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Whistleblower: Die schweren Folgen des richtigen Handelns

Whistleblower leisten mit ihren Enthüllungen einen Dienst an der Demokratie – und bezahlen dafür oft mit ihrer Existenz. In Deutschland soll das ein neues Gesetz ändern.

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Sie haben Missstände aufgedeckt und die Konsequenzen zu spüren bekommen: (v. l.) Chelsea Manning, Edward Snowden, Julian Assange und Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen.
Sie haben Missstände aufgedeckt und die Konsequenzen zu spüren bekommen: (v. l.) Chelsea Manning, Edward Snowden, Julian Assange und Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen. © Dirk Waem/PA/dpa; Kyodo/ddp; Dominic Lipinski/PA; Lenin Nolly/PA

Von Andreas Austilat

Ob sie Freunde waren? Das vielleicht nicht. Aber sie kannten sich seit dem Kindergarten, hatten sich auch in der Schule nie aus den Augen verloren. Martin Porwoll und Peter S., Spross einer alteingesessenen Bottroper Apothekerfamilie. 2018 wurde Peter S. zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Angezeigt hatte ihn Martin Porwoll.

Porwoll war bis 2016 kaufmännischer Leiter der Alten Apotheke in Bottrop, die größer war, als der Name vermuten lässt. Tatsächlich verbarg sich hinter der rosafarbenen Gründerzeitfassade in Bottrops Innenstadt ein Betrieb mit 90 Mitarbeitern und einem Hochleistungslabor, der jedes Jahr einen Umsatz in mittlerer zweistelliger Millionenhöhe erwirtschaftete. Und am Ende in einen der größten Medikamentenskandale in der Geschichte der Bundesrepublik verwickelt war.

Dass der aufgedeckt wurde, ist vor allem Martin Porwoll zu verdanken. Ein Schritt, der ihn den Job kostete. Kein Einzelfall. „Meines Wissens ist keiner der in Deutschland bekannt gewordenen Whistleblower je an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt“, sagt Annegret Falter, Vorsitzende des Whistleblower Netzwerks, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Schutz und Ansehen dieser Menschen zu verbessern.

Whistleblower, das sind die Lauten, die Mutigen, die etwas sagen, wenn ihnen in ihrem Unternehmen, ihrer Behörde oder Institution Unrecht auffällt. Ohne sie wüsste die Öffentlichkeit wenig über Offshore-Konten, Gammelfleisch oder fragwürdige Praktiken bei Facebook.

Es ist der achte Anlauf für das Gesetz

International spektakulär ist der Fall Julian Assange, der in London gerade gegen seine Auslieferung an die USA kämpft. Assange habe Kriegsverbrechen und Korruption aufgedeckt, so Falter. Also schwerwiegende Rechtsverletzungen öffentlich gemacht. Nun droht ihm lebenslange Haft. Doch auch in Deutschland sind Whistleblower laut Falter nur unzureichend rechtssicher geschützt. Weshalb sich ihr Netzwerk seit 15 Jahren für ein sogenanntes Hinweisgeberschutzgesetz einsetzt.

Mindestens acht Anläufe gab es seit 2006 für ein solches Gesetz. Inzwischen macht Brüssel Druck. Schon im vorigen Dezember hätte die Bundesrepublik eine entsprechende EU-Richtlinie übernehmen müssen. Sie tat es nicht. Ein Vertragsverletzungsverfahren wurde eingeleitet. Immerhin liegt seit April ein Referentenentwurf vor. Justizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte Vollzug noch vor der Sommerpause an. Diese Chance ist vertan. Dabei soll das Gesetz im kommenden Dezember in Kraft treten. Zunächst in Betrieben mit mehr als 249 Mitarbeitern, ein Jahr später auch in solchen mit mindestens 50.

Es geht darum, Whistleblower vor Repressalien zu schützen. Darum, Kanäle einzurichten, innerhalb oder außerhalb von Betrieben, in denen sie ihr Wissen offenlegen können. Es geht aber auch darum, Arbeitgeber vor haltlosen Beschuldigungen zu schützen.

Skandal um gepanschte Krebsmedikamente aufgedeckt

Einer, der das Verfahren ganz genau verfolgt, ist Martin Porwoll. Der 50-Jährige mit kahlem Kopf, runder Brille und Tattoo auf dem Unterarm kann sich mit dem Whistleblower-Preis der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler schmücken. Lieber wäre ihm, nach sechs Jahren endlich entschädigt zu werden.

Es ging um gepanschte Krebsmedikamente, um Tausende Spritzen und Infusionsbeutel zur Behandlung von Krebspatienten, die ihre Hoffnungen in Medikamente setzten, die bis zur Wirkungslosigkeit verdünnt wurden. Nachweislich 4.661 Patienten waren betroffen, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Peter S. war ein in Bottrop anerkannter Wohltäter, der allein für ein Hospiz in einem Jahr 100.000 Euro spendete. Doch als sich Indizien gegen den Mann verdichteten, sagt Porwoll in einem Videogespräch, habe er sich dafür zu interessieren begonnen, was ihm drohen würde, wenn er gegen seinen Chef an die Öffentlichkeit ginge. Schnell erkannte er, dass die absehbaren Folgen wenig ermutigend sind. Er fragte sich: Soll ich abhauen oder auspacken?

Licht ins Dunkel: Martin Porwoll deckte einen Skandal um gepanschte Krebsmedikamente auf und litt immens unter den Folgen.
Licht ins Dunkel: Martin Porwoll deckte einen Skandal um gepanschte Krebsmedikamente auf und litt immens unter den Folgen. © Christoph Reichwein/imago

Natürlich wusste er von der US-Soldatin Chelsea Manning, die Dokumente zum Irakkrieg veröffentlichte und als Verräterin juristisch belangt wurde. Von Edward Snowden, der die Überwachungspraktiken des US-Geheimdienstes NSA offenlegte und vielleicht lebenslang im Moskauer Exil festsitzt. „Aber das“, sagt Porwoll, „war eine andere Liga.“ Und fern von Deutschland.

Martin Porwoll begann sich einzulesen in die Geschichte der Whistleblower. Da gab es Werner Pätsch, ein deutscher Edward Snowden, der Anfang der 1960er-Jahre beim bundesdeutschen Verfassungsschutz arbeitete und nicht nur enthüllte, wie er dort selbst unbescholtene Bürger überwachte, sondern gleich auch noch, wie viele seine Kollegen eine Nazivergangenheit hatten. Er wurde wegen Geheimnisverrats angeklagt. Der Bundesgerichtshof bescheinigte ihm zwar, dass die Preisgabe von Geheimnissen rechtens sei, wenn Grundrechte verletzt würden, doch er hätte sich nicht an den Dienstweg gehalten. Er wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

Als der Rinderwahnsinn nach Deutschland kam

Oder Margrit Herbst, Tierärztin aus Schleswig-Holstein, die Anfang der 1990er-Jahre enthüllte, dass BSE, damals als Rinderwahnsinn mit Ursprung in Großbritannien bekannt, Deutschland längst erreicht hatte und für den Menschen gefährlich sein konnte. Sie ging an die Öffentlichkeit, verlor erst ihren Job – und dann vor Gericht. Wegen Verletzung der Verschwiegenheitspflicht. Auch sie bekam zwar den Whistleblower-Preis der deutschen Wissenschaft, aber keine Entschädigung. Ihre Karriere war für immer beendet.

Über Brigitte Heinisch, eine Berliner Altenpflegerin, die 2002 den Pflegenotstand in ihrer Einrichtung anprangerte und, als sie kein Gehör fand, ihren Arbeitgeber anzeigte. Heinisch wurde fristlos entlassen, klagte sich durch alle Instanzen. Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab ihr 2011 recht. Anschließend wurden ihr von einem deutschen Gericht 90.000 Euro Entschädigung zugesprochen.

Porwoll war also klar, dass Whistleblower in der Realität selten gefeiert werden, dafür schnell als Nestbeschmutzer gelten. Von der Einführung des „Denunziantenschutzes“ war schließlich auch im Bundestag die Rede, als es darum ging, wie man Beteiligte im Dioxin-Eier-Skandal zur Aussage ermutigen könne.

Bis zur Wirkungslosigkeit verdünnt

Die Beweise, die Martin Porwoll in der Bottroper Alten Apotheke entdeckte, sprachen für Ungeheuerliches. Es ging um Antikörper, um Zytostatika, die in der Chemotherapie eingesetzt werden. Er stellte fest, dass die Menge der eingekauften Wirkstoffe in keinem Verhältnis zu den ausgelieferten Medikamenten stand. Im Prozess wurden später Zahlen veröffentlicht: Aus 412.000 Milligramm wurden so in einem Fall durch wundersame Vermehrung 7,2 Millionen Milligramm.

Porwoll nahm sich einen Anwalt und erstattete Anzeige. Doch der Knall, den er erwartet hatte, blieb zunächst aus. Vier Monate später kam es zur Razzia, es wurden Medikamente beschlagnahmt, schließlich Anklage erhoben. Porwoll verlor sofort seinen Job. Und auch gegen ihn wurde ermittelt. Sein Arbeitgeber warf ihm Diebstahl vor, er soll sich Medikamente widerrechtlich angeeignet, Kopien auf betriebseigenem Papier angefertigt haben.

Porwoll erzählt von Panikattacken, die er durchlitt, von Zukunftsängsten. Kurz nach seiner Enthüllung war er erneut Vater geworden. Von Anfeindungen durch jene, die meinten, er habe einen gut laufenden Betrieb ruiniert. Es dauerte lange, bis ihm wenigstens Schadenersatz zugesprochen wurde, den er allerdings nie erhielt. Die Insolvenz des Betriebs, der heute immer noch Familie S. gehört, kam dem zuvor.

Peter S. wurde 2018 verurteilt. Martin Porwoll bewarb sich vergeblich um einen neuen Job. Manchmal sei er sich vorgekommen wie ein Zirkuspferd, sagt er heute. Viele hätten ihn mal sehen wollen, den Mann, der den großen Skandal aufgedeckt hatte. Einstellen wollten sie ihn aber lieber nicht.

Seit April liegt der Gesetzesentwurf vor

Als das Justizministerium den Entwurf für das geplante Hinweisgeberschutzgesetz im April dieses Jahres vorlegte, bekamen Verbände und Einzelpersonen Gelegenheit zur Stellungnahme. 51 solcher Stellungnahmen nennt das Ministerium auf seiner Homepage, von den Arbeitgeberverbänden, dem Whistleblower Netzwerk, dem Roten Kreuz, dem Bund deutscher Kriminalbeamter, um nur einige zu nennen. 50 können eingesehen werden, einzig der Bundeswehrverband widersprach einer Veröffentlichung.

Kritik gab es schon vorher. Wegen der Kosten für Wirtschaft und Verwaltung, die der Entwurf mit jeweils etwas mehr als 200 Millionen Euro jährlich beziffert, aufzubringen etwa für geeignete Meldekanäle. Aus Kreisen der Wirtschaft war von Gefahren für das Betriebsklima die Rede und davon, dass Racheakte enttäuschter Mitarbeiter größeres Gewicht bekämen.

Annegret Falter, Vorsitzende des Whistleblower Netzwerks, sieht in einem derartigen Gesetz ein Instrument, Demokratie und Transparenz zu befördern. Dennoch weise der Entwurf auch aus ihrer Sicht Mängel auf: Meldungen von erheblichem Fehlverhalten, die aber unterhalb der Schwelle eindeutiger Rechtsverstöße blieben, würden nicht geschützt. Im Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch sei das zum Beispiel nicht der Fall gewesen. Unterversorgung in der Pflege mag ein Missstand sein, aber kein Rechtsverstoß.

Edward Snowden wäre nicht geschützt

Riskant könnte nach dem neuen Entwurf auch die Offenlegung gegenüber den Medien bleiben, die nur in Ausnahmefällen geschützt wäre. Genauso wie Meldungen, die Verschlusssachen betreffen. Julian Assange oder Edward Snowden, wären sie in Deutschland tätig gewesen, müssten auch nach Einführung eines Hinweisgeberschutzgesetzes vorsichtig sein. Kritiker befürchten, dass die Zahl der Verschlusssachen im öffentlichen Dienst deutlich zunehmen könnte.

Und was sagt Martin Porwoll? Der würde sich wünschen, dass im Verfahren für das Gesetz noch Betroffene gehört würden. Seine Stellungnahme zum Referentenentwurf wurde allerdings vom Justizministerium nicht veröffentlicht. Er kritisiert, dass der Entwurf sich bisher auf die juristische Ebene beschränke. Whistleblower-Schutz bedeute aber mehr, wie er aus eigener Erfahrung weiß.

Whistleblower, so Porwolls Erkenntnis, begeben sich in eine psychische Ausnahmesituation. Nicht nur ihr Job, auch ihre sozialen Kontakte seien in Gefahr, sie geraten rasch in eine Außenseiterposition. „Sie sollten nicht nur juristische, sondern auch psychische Unterstützung erfahren.“ Nicht zu reden von den finanziellen Folgen.

Die Aufklärung durch Whistleblower nutzt nicht nur der Allgemeinheit, sondern mitunter auch den betroffenen Unternehmen: „Stellen Sie sich vor, ein VW-Ingenieur hätte sich früh offenbart“, sagt Porwoll. „Welch großer Schaden hätte abgewendet werden können.“ Den Schaden aber, wenn die eigene Karriere den Bach runtergeht, sagt Porwoll, den müssten Hinweisgeber in der Regel allein tragen.

Er würde also nicht noch einmal so handeln? Porwoll ist inzwischen aus der Not heraus selbstständig, er hat ein Beratungsunternehmen gegründet, das etwa Schwerkranke unterstützt, eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen. Wenn jemand von solchen Vorgängen erfährt wie damals er, sagt er, dann könne der gar nicht anders: „Solch ein Wissen behalten Sie nicht für sich, ohne Schaden zu nehmen.“