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„Reichsbürger“ fest im Blick

Mehr als 700 von ihnen leben im Freistaat. Erstmals gibt es einen Überblick über die unkalkulierbare Szene.

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© dpa

Thilo Alexe

Dresden. Sie nennen sich „Exilregierung Deutsches Reich“ oder „Bundesstaat Sachsen“ und lehnen Gesetze sowie die Bundesrepublik ab: Mehr als 700 sogenannter Reichsbürger leben in Sachsen. Das geht aus einem Lagebild des Verfassungsschutzes hervor, das Innenminister Markus Ulbig am Dienstag vorstellte. Der CDU-Politiker bescheinigte der Szene „ein hohes Eskalations-, Gewalt- und Mobilisierungspotenzial insbesondere gegen Vollzugsbeamte“. Zudem sei deren Affinität zu Waffen nicht zu unterschätzen.

Im ersten Lagebild für Sachsen nennt der Verfassungsschutz die Zahl von 718 Reichsbürgern und sogenannten Selbstverwaltern. Das Phänomen ist offenbar in ländlichen Regionen stärker ausgeprägt als in städtischen. Die meisten Reichsbürger leben dem Bericht zufolge in Mittelsachsen (120 Personen), dem Vogtlandkreis (98) sowie dem Kreis Bautzen (74).

Zwischen den Jahren 2012 und 2016 verübten Reichsbürger in Sachsen 1 524 Straftaten. Meist handelte es sich um Verkehrsdelikte, Urkundenfälschungen, Beleidigungen und Nötigungen. Der Anteil der Gewaltdelikte lag bei zwei Prozent.

Im Schnitt sind die Reichsbürger in Sachsen 49 Jahre alt und damit deutlich älter als Mitglieder anderer extremistischer Szenen. Knapp ein Viertel und damit mehr als in anderen Bundesländern ist weiblich. 40 sächsische Reichsbürger besitzen eine waffenrechtliche Erlaubnis. Seit Ende 2016 kam es in 13 Fällen zum Widerruf. Sieben Widerrufsverfahren laufen noch.

Der Verfassungsschutz beobachtet die Reichsbürgerszene bundesweit sowie in Sachsen seit rund einem halben Jahr. Vorausgegangen waren mehrere Gewalttaten. Im vergangenen Herbst erschoss ein Reichsbürger in Bayern einen Polizisten und verletzte weitere.

Die Beamten wollten die Waffen des damals 49-Jährigen sicherstellen. In Sachsen-Anhalt kam es bei einer Zwangsräumung bei einem Reichsbürger im August vor einem Jahr zu einer Schießerei mit drei Verletzten. In Sachsen setzten Vertreter eines sogenannten Polizeihilfswerkes 2012 einen Gerichtsvollzieher fest.

Für Ulbig zeigt das Lagebild, „dass wir diese Szene auf dem Radar haben“. Die Regierung nehme die Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ernst. SPD-Innenexperte Albrecht Pallas lehnt Gesetzesverschärfungen ab, fordert aber einen massiven „Verfolgungs- und Vollstreckungsdruck“. Die Linkenabgeordnete Kerstin Köditz kündigt eine Klage vor dem sächsischen Verfassungsgerichtshof an. Sie findet in dem Lagebild Informationen, die ihr auf Anfragen an die Regierung nicht gegeben worden seien.

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