Radeberg
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Taubblinde Radebergerin: "Ich bin wieder im Leben angekommen"

Als Irena Michalak ihren Mann verlor, verlor sie auch ihre Eigenständigkeit. Doch nun wird die taubblinde Frau vom Radeberger Taubblindendienst betreut - und ist so glücklich wie lange nicht mehr.

Von Verena Belzer
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Irena Michalak ist taubblind. Seit ihrem Umzug von Brandenburg nach Radeberg hat sie sich wieder ein Stück Selbstständigkeit zurückerobert.
Irena Michalak ist taubblind. Seit ihrem Umzug von Brandenburg nach Radeberg hat sie sich wieder ein Stück Selbstständigkeit zurückerobert. © Marion Doering

Radeberg. "Mein Mann war mein Fels in der Brandung", sagt Irena Michalak. "Doch als er vor fünf Jahren gestorben ist, wusste ich nicht, was aus mir wird. Da bin ich in ein tiefes Loch gefallen." 48 Jahre waren die beiden verheiratet, die goldene Hochzeit bereits organisiert. Dann kam der Krebs. Innerhalb weniger Wochen war Irena Michalak auf sich alleine gestellt.

Und was für alle hinterbliebenen Partner eine riesige Herausforderung ist - das Leben von nun an alleine meistern zu müssen -, war für Irena Michalak fast unmöglich. Denn Irena Michalak ist taubblind. Die Brandenburgerin wurde mit einer Schwerhörigkeit geboren, die Seheinschränkung entwickelte sich erst im Erwachsenenalter. Usher-Syndrom Typ 2 nennen Fachleute die Krankheit.

Die Hörbeeinträchtigung beruht dabei im Wesentlichen auf einer Schädigung der Haarzellen in der Schnecke des Innenohres. Wenn ihr Hörgerät gut funktioniert und laut und langsam gesprochen wird, dann versteht Irena Michalak Lautsprache. "Wenn jedoch viele Menschen in einem geschlossenen Raum sprechen, dann verstehe ich gar nichts mehr", sagt Michalak.

Die Blindheit kam schleichend

Die heute 73-Jährige war etwa 40 Jahre alt, als langsam auch das Sehen schlechter wurde. "Erst wurde ich nachtblind", erzählt sie. "Dann wurde das Gesichtsfeld immer enger, sodass ich irgendwann nicht mehr Autofahren konnte."

Schleichend sah sie immer weniger, inzwischen ist nur noch ein winziger Sehrest übriggeblieben, Irena Michalak erkennt Schatten und Umrisse. "Das Ganze endet mit der Blindheit, das ist klar." Dann kam der nächste Schicksalsschlag.

"Ich war im Schockzustand, als mein Mann gestorben ist", erinnert sich Irena Michalak. Er war sehend und hörend und hatte sich um alles gekümmert. Früher, als Michalak noch gut sehen konnte, arbeitete sie erst als Dekorateurin in einem Kaufhaus, nach der Wende als Verkäuferin. Mit Mitte 50 wurde sie erwerbsunfähig und ging in Rente. Ihr Mann und sie machten sich ein schönes Leben, hatten einen großen Freundeskreis, fuhren in den Urlaub.

"Ich wollte mein eigenständiges Leben wiederhaben"

"Doch als er nicht mehr da war, war mir klar, dass ich alleine nicht weit kommen würde", sagt Michalak. "Ich wollte mein eigenständiges Leben wiederhaben." Zwei besonders gute Freunde und ihre Schwester halfen ihr bei allem, was nötig wurde. "Mein Mann ist so unerwartet und schnell gestorben, es war nichts geregelt."

Doch immer die Freunde um Hilfe fragen müssen, das wollte sie auch nicht. "Es war klar, dass irgendetwas passieren muss." Es stand im Raum, zu ihrer Tochter in den Süden zu ziehen, doch auch dort wäre es schwer für Irena Michalak geworden. Als sie von einer Ärztin auf den Taubblindendienst in Radeberg aufmerksam gemacht wurde, veränderte das ihr Leben.

Nach dem Probewohnen folgte der Umzug nach Radeberg

"Meine Selbstständigkeit ist mir sehr wichtig, ich möchte im Alltag nicht auf fremde Hilfe angewiesen sein", sagt Michalak. Nach einem Kurzurlaub und einem dreiwöchigen Probewohnen beim Taubblindendienst, bei dem sie die Einrichtung kennenlernen konnte, stand die Entscheidung fest: Irena Michalak zog von Brandenburg nach Radeberg.

"Ich habe hier die Möglichkeit bekommen, das Leben der taubblinden Menschen kennenzulernen. Den wunderschönen Blindengarten, die Beschäftigungsräume, das leckere Essen. Und die Betreuer, die sich immer herzlich um uns gekümmert haben. Das hat mich sehr beeindruckt." Sie habe sich von Anfang an hier gut aufgenommen gefühlt, "ich vermisse nichts", sagt sie. "Daheim wäre ich irgendwann vereinsamt."

Irena Michalak wohnt nun in ihrer eigenen Wohnung, in der sie sich um all das kümmert, dass sie noch selbst schafft. "Ich wasche, putze die Wohnung, mache mir Frühstück und Abendessen." Bei anderen Dingen des Alltags, bei Arztbesuchen oder beim Ausfüllen von Formularen, bekommt sie Unterstützung von einer Betreuerin.

"Ich habe ein neues Leben hier"

Tagsüber ist die rüstige Frau beim Taubblindendienst. "Hier ist mir nicht mehr langweilig. Ich muss nicht mehr den ganzen Tag allein zu Hause herumsitzen und auf Besuch warten, sondern kann täglich in die Beschäftigung gehen", erzählt sie. "Besonders gut gefällt mir das Besticken von Karten, das Knoten von Blumenampeln mit der Makramée-Technik und das Gestalten von Gestecken, passend zur Jahreszeit."

Ausdrücklich lobt sie auch das Essen. "Drei Gänge, jeden Tag!" Spaziergänge im Blindengarten, ausgedehnte Ausflüge mit der Begleitung in der Umgebung, Kontakt zu anderen Taubblinden - "ich habe ein neues Leben hier".

Sie sei ein positiver Mensch, sagt Irena Michalak über sich selbst. "Es gibt immer auch mal schlechte Tage, aber mir fehlt es hier an nichts." Momentan sei sie damit beschäftigt, das Lormen-Alphabet zu lernen, um noch besser mit den anderen Taubblinden kommunizieren zu können.

Denn taubblind ist nicht gleich taubblind: Der Personenkreis ist sehr heterogen. "Zum einen hängt das davon ab, welche Sinnesbehinderung in welcher Ausprägung am Beginn des Lebens und am Beginn des Spracherwerbs vorhanden war", erklärt Ulrike Fourestier, Geschäftsführerin des Radeberger Taubblindendienst.

Unterschiedliche Kommunikation in Gebärden

"So nutzen Menschen, die in der Gebärdensprachkultur sozialisiert sind, wenn die Erblindung zunimmt, gern die taktile Gebärde." Personen hingegen, die noch ein Resthören haben, blieben lautsprachlich orientiert. "Wenn das Hören dann nicht mehr möglich ist, ist das Handalphabet, das 'Lormen' eine hilfreiche Kommunikationsform."

Auch sei es sehr individuell, wie stark die Sinnesbehinderungen ausgeprägt sind. "In der Fachwelt sagen wir, dass eine Person taubblind ist, wenn die Einschränkung des zweiten Sinnes, den Verlust oder die Einschränkung des ersten Sinnes nicht mehr ausgleichen kann", erklärt Fourestier.

Irena Michalak lädt sich an den Wochenende öfter mal andere Frauen zum Kaffeetrinken in ihre Wohnung, die wie sie dank eines Hörgeräts noch einigermaßen gut hören können. "Der Kontakt mit den anderen, das liegt mir sehr am Herzen", erzählt sie.

Über Weihnachten war ihre Tochter mit dem Enkel zu Besuch in Radeberg. Wenn sie dann über den Weihnachtsmarkt auf Schloss Wackerbarth schlenderten, dann war ihr Blindenstock dabei. "Aber die gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten, die trage ich nicht. Dafür bin ich noch zu stolz", sagt sie und schmunzelt.