärbt und letztendlich auch nicht verbindlich.
Ein Stück weit inszeniert sich Karl Lauterbach damit auch selbst. Nicht nur hinter vorgehaltener Hand erwähnt er, dass er sich schon seit vielen Jahren vegan ernährt, was neben dem CO2 bindenden Rohstoff Holz als Baumaterial aus seiner Sicht die meist unterschätzte Methode im Kampf gegen den Klimawandel ist. Außerdem seien die ersten drei Corona-Wellen in Deutschland erfolgreich überstanden worden, weil die Politik auf die Wissenschaft gehört habe. Die Warnung vor einer vierten Welle seien dagegen abgetan worden.
Lauterbach kennt die Fakten, er argumentiert stichhaltig, zeigt die Zusammenhänge zwischen Grillwürstchen und potenziell nach Europa drängenden Migrationsströmen in nie dagewesener Größe. Würden wir alle auf Lauterbach hören, unsere Ernährung umstellen, auf allen Dächern Strom generieren und mehr Windparks in die Nord- und Ostsee rammen, könnte der Klimawandel zumindest so weit gestoppt werden, dass die Erde sich in Zukunft wieder erholen könnte.
Doch Lauterbach erkennt auch die Krux: "Wenn ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal dazu bereit ist, sich impfen zu lassen, um das eigene Leben zu retten oder zumindest das Leben anderer nicht zu gefährden – wie wäre es dann erst um die Bereitschaft bestellt, jene Veränderungen im Lebensstil zu akzeptieren, die für das Erreichen des 1,5-Grad- Ziels unabdingbar sind?"
Es wird auch auf politische Vorbilder ankommen, die solch einen Lebenswandel vorleben, nicht nur vonseiten der Grünen. Lauterbach gibt sich als Mann der Fakten, jedoch nicht unbedingt als Mann des Verständnisses. Wer sein Buch liest, wird erschlagen von Studien, Zahlen, komplexen Zusammenhängen, die meistens noch nicht einmal aus seinem Fachgebiet stammen, dafür umso mehr seine Hingabe der Wissenschaft belegen. Ob Lauterbachs Fakten als Argumente reichen, ist fraglich mit Blick auf die sich zunehmend von Fakten entfernende Öffentlichkeit. Solange der Klimawandel ein für uns abstraktes Phänomen bleibt, wird sich zumindest in der derzeitigen Generation ohne politische Anreize wenig ändern. Reicht es da, auf das Umdenken unserer Kinder zu hoffen?