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Prohliser Platte nach Plan

Vor 40 Jahren begann die Montage des ersten Blocks für das Neubaugebiet. Viele Träume platzen in der Mangelwirtschaft.

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© Pfandke

Von Lars Kühl

Die DDR hatte ein Problem. Okay, nicht nur eines, aber das mit dem Wohnungsmangel war nach der Staatsgründung ein ständiger Begleiter. Dabei hatten die Sozialisten wie für so vieles auch dafür einen Plan: das Wohnungsbauprogramm. Beschlossen auf der zehnten Tagung des Zentralkomitees der SED im Oktober 1973. Die einfache Order: Schnell möglichst viele Neubaugebiete in Plattenbauweise hochziehen. Am besten direkt auf der grünen Wiese oder Feldern, meist am Stadtrand.

Die Wohnungsbauserie, kurz WBS 70, war dabei die Wunderwaffe, entwickelt von der Deutschen Bauakademie in Berlin und an der TU Dresden, zuerst ausprobiert in Neubrandenburg, wo es ein neu errichtetes Plattenwerk gab. Die Einheitsserie, bis 1990 mit 42 Prozent im Wohnungsbau der DDR am weitesten verbreitet, hatte einen großen Vorteil: Sie war wandelbar wie kein anderer Bautyp.

Logisch, dass auch Dresden auf ihn setzte. Platte auf Platte, tief und lang, übers Eck, mit Zwischengliedern, Eingängen von vorn und hinten sowie in Abständen auch mit Durchbrüchen im Erdgeschoss (Anita Maaß „Wohnen in der DDR. Dresden-Prohlis: Wohnungsbaupolitik und Wohnungsbau 1975 bis 1981). Als Grundriss war so einiges möglich, Hauptsache, alles stand eng beieinander. Damit jeder täglich Sonne abbekam, war auch die Lage der Gebäude von Bedeutung. Nicht zuletzt musste das Umfeld mit Kindergarten, Schulen, Kaufhalle & Co. passen. Alles war programmatisch vorgeschrieben. Prohlis machte von 39 möglichen Standorten das Rennen. Viele Arbeitsplätze waren in der Nähe, die Anbindung an den Nahverkehr gut möglich, das Zentrum nicht weit. Und es gab wenige Altbauten, die wurden dann allerdings fast ausnahmslos plattgemacht.

Prohlis, jenes bäuerliche Runddorf mit seinem hübschen Schloss im Zentrum am südöstlichen Stadtrand, von Sorben als Siedlung Prolos wahrscheinlich vor rund tausend Jahren gegründet. Verschlafen, gesäumt von duftenden Obstwiesen, Ackerflächen und Kleingärten. Vorm Spatenstich vor genau 40 Jahren für Dresdens damals größtes Wohngebiet – bekanntlich legte Gorbitz später noch ein paar Blöcke drauf – galt das Örtchen als der am vollständigsten erhaltene Dorfkern der Stadt (Dresdner Geschichtsbuch, Band 4).

Dann kamen die Abrissbirnen

Zehn Jahre später war Alt-Prohlis Geschichte. Was der Zweite Weltkrieg nicht geschafft hatte, holten Bagger und Abrissbirnen in ihrer erbarmungslosen Effektivität nach. Und es kamen Kräne. Am 26. Februar 1976 versammelte sich an der Trattendorfer Straße eine Gruppe Amtsträger. Piekfein im Anzug, zumindest aber mit schicker Arbeitskleidung. Alle, Männer und Frauen, mit obligatorischen Baustellen-Schutzhelmen auf dem Kopf. Der Grundstein wurde gelegt, die Montage begann („Prohlis. Aus der Geschichte eines Dresdner Stadtteils“). Die Blöcke wuchsen, auch wenn der Straßenbau nicht Schritt halten konnte. Vieles spielte sich für die ersten Bewohner, besonders wenn sie Kinder waren, erst einmal sprichwörtlich im Schlamm ab. Ein Problem im Übrigen, das es später auch beim Bau von Neu-Gorbitz geben sollte.

Das Bautempo war dagegen rasant. Bereits im Oktober vor 40 Jahren konnten die ersten Wohnungen bezogen werden – und sogar die erste Schule, die 118. POS, öffnete nach den Herbstferien. Die Nachfrage war riesig. Selbst bekannte Dresdner bevorzugten die „Platte“. Dynamo-Idol Jörg Stübner oder Schlagersänger Olaf Berger sind nur zwei Beispiele. Es dauerte gerade einmal fünf Jahre, bis die vier Bauabschnitte im 140 Hektar-Gebiet fertig waren. Fast 11 000 Wohnungen für rund 30 000 Neu-Prohliser. Es gab neun 17-, 26 Zehn- und 102 Sechsgeschosser. Verteilt zwischen der Niedersedlitzer und der Dohnaer Straße, dazu die „Sternhäuser“ an der Windmühlenstraße und der Bereich in Altreick. Den Löwenanteil machten mit fast 40 Prozent Dreiraumwohnungen aus. Die Prohliser schätzten den für damalige Verhältnisse hohen Komfort mit Bad inklusive Wanne, Innen-WC und Fernwärmeheizung.

Herzstück sollte die Prohliser Allee werden. Als grüne Promenade, fast einen Kilometer lange Flaniermeile mit Ladenzeile und Ausflugslokalen. Doch wie so vieles, blieb auch dies planerische Träumerei. Die Realität sah anders aus. Ein großspurig versprochenes Zentrum am Otto-Grotewohl-, dem heutigen Jacob-Winter-Platz, blieb bis heute Wunschdenken. Es fehlte an Material und Technik. Aus einem Kaufhaus wurde doch nur die „Speziell“-Kaufhalle. Erst 1987 entstand daneben das „Magnet“, welches nach der Wende zum Ortsteilzentrum ausgebaut wurde. Was es gab, war ein Ambulatorium und eine Poliklinik, auch ein großes Feierabendheim. Neben fünf Kaufhallen waren nur drei Lokale vorhanden, die Gaststätte „Stern“ ab 1977, das „Café Spree“ (1978) und die Eisdiele „Espresso“ (1981). Die Jugendlichen mussten sich einen Klub teilen, Kunstinteressierte hatten ihre „Galerie-Süd“. Ansonsten herrschte viel Tristesse. Wer ins Kino oder ins Theater wollte, musste ins Stadtzentrum fahren. Ab 1981 war das allerdings kein Problem mehr, weil das Neubaugebiet seitdem an das Straßenbahnnetz angebunden war.

Nirgendwo sonst solche Initiativen

Die Bewohner nahmen vieles selbst in die Hand. Nirgendwo sonst in der DDR wurden mehr Freiflächen durch Bevölkerungsinitiativen geschaffen als in Prohlis. Irgendwie musste der Mangel an Spiel- und Trockenplätzen in den Höfen ausgeglichen werden. Nach und nach wurden die Fahrbahnen und Fußwege fertig gebaut. Die Zeiten, als die Menschen durch den Matsch zur Haltestelle wateten, dort ihre Gumm-stiefel auszogen, um sie bis zum Abend stehen zu lassen, und anschließend in die geputzten Arbeitsschuhe schlüpften, waren vorbei. Fortan lebten die Prohliser überwiegend in Straßen mit Ortsnamen aus dem damaligen Bezirk Cottbus: Gubener, Vetschauer, Lübbenauer, Trattendorfer, Berzdorfer, Herzberger, Boxberger, Spremberger, Senftenberger und Elsterwerdaer.

„Ab dem Jahr 1990 entwickelte sich Dresden-Prohlis plötzlich ganz anders. Die Wohnbauten, das Wohnumfeld und die Infrastruktur verbesserten sich. Die soziale Durchmischung des Wohngebietes nahm jedoch rapide ab. Daher bildete sich das Image einer sozial benachteiligten ,Plattensiedlung‘ heraus“, schrieb Anita Maaß in ihrer Magisterarbeit. Zehn Jahre ist das her, wirklich verbessert hat sich der Ruf nicht.