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Abschied von OB Lemm: Ein Arbeitsleben wird verräumt

Nach 28 Jahren verlässt Radebergs Oberbürgermeister Gerhard Lemm sein Büro im Rathaus. Wie es ist, nach so langer Zeit Abschied zu nehmen, und was er mitnimmt. Ein Besuch.

Von Verena Belzer
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Bürgermeister Gerhard Lemm packt nach 28 Jahren seine Kisten. In der Hand hält er etliche Kippas, die er zum Neujahrsempfang 2020 als Zeichen gegen Antisemitismus verteilt hatte.
Bürgermeister Gerhard Lemm packt nach 28 Jahren seine Kisten. In der Hand hält er etliche Kippas, die er zum Neujahrsempfang 2020 als Zeichen gegen Antisemitismus verteilt hatte. © Marion Doering

Radeberg. 28. Jahre. Das sind 336 Monate. Über 10.000 Tage. Und, selbst wenn man Urlaub, Feiertage und Wochenenden abzieht, ist das immer noch: sehr, sehr viel Lebenszeit, die Gerhard Lemm (SPD) hier verbracht hat. Hier, das ist sein etwa 50 Quadratmeter großes Büro hoch oben im Rathaus, mit Blick auf den Markt. Das selbstbestimmte Ende seiner Amtszeit rückt mit großen Schritten näher, bald übernimmt sein Nachfolger Frank Höhme die Geschäfte. Gerhard Lemm packt seine Kisten, sortiert und schreddert Akten und räumt persönliche Gegenstände ein. In Erinnerungen schwelgen ist derweil nicht so sein Ding.

Einiges hat sich in den fast 30 Jahren angesammelt in diesem Chefbüro, das auf den ersten Blick zwar geräumig und groß, aber wenig modern anmutet. Die holzvertäfelten Einbauschränke an der Rückwand, die hellen Jalousien an den Fenstern, die Holzstäbe vor den Heizungen: Es weht ein wenig 50er-Jahre-Charme durch diesen Raum. In einem Eck versteckt sich ein Waschbecken samt Spiegel hinter einer Tür. "Typisch DDR", sagt der 62-Jährige und lacht. "Hier in dem Raum hat schon der sowjetische Stadtkommandant gesessen." Er hätte es lieber ein wenig kleiner und dafür moderner bevorzugt, gibt er zu. Aber Lemm ist Pragmatiker: Das Büro sei nun mal so gewesen, wie es ist. Basta. Er hat sich damit arrangiert.

Sesselgarnituren vom Möbelhaus zum Amtsantritt

Als der Mönchengladbacher das Büro vor 28 Jahren bezog, war er 35 Jahre jung und frisch gewählter Bürgermeister Radebergs. So richtig frisch war das Büro damals allerdings nicht. "Akten über Akten", erinnert sich Lemm Jahrzehnte später. Sein Vorgänger habe sich von vielen Vorgängen Kopien gezogen und abgelegt. Mit seinem Einzug seien die ebenso wie ein großes Regal direkt hinter dem Schreibtisch verschwunden.

Außerdem habe er ein kleines Budget für neue Möbel zur Verfügung bestellt bekommen. "Weil die Büromöbelausstatter aber so teuer waren, sind wir einfach ins nächstbeste Möbelhaus gefahren." Und so stehen seitdem zwei Ledersessel-Garnituren in seinem Büro. Eine samt Holztisch für größere, eine samt Glastisch für kleinere Besprechungen.

Eine Bar in Form eines Globus ist der Hingucker schlechthin in dem ansonsten eher schlichten und schmucklosen Bürgermeisterbüro.
Eine Bar in Form eines Globus ist der Hingucker schlechthin in dem ansonsten eher schlichten und schmucklosen Bürgermeisterbüro. © Marion Doering
Ein herzliches Geschenk aus der Partnerstadt Garching: 25 Jahre Deutsche Einheit - 25 Jahre Freundschaft.
Ein herzliches Geschenk aus der Partnerstadt Garching: 25 Jahre Deutsche Einheit - 25 Jahre Freundschaft. © Marion Doering
Ein goldener Zimmermannshammer: Erinnerungen an zahlreiche Bauprojekte.
Ein goldener Zimmermannshammer: Erinnerungen an zahlreiche Bauprojekte. © Marion Doering
Ein Foto aus alten Zeiten: 1999 wurden Großerkmannsdorf und Ullersdorf eingemeindet, hier unterzeichnen die Beteiligten die Verträge, in der Mitte Gerhard Lemm.
Ein Foto aus alten Zeiten: 1999 wurden Großerkmannsdorf und Ullersdorf eingemeindet, hier unterzeichnen die Beteiligten die Verträge, in der Mitte Gerhard Lemm. © Marion Doering
Vase und Aschenbecher aus böhmischem Kristall: ein Geschenk der tschechischen Partnerstadt Neratovice. Das Rauchen hat Gerhard Lemm jedoch schon lange aufgegeben.
Vase und Aschenbecher aus böhmischem Kristall: ein Geschenk der tschechischen Partnerstadt Neratovice. Das Rauchen hat Gerhard Lemm jedoch schon lange aufgegeben. © Marion Doering

Der Hingucker ist eine Bar

Der einzige echte Hingucker in diesem Büro ist aber kein Stuhl und auch kein Tisch, sondern eine Bar. Ein altertümlicher Globus thront da über Spirituosen aller Art. "Das ist eines der wenigen Teile, die ich selbst gekauft habe und deshalb auch mit nach Hause nehmen werde", erklärt der Noch-OB. Seit über 20 Jahren stehe die Bar nun hier, sei aber mehr Deko als Nutzungsobjekt gewesen. "Dem ein oder anderen habe ich aber schon ein Glas angeboten. Und so mancher hat auch dankend angenommen."

Ebenfalls in die Nach-Hause-Kiste kommt eine kleine Kapselkaffeemaschine. "Damit ich nicht immer die Sekretärinnen behelligen musste", erklärt Gerhard Lemm. An manchen Tagen trinke er schon vier bis fünf Tassen, immer mit Milch und Zucker. Apropos Sekretärinnen: Sein Büro hat neben der Haupttür noch eine zweite Tür in Richtung Flur. Um sich an den Vorzimmerdamen vorbei raus aus dem Büro zu schleichen? "Das habe ich mich auch immer gefragt", sagt Lemm und lacht. "Ich habe diese Tür jedenfalls nie benutzt."

Herzen aus Garching, Kristall aus Tschechien

Die Wände in Gerhard Lemms Büro sind ein buntes Sammelsurium: Am auffälligsten ist wohl der große, bunte Flächennutzungsplan direkt hinter seinem Schreibtisch. Wahrscheinlich muss man mit Leib und Seele Oberbürgermeister sein, um sich eine solche Karte aufzuhängen - und 28 Jahre Amtszeit zeugen von dieser Leidenschaft für den Beruf. Eine alte Fotografie zeigt die feierliche Unterzeichnung der Eingemeindung von Großerkmannsdorf und Ullersdorf aus dem Jahr 1999, direkt daneben hängt Lemms Ehrendiplom des Radeberger Karnevalvereins.

Luftbilder der Stadt, das eine oder andere Kunstwerk, ein gerahmtes Dankesschreiben, ein goldener Zimmermannshammer: Es hat sich einiges angehäuft. Vieles sind auch Geschenke aus Radebergs Partnerstädten. Ein großes Lebkuchenherz von den Freunden aus Garching ziert den Spruch "25 Jahre Deutsche Einheit - 25 Jahre Freundschaft". Böhmisches Kristall schmückt den kleinen Glastisch. "Alles Dinge, die hier bleiben", stellt Lemm klar.

Die Kippas jedoch kommen mit. "Die habe ich zum Neujahrsempfang 2020 verteilt." Selbst der stellvertretende Ministerpräsident, sein Parteifreund Martin Dulig, habe eine aufgesetzt, erinnert sich Lemm. "Ich wollte damals ein Zeichen gegen den wachsenden Antisemitismus setzen."

Seinem Büro wird er keine Träne nachweinen

Und nun? Wie fühlt es sich an, diesen Raum nach so vielen Jahren endgültig zu verlassen? Immerhin hat der OB hier nach eigener Aussage oft mehr Zeit als zu Hause verbracht. Noch ist er da, ist Ansprechpartner für seine Mitarbeiter und die Bevölkerung. Aber das Büro wird sukzessive leerer, einige Kisten stehen schon prall gefüllt zum Abtransport bereit. Gerhard Lemm winkt ab. "Klar, Erinnerungen gibt es viele", aber dem Raum an sich werde er keine Träne nachweinen. "Dann mache ich die Tür zu und sage 'Das war's dann halt'."

Das Gefühl, etwas gerade zum letzten Mal zu machen, habe er momentan ständig. "Die letzte Ausschusssitzung, am kommenden Mittwoch der letzte Stadtrat und so weiter." Es sei seine Entscheidung gewesen aufzuhören, und das sei auch gut so. Er ertappe sich ab und an dabei über Dinge nachzudenken, die im Grunde sein Nachfolger Frank Höhme zu entscheiden habe. "Man muss das Arbeiten bewusst stoppen", sagt er und verräumt weiter sein Büro in Kisten.