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„Regeln gelten als uncool“

Früh aufstehen, still sitzen - mit dem Schulbeginn ändert sich für Erstklässler so manches. Am schwersten fällt den ABC-Schützen heutzutage aber eines, sagt der Dresdner Professor Veit Roessner: Regeln einzuhalten.

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© dpa

Dresden. Viele Kinder stehen schon in der Grundschule unter Druck oder können sich nur schwer in den Schulalltag integrieren. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Dresdner Uniklinik werden immer mehr Schulkinder behandelt. Daran hätten auch die Eltern ihren Anteil, sagt der Dresdner Medizinprofessor Veit Roessner im Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Wie können Eltern den Schulanfang am besten gestalten?

Eine Feier, Schultüte - den Schulanfang besonders zu begehen ist durchaus sinnvoll, damit das Kind in diese neuen Lebensphase stolz und motiviert startet. Aber Eltern sollten den Schulanfang unbedingt mit einer positiven Note versehen und keinen Leistungsdruck aufbauen. Sprüche wie „Bald beginnt der Ernst des Lebens“ kann man spaßhaft sagen - wenn es das Kind verkraftet. Aber manche Kinder können dadurch Ängste entwickeln, die gar nicht sein müssen.

Was sind die größten Fehler?

Druck aufbauen, eigene Ängste ausstrahlen und diese auf das Kind übertragen. Zum Beispiel, das, was man eigentlich selbst gern gemacht hätte, mitzugeben nach dem Motto: Mein Kind soll es einmal besser haben. Oder ich bin vielleicht nicht so besonders, aber mein Kind ist dafür auf jeden Fall hochbegabt.

Sind Kinder heute im Grundschulalter mehr Druck ausgesetzt?

Ja, daran haben aber nicht nur Eltern ihren Anteil, sondern auch die gesellschaftliche Entwicklung. Auch über die Medien bekommen Kinder heute schon viel mehr Informationen, die eigentlich noch gar nicht für sie bestimmt sind. Hinzu kommt, dass es keinen einfachen und sicheren Berufsweg mehr gibt. Die Welt ist mobiler geworden, der internationale Konkurrenzkampf ist groß. Das kommt schon bei den Kindern an - über Eltern, Gleichaltrige, Verwandte und Medien.

Was fällt ABC-Schützen am schwersten?

Heutzutage steht das Individuelle bei der Erziehung oft im Vordergrund. Regeln einzuhalten, sich zurückzunehmen wird heute von vielen als spießig und uncool angesehen. Gleiches gilt für das Beibringen von Regeln. Sowohl Erstklässler als auch die größeren Schüler lernen schon gar nicht mehr ausreichend, wie man sich im Schulalltag - hinsichtlich der Leistungen als auch im Umgang mit Gleichaltrigen - benimmt. Das Kind an die Hand zu nehmen und ihm altersgerecht Sachen beibringen, wird immer weniger. Dafür rücken andere Sachen in den Vordergrund.

Zum Beispiel?

Viele fangen etwa schon sehr zeitig mit Ergo- oder Logopädie an. Da ist die Frage: Unterschiedliche Entwicklungsstufen sind normal, kann man nicht erst einmal abwarten und sagen, dass wird sich schon noch entwickeln? Dagegen gehen Basics wie Ordnung halten, seinen Tag zu strukturieren und entsprechende Umgangsformen immer mehr verloren. Unter anderem auch, weil die Eltern eine extreme Arbeitsverdichtung oder selbst Probleme haben, ihren Alltag zu strukturieren. Die Folge: Die Pflicht bekommen viele Kinder schon gar nicht mehr vermittelt und die Kür steht zu sehr im Vordergrund. Die kann aber nicht funktionieren, weil die Pflicht schon nicht klappt. Das sehen wir auch daran, dass wir von Jahr zu Jahr mehr Patienten haben.

Merken Sie den Anstieg auch bei Kindern im Vor- und Grundschulalter?

Gerade im Grundschulalter merken wir das. Zu uns kommen viele Kinder und Jugendliche, wo Schule, Eltern oder ältere Kinder selbst feststellen, dass etwas nicht passt. Da gibt es eine ganz große Bandbreite. Manche sind laut und stören im Unterricht, das geht dann Richtung ADHS und schwieriges Sozialverhalten. Auf der anderen Seite sind viele ängstlich und wollen nicht in die Schule gehen, weil sie etwa gemobbt werden. Sie besitzen wenig Handwerkszeug, um sich durchzusetzen. Darunter sind dann Kinder, die jetzt vor dem neuen Schuljahr zu uns kommen - in der dritten oder vierten Klasse - die eine Schulverweigerung aufbauen oder an Depression leiden. (dpa)