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Polizeichef auf der Anklagebank

Bei der Mondscheinführung in Riesa wurde Geschichte wieder erlebbar – mit überraschenden Rollenwechseln.

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© Sebastian Schultz

Von Britta Veltzke

Riesa. Das geht im Kaiserreich natürlich gar nicht: Richard Emil Peschel, ein verheirateter Riesaer Bürger, nächtigt bei einer alleinstehenden Frau. Für sein sittenwidriges Verhalten wird er am Schlafittchen in den Gerichtssaal gezerrt. Zudem soll er sich der Beamtenbeleidigung schuldig gemacht haben. Den Wachtmeister beschimpfte er als Hallunken, Speichellecker und Schwachkopf.

In der Garnisonsstadt Riesa um 1909 wohl ein häufiges Bild: Ein Oberstleutnant der Reserve spaziert über den Boulevard.
In der Garnisonsstadt Riesa um 1909 wohl ein häufiges Bild: Ein Oberstleutnant der Reserve spaziert über den Boulevard. © Sebastian Schultz

„Aber das ist er doch auch“, versucht sich Peschel mehr schlecht als recht zu verteidigen. Ein Anwalt steht ihm nicht zur Seite. Vor den Augen des Mondschein-Publikums wird er verurteilt – kommt aber glimpflich davon; auch, weil die Scheidung mit seiner ihm von Gott anvertrauten Ehefrau schon in die Wege geleitet wurde. Die 35 Tage Haft verrechnet der Oberamtsrichter mit der Unteruntersuchungshaft – das Zuchthaus bleibt ihm damit erspart. Ob er sich auch die Gerichtskosten spart, bleibt am Ende der Szene jedoch offen. Der Richter stellt ihm die Übernahme der Kosten in Aussicht, wenn er einen Deutschkurs belegt.

Denn seit seiner Ankunft in Sachsen Anfang der 90er hat es der Schauspieler Hermann Braunger, der Peschel verkörpert, hörbar verweigert, seinen schwäbischen Dialekt abzulegen – in seiner Rolle als Angeklagter ebenso wie im wahren Leben als Erster Polizeihauptkommissar. Als Chef der Polizeiwache in der Klosterstraße dürfte Braunger nach dem zurückliegenden Wochenende der Mondscheinführungen seinem Arbeitsplatz etwas überdrüssig sein.

Der heutige Sitz der Polizei wurde 1889 als königliches Amtsgericht gebaut. Den im vergangenen Jahr aufwendig sanierten Verhandlungssaal bekommt die Öffentlichkeit höchsten einmal zum Tag des offenen Denkmals zu Gesicht. Doch Braunger, der schon bei anderen Mondscheinführungen mitgewirkt hat, machte die Szene im Sicherheitsbereich der Polizeiwache möglich. Und so dürfte in jeder Gruppe der Satz: „Hier war ich wirklich noch nie“, gefallen sein.

Die Geschichte erlebbar machen, üblicherweise verschlossene Räume betreten und die Tatsache, dass vom Schüler über die Rathausmitarbeiterin bis hin zum pensionierten Seifenwerk-Chef Dr. Wieland Zeppan alle dabei sind – das macht aus Sicht von Museumschefin Maritta Prätzel den Reiz der Mondscheinführungen aus. In diesem Jahr schlossen sich den 25 Touren (á 35 Teilnehmer) durch die Innenstadt ausnahmslos Riesaer „Neubürger“ an. Gute Aussichten auf eine Anstellung in einer der neuen Unternehmen lockten die Menschen in die florierende Stadt. Damit die Neuen im wahrsten Sinne des Wortes wissen, „wo es langgeht“, haben die Stadtoberen sie auf eine Erkundungstour geschickt.

Die Begleiter entführen die Nachtschwärmer dabei in das Jahr um 1909 – in das zweite Amtsjahr von Bürgermeister Dr. Alfred Scheider. Als sich die Neubürger im Rathaus umsehen, verhandelt der gerade mit Emil Menzel über die Ansiedlung der Tafelglashüttenwerke Riesa. Neben vielen Arbeitsplätzen will er auch für Arbeiterwohnungen sorgen – jedoch nur, wenn die Stadt eine Zufahrtsstraße zum neuen Werk baut. Die Verhandlung ging gut aus. Im Jahr 1910 baute Menzel sein Werk an der heutigen Friedrich-List-Straße. Rund 220 Glasmacher arbeiteten nach den Recherchen von Volker Thomas bei Menzel – und wohnten in den Glasmacher-Häusern, mietfrei.

Über die strenge Schulbildung in der Mädchenschule am Rathausplatz (früher Albertplatz) werden die Neubürger ebenso informiert wie über Fortbildungsmöglichkeiten im Stenografieverein. Auf dem Weg in die Riesaer Bank bekommen sie einen Eindruck vom frischen Wind, den die Soldaten in die Garnisonsstadt bringen. In der 1909 erbauten Bank im Renaissancestil werden die neuen Bürger erst einmal auf ihren Wohlstand hin gemustert. Begrüßt werden sie vom Bankdirektor persönlich: „Sie und ihr Geld liegen mir besonders am Herzen.“ Das macht Eberhard Kulbe in der Rolle des Direktors unmissverständlich klar. Doch auch das Vergnügen sollte Anfang des 20. Jahrhunderts nicht zu kurz kommen. So erfahren die Neubürger, dass es allein in Riesa 59 Einkehrstätten gibt.

So eine Einführung in die neue Heimat würde sich wohl jeder wünschen.