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Protokoll einer Abschiebung

Eine abgelehnte Asylbewerberfamilie muss zurück nach Tschetschenien – ein Auftrag für die dritte Einsatzgruppe.

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© Gernot Menzel

Von Jana Ulbrich

Sechs Uhr morgens in der Polizeidirektion: „Landabschiebung“ lautet der Auftrag für Polizeikommissar Mario Meißner und die dritte Einsatzgruppe. Sie sollen eine siebenköpfige Familie aus ihrer Wohnung in Bernsdorf holen und bis elf Uhr an die Beamten der Bundespolizei in Görlitz übergeben. Die Familie hat kein Asylrecht. Sie muss zurück nach Tschetschenien. Ein Routine-Auftrag für Gruppenführer Meißner und seine Kollegen vom Einsatzzug der Görlitzer Polizeidirektion.

Die Neunjährige und ihr Bruder werden heute in der Schule fehlen. Die Ranzen der Kinder stehen bereit, um in eines der beiden zivilen Polizeifahrzeuge geladen zu werden, die die Familie zum Grenzübergang nach Görlitz bringen werden.
Die Neunjährige und ihr Bruder werden heute in der Schule fehlen. Die Ranzen der Kinder stehen bereit, um in eines der beiden zivilen Polizeifahrzeuge geladen zu werden, die die Familie zum Grenzübergang nach Görlitz bringen werden. © Gernot Menzel

Die Polizisten wissen nicht, was sie bei diesem Einsatz heute erwartet. Wird die Familie da sein? Wird sie Widerstand leisten? Wird es Probleme geben? Mario Meißner weist die Kollegen ein: Mutter, 26 Jahre alt; Vater, 31 Jahre; Tochter, neun Jahre; vier Söhne – sieben, fünf, drei und ein Jahr alt. Die kleinen Kinder machen es wahrscheinlicher, dass die Familie zu Hause ist, wenn die Beamten in einer knappen Stunde unverhofft an der Wohnungstür klingeln. Die Kollegen schnallen fünf Kindersitze in zwei dunkelblaue Mercedes Vito. Dann machen sich sieben Polizeibeamte mit den beiden zivilen Einsatzfahrzeugen und einem Streifenwagen auf den Weg nach Bernsdorf.

Sieben Uhr, Bernsdorf. Über der gepflegten Wohnblocksiedlung ist gerade die Sonne aufgegangen. Die Beamten formieren sich wie bei jedem Einsatz dieser Art: Zwei sichern die Rückseite des Hauses, zwei die vordere, drei nehmen zügig die halbe Treppe bis zur Wohnungstür im Parterre. Die Familie weiß, dass sie das Land verlassen muss. Sie hat von der Zentralen Ausländerbehörde in Chemnitz ein Schreiben bekommen und auch eine Frist. Das junge Paar weiß, wenn es innerhalb der Frist nicht freiwillig ausreist, dann kommt die Polizei. Es weiß nicht, dass Mario Meißner in diesem Moment an der Tür klingelt.

„Guten Morgen, hier ist die Polizei“, sagt er so freundlich wie möglich, als die junge Frau öffnet. „Sie wissen doch, warum wir da sind?“ Die junge Frau sieht die Beamten mit weit aufgerissenen Augen an. Sie schluckt und nickt: „Bitte, drei Minuten“, sagt sie. „Bitte, halbe Stunde.“ Sie und ihr Mann haben damit gerechnet, dass die Abschiebung jeden Tag kommen kann. Vielleicht hat ihnen ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde auch gesagt, dass es heute so weit ist. Im Flur der frisch renovierten Wohnung stehen schon zwei gepackte Koffer. Der Dreijährige fängt zu schreien an, als er die drei uniformierten Polizisten vor der Tür sieht. Die junge Beamtin, die einzige Frau in der Einsatzgruppe, lächelt ihn freundlich an. Der Kleine lächelt vorsichtig zurück. Seine Mutter versucht, nicht zu weinen. Die Kinder sollen nicht noch mehr Angst bekommen.

Sie hat sich geschminkt und ein schönes Tuch um den Kopf geschlungen, sie trägt einen langen Rock, ihre nackten Füße stecken in Badepantoletten. Die Familie ist erst vor kurzem aus dem Asylbewerberheim in Bischofswerda in die eigene Wohnung gezogen. Die Neunjährige und der Siebenjährige gehen in die Bernsdorfer Grundschule, besser: Sie gingen.

7.30 Uhr: Schweigend trägt der Vater zwei Koffer und ein paar eilig vollgestopfte Plastiktüten an den Beamten vorbei. Er vermeidet es, ihnen in die Augen zu sehen. Auch er kämpft mit den Tränen. Es fällt kein einziges Wort. Die Kinder stehen im Flur und starren. Ob sie wissen, was gerade geschieht? „Du musst keine Angst haben“, versucht die junge Beamtin die Neunjährige zu beruhigen. „Habe ich keine“, sagt das Mädchen auf Deutsch. Langsam zieht es sich seine Stiefeln und die Jacke an. Wie in Zeitlupe.

Der Fünfjährige, der wohl gerade am Frühstückstisch gesessen hat, als es klingelt, hält ein geschmiertes Brötchen in der Hand. Er isst nicht weiter. Er hält das Brötchen die ganze Zeit. Ein Hausbewohner von weiter oben bahnt sich an den Beamten im Hausflur vorbei den Weg zum Briefkasten. „Da ist ja jetzt wieder Ruhe hier“, murmelt er. Eine andere Asylbewerberin aus dem Nachbarhaus hat mitbekommen, dass die Polizei da ist. Sie kommt mit ihrem Sohn vorbei, die Jungs hier sind seine Freunde. Die Nachbarin holt ab, was die Familie nicht mitnehmen kann: den Staubsauger, ein paar Kleidungstücke, Zwiebeln, Kartoffeln. Ihr Sohn steht draußen vor der Tür und schluchzt. Die Kinder der Familie weinen nicht mehr. Sie sind ganz still.

Die Polizeibeamten wirken bedrückt. „Das hier ist kein schöner Job“, sagt einer von ihnen leise. Aber es ist zumindest einfach heute. So reibungslos verläuft eine Abschiebung selten. Die Familie ist gefasst und leistet keinen Widerstand. Da erleben die Beamten oft ganz anderes. Vor allem, wenn sie junge Männer aus Gemeinschaftsunterkünften holen müssen. Sie sind oft betrunken, sie wehren sich mit allen Mitteln, Mitbewohner rotten sich um sie zusammen. Da reichen manchmal sieben Beamte für einen nicht.

Oder der Abzuschiebende ist weg. Irgendwo untergetaucht. Oder einer aus der Familie ist weg, so dass die ganze Familie nicht abgeschoben werden kann. Von den 424 Einsätzen zur Abschiebung oder Auslieferung, die die Görlitzer Polizeibeamten in den Kreisen Bautzen und Görlitz in diesem Jahr hatten, konnten sie nur 293 tatsächlich realisieren, im Oktober 29 von 38.

8 Uhr. Schweigend lassen sich die Eltern und die Kinder auf die beiden Vitos verteilen. Die Polizeibeamten haben sie immer im Auge. Nicht, dass womöglich noch einer türmt. Aber was sollte das bringen? Der Mann will wissen, ob es seiner Frau und den Kindern im anderen Auto gut geht. Gruppenleiter Mario Meißner geht noch einmal durch die Wohnung, schließt ein Fenster, dreht die Heizung ab. Dann fährt der kleine Konvoi los. Hinter einigen Fenstern schauen die Nachbarn.

9 Uhr, Görlitz. Der kleine Konvoi hält am Grenzübergang Stadtbrücke. Für Mario Meißner und seine Einsatzgruppe ist der Auftrag erledigt: Sieben Personen zur Abschiebung an die Bundespolizei übergeben. Ende. Die Bundespolizisten werden die Familie an die Kollegen der polnischen Grenzpolizei übergeben. Über Polen werden sie dann irgendwie weiter bis nach Tschetschenien gebracht. Wie, das wissen die Görlitzer Beamten nicht. Das ist jetzt Sache der Kollegen in Polen. Die Eltern und ihre Kinder sagen immer noch kein Wort. Die junge Polizeibeamtin spielt mit dem Baby, bis die polnischen Kollegen zur Übergabe kommen. Die Mutter steht immer noch barfuß in Badepantoletten. Auf ein Wort