Riesa. Als Herbert Zapf im August 1999 seinen Dienst antritt, hat das Amtsgericht in Riesa gerade einen Umzug hinter sich gebracht. Vom alten Funktionsbau an der Robert-Koch-Straße geht es in die Lauchhammerstraße, in ein früheres Verwaltungsgebäude des Stahlwerks.
Die Liste seiner Vorgänger in knapp zehn Jahren nach der Wende ist lang: Für sie ist Riesa eine Durchgangsstation, keiner bleibt länger als zwei Jahre. Erst mit Herbert Zapf kehrt Kontinuität ein. Seit 25 Jahren ist er nun schon Direktor des Amtsgerichts, an keinem anderen Gericht im Freistaat leitet jemand länger die Geschäfte. Zapf hat vier Riesaer Oberbürgermeister erlebt und sieben Justizminister. Er war in der Zeit in nahezu allen Rechtsbereichen eingesetzt, von den Familiensachen mal abgesehen. Momentan hilft Herbert Zapf mit einem Teil seiner Arbeitskraft in Meißen aus.
Auch baulich hat sich in 25 Jahren einiges geändert. Ein überdimensioniertes Haus neben dem Hauptgebäude ist verschwunden, dafür wurde ein kleinerer Neubau errichtet. Und die Digitalisierung ist am Gericht sowieso in vollem Gang. Viel zu erzählen also für den Chef des Gerichts, das für das Gebiet der Altkreise Riesa und Großenhain zuständig ist.
Herr Zapf, Hand aufs Herz: 25 Jahre an ein und demselben Gericht - wird das einem nicht irgendwann langweilig?
Mir war in meinem Berufsleben noch keinen Tag langweilig. Natürlich sind die meisten Dinge an den Amtsgerichten nicht so spektakulär, wie vielleicht ein Mord, der die ganze Nation beschäftigt oder Verfahren aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, wie große Autoschieber- oder Drogenbanden, die sich vor Gericht verantworten müssen. Aber bei den Amtsgerichten wird das verhandelt, was den Normalbürger einfach jeden Tag beschäftigt. Das Aufgabengebiet deckt fast das ganze menschliche Leben ab, von Familien- und Kindschaftssachen, zivilrechtlichen Streitigkeiten, Straftaten Erwachsener und Jugendlicher, Betreuungs- und Nachlasssachen bis zu Zwangsvollstreckungs- und Grundbuchsachen. Das ist schon ein enorm breites Betätigungsfeld, das die Amtsgerichte zu bewältigen haben und die Arbeit bunt macht.
Was war denn eigentlich der Grund fürs Jura-Studium bei Ihnen?
Mein Vater war in Bayern als Jurist in der Bezirksfinanzdirektion angestellt, das wäre hier in Sachsen vergleichbar mit dem Landesamt für Steuern und Finanzen. Das Aufgabengebiet hat mich von Anfang an interessiert. Mit den üblichen Krisen im Studium habe ich das auch erfolgreich durchgezogen.
Diese Krisen dürfte mancher Jura-Student nur zu gut kennen …
Bei mir ging das bis dahin, dass ich in Siena auf einer Kirchentreppe saß und dachte: Jetzt bleibst du hier und studierst Kunstgeschichte. (lacht)
So kam es dann doch nicht. Sie blieben dabei und sind in der Nachwendezeit nach Sachsen gekommen.
Genau! Ich war zunächst von 1989 bis 1990 in Würzburg als Rechtsanwalt beschäftigt, bevor ich dort Staatsanwalt wurde.
Warum sind Sie denn in den Staatsdienst gewechselt?
Ich hatte mich ein Jahr lang mit einem einzigen Verfahren befasst. Es ging um ein Heizkraftwerk in Wuppertal. Da war ich so tief drin, dass ich das fast hätte selber konstruieren können. Mein Zimmer sah aus wie ein Ingenieurbüro. Ich war hoch motiviert, das Verfahren auch zu gewinnen. Jedenfalls kam ich dann mit dem Geschäftsführer unserer Mandantin in den Gerichtssaal. Die Kammer betrat den Gerichtssaal und der Vorsitzende kam sofort zur Sache. Er sprach die Geschäftsführer der Parteien an: "Meine Herren, es ist Frühjahr, sie wollen bauen. Wir machen jetzt Halbe-Halbe und dann ist gut!" Ein Jahr Arbeit! Da war ich so frustriert, dass ich mir sagte: Das willst du nicht noch einmal haben. Also rief ich im Ministerium an und fragte nach einem Wechsel in den Staatsdienst.
Dann kam die Wende und der Ruf nach Sachsen?
Genau. Als junger Mann fand ich das interessant und habe mich gemeldet. Ich war dann erst nach Zwickau abgeordnet und bin später in den sächsischen Dienst übergetreten. Das war eine sehr interessante und auch "wilde" Zeit. Die staatlichen Strukturen waren erst im Aufbau. Und ja, für einen jungen Menschen war das schon auch ein Abenteuer. Aber ich bin immer auf freundlich gesonnene Menschen gestoßen, hab in Plauen auch meine Frau kennengelernt und bin längst hier verwurzelt.
1999 kamen Sie dann nach Riesa. Was war hier denn damals anders?
Das war damals hier im Gericht ein junger Personalkörper, der auch wesentlich großzügiger besetzt war. Wir waren etwa 75 Mitarbeiter. Die Aufgaben sind annähernd gleich geblieben, im Amtsgericht Riesa sind noch 50 Menschen beschäftigt. Diese Arbeitsverdichtung ist schon sehr spürbar. Mittlerweile sind wir älter geworden, aber natürlich auch viele junge Mitarbeiter dazugekommen.
Mit welcher Art von Fällen musste sich das Amtsgericht denn damals beschäftigen?
Von der Klientel im Strafrecht haben noch junge Aussiedler aus der Russischen Föderation eine große Rolle gespielt, die damals noch erhebliche Probleme hatten, sich hier sozial zu integrieren. Von denen ist heute nichts mehr zu bemerken. Drogen haben immer eine große Rolle gespielt, wobei eben die Drogen andere waren als heute. Crystal kannte man noch nicht.
Was ist heute anders?
Was jetzt im Zusammenhang mit dem Internet eine immer größere Rolle gespielt hat, sind diese ganzen kinderpornografischen Delikte. Die haben uns in den letzten Jahren schon viel Arbeit und viel Mühe gemacht und es wird wahrscheinlich auch so bleiben, vermute ich.
Nach 25 Jahren ist Ihnen sicher der eine oder andere Fall besonders im Gedächtnis geblieben?
Ganz dramatisch ist es häufig, wenn Kinder oder Jugendliche ums Leben kommen. Ich entsinne mich an einen schweren Verkehrsunfall: ein junger Mann, der am Tag nach seiner Führerscheinprüfung mit drei Gleichaltrigen Richtung Gröditz gefahren und von der Straße abgekommen ist. Er hat als einziger Insasse überlebt. Solche Verfahren sind dramatisch: Die Angehörigen der Verstorbenen sehen darin ein furchtbares Verbrechen, und das ist auch nachvollziehbar. Auf der anderen Seite haben wir es mit einem jungen Menschen zu tun, der sich einfach überschätzt hat und dann eben schicksalhaft gescheitert ist. Eines der Ziele eines gerichtlichen Verfahrens ist die Herstellung von Rechtsfrieden. Einen Weg zu finden, der den Beteiligten irgendwie ein Weiterleben ermöglicht, ist schon sehr schwierig,
Eine andere Sache, an die ich mich erinnere, war ein junger Mann in Großenhain, der in einer Schule in jeder Klasse einen Helfer hatte, der für ihn Drogen an Kinder verkaufte - mit katastrophalen Folgen. Das war die höchste Jugendstrafe, die wir hier verhängt haben. Der Angeklagte war noch Heranwachsender. Er erhielt nach meiner Erinnerung acht Jahre Jugendstrafe.
Grübeln Sie nach einem Urteilsspruch noch länger darüber nach oder ist die Sache mit dem Urteil für Sie abgeschlossen?
In der Regel kann ich mein Berufsleben ganz gut im Gericht lassen. Die Trennung zwischen Dienst und Privatleben ist in vielen Berufen für das persönliche Gleichgewicht essenziell.
Erst kürzlich hat in der "Welt" eine Richterin beklagt, dass der Respekt auch vor den Gerichten nachgelassen hat. Was bemerken Sie davon?
Man merkt schon, dass wir nicht in der Großstadt sind. Hier gelingt es uns recht gut, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wir müssen kaum zu Zwangsmitteln – die uns ja zur Verfügung stehen - greifen. Es kommt vor, dass Emotionen hochkochen, das gehört dazu und sie müssen Raum haben. Da braucht es Fingerspitzengefühl.
Wir haben auf der anderen Seite eine zum Glück überschaubare Anzahl von Menschen, die uns für Ihr persönliches Schicksal verantwortlich machen und teilweise dazu neigen, Grenzen zu überschreiten. Ich bin auch selbst von einem solchen Fall betroffen und gelegentlich auf polizeiliche Hilfe angewiesen. Das sind schon Dinge, die ich bis vor einiger Zeit nicht kannte.
Gibt es denn Arbeitsfelder am Amtsgericht, die aus Ihrer Sicht öffentlich nicht genug wahrgenommen werden?
Von Verhandlungen und Urteilen liest man in der Presse ja öfter. Der Weg bis es zu so einer mündlichen Verhandlung kommt, ist teilweise sehr aufwändig. Jeder Beteiligte muss schon im Vorfeld die Möglichkeit haben, seinen Standpunkt schriftlich oder mündlich darzustellen. Man sieht eigentlich immer nur die Spitze des Eisbergs. Und wir haben Tätigkeitsfelder, die in der Öffentlichkeit keine Rolle spielen. Beispielsweise familien- und betreuungsgerichtliche Verfahren sind weitgehend nicht öffentlich. Ein großer Teil unserer Arbeit ist damit in der Öffentlichkeit nicht sichtbar. Auch gerichtliche Entscheidungen und Tätigkeiten, wie beispielsweise im Erbrecht oder Zwangsvollstreckungsrecht werden öffentlich allenfalls einmal punktuell sichtbar.
Welche falschen Erwartungen oder Vorstellungen begegnen Ihnen eigentlich hier im Amtsgericht?
Fast jeder, der zu Gericht kommt, glaubt, dass er im Recht ist. Wir werden immer Menschen zurücklassen, die glauben, dass wir die Sachen nicht richtig eingeschätzt haben. Das liegt in der Natur der Sache. Zum anderen denken viele Menschen, dass wir sozusagen die "Rächer der Enterbten" sind. Sind wir natürlich nicht! Unsere Aufgabe ist immer, mit Augenmaß und der Bedeutung der Sache angemessen zu handeln. In der Öffentlichkeit bestehen teilweise völlig falsche Vorstellungen, wie die Rechtsordnung und damit die Gerichte auf Straftaten reagieren. Wir "stellen niemanden an die Wand" und wir werden immer im Blick haben, dass das Leben auch trotz einer Verfehlung weitergeht und nicht komplett "verbaut werden darf". Wir können natürlich niemanden daran hindern, sich sein Leben selbst zu ruinieren. In diesem Zusammenhang denke ich immer an einen besonderen Fall.
Welchem?
Wir hatten hier beim Jugendschöffengericht mal eine Verhandlung gegen sechs junge Männer. Denen wurde ein Raub in einer Tankstelle vorgeworfen. Es war in einer Zeit, als es hier einen wahnsinnigen Rückstau gab, deshalb lag die eigentliche Tat schon mehrere Jahre zurück, bis es endlich zur Hauptverhandlung kam. Da saßen uns dann die inzwischen erwachsenen Angeklagten gegenüber. Fünf von ihnen waren ordentliche Leute geworden, einer hatte mittlerweile seine eigene Malerfirma gegründet, sie waren "im Leben angekommen". Lediglich einer saß im Gefängnis. Da ist ganz deutlich geworden, wie sich Delinquenz unter jungen Leuten entwickeln kann. Für mich war das ein prägendes Erlebnis.
Sie sitzen in Ihrer Heimatgemeinde Käbschütztal als Parteiloser für die CDU im Gemeinderat. Wie verträgt sich das eigentlich mit dem Richteramt?
Mir ist es ganz wichtig, dass ich nicht in einer Gemeinde im Rat sitze, die zu meinem Zuständigkeitsbereich als Richter gehört. Das finde ich gut, weil ich dadurch nicht in einen dienstlichen Konflikt geraten kann. Umgekehrt spielt das Amt in der Gemeindearbeit schon eine Rolle. Ich sehe es als eine meiner Aufgaben, im Rat meine beruflichen Kenntnisse mit einzubringen.
In welchen Punkten zum Beispiel?
Wir hatten in der landwirtschaftlich geprägten Gemeinde einen Fall, in dem bei der Ernte durch große Maschinen eine Straße beschädigt wurde. Da geht es um Fragen von Sondernutzung und mögliche Schadenersatzpflichten. Aber es ist gut, dass ich nicht bei dem Gericht beschäftigt bin, das über diesen Fall vielleicht zu entscheiden hätte.