Muss dieser Abriss wirklich sein?

Riesa. Ein anonymer Brief erhebt Vorwürfe: "Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, dass der Wohnblock in der Heinz-Steyer-Straße abgerissen wird", schreibt die Absenderin, die sich als 85-Jährige aus dem Wohngebiet Merzdorf vorstellt. "Vor Jahren wurde dieser Block völlig saniert und nun so was!" Sie fragt, ob die Wohnungsgenossenschaft daraus nicht hätte altersgerechte Wohnungen machen wollen. Fraglich sei es, ob für die Mieter noch "bezahlbarer guter altersgerechter Wohnraum" vorhanden sei.
Ohnehin sei es eine "Frechheit", dass Senioren mit mehr als 80 Jahren aus ihren Wohnblöcken ausziehen müssten. "Das sind alles Kriegskinder, die dieses Land und genau dieses Wohngebiet aufgebaut und Stunden dafür geleistet haben!"
Die SZ sprach über diese Vorwürfe mit Kerstin Kluge, der Vorstandsvorsitzenden der Wohnungsgenossenschaft Riesa.
Frau Kluge, warum reißen Sie so einen Wohnblock überhaupt ab?
Die sinkenden Bevölkerungszahlen haben zur Folge, dass aktuell und auch zukünftig weiter abgerissen werden muss. Das alternative Szenario mögen wir uns lieber nicht vorstellen: Der zunehmende Leerstand würde alle Wohnungsunternehmen derart belasten, dass keine Bestandsentwicklung mehr erfolgen kann. Bei der Überschreitung von 35 Prozent wäre überhaupt keine auskömmliche wohnungswirtschaftliche Verwaltung mehr möglich. Im finalen Stadium gäbe es leer stehende Geisterhäuser oder gar Quartiere, welche sich zu sozialen Brennpunkten entwickeln und zu weiterer Entmietung in der Umgebung führen würden.
Wie entwickelt sich die Leerstandsquote bei Ihnen?
Wir als Genossenschaft beraten jährlich über unsere Abrisskonzeption und passen unsere Planungen an die aktuelle Entwicklung oder Entwicklungstendenzen an. Im letzten Jahre gelang es uns, den Leerstand von 13 Prozent auf etwa 10 Prozent zu senken. Deshalb haben wir unsere Abrisskonzeption gestreckt, das heißt, etliche Objekte in spätere Jahresscheiben verschoben. Problematisch hierbei ist allerdings, dass mit dem Verschieben von Objekten die Fördermittel für den Abriss neu beantragt werden müssen, selbst wenn schon eine Zusage für die Erstbeantragung vorhanden war.

Nach welchen Kriterien wählen Sie Gebäude zum Abriss aus?
Entscheidendstes Kriterium stellt die Leerstandsentwicklung dar. Wir dokumentieren diese für den ganzen Wohnungsbestand praktisch über mehrere Jahrzehnte und haben so ein sehr gutes Gesamtbild. Unser Leerstand zentralisiert sich auf die oberen Etagen. In einer jährlichen gemeinsamen Beratung der Wohnungswirtschaft, dem technischen Bereich und den Vorständen wird festgelegt, wie die Bestandsentwicklung erfolgen soll. In dieser Beratung wird auch festgelegt, welches Objekt in welchem Jahr abgerissen oder zurückgebaut wird. Hierbei wird sehr intensiv darüber diskutiert, welche Möglichkeiten der Verwertung für jedes einzelne Objekt bestehen. Alle Teilnehmer der Beratung kennen natürlich die speziellen Eigenschaften des Hauses wie etwa den technischen Zustand, die Grundrisse, die Lage, die Medienanschlüsse. Die laufende Vermietungstätigkeit steuert hierbei die Information bei, warum Objekte gut angenommen werden und bei welchem Defizite bei der Vermarktung von den Interessenten genannt werden. Sind diese Defizite zu beseitigten, könnte eine Sanierung in Erwägung gezogen werden, falls nicht, ist gegebenenfalls der Abriss eine Option. Die Abriss- und Rückbaukonzeption wird deshalb auch jährlich überarbeitet und angepasst.
Wie war das konkret beim Block Heinz-Steyer-Straße 1-9?
Das Objekt ist ein typisches Beispiel dafür, dass eine kontinuierliche Anpassung der Rückbaukonzeption durchgeführt werden muss. Die Genossenschaft hatte die Heinz-Steyer-Straße 1-9 seit längerem lediglich unter Beobachtung, ohne konkrete Maßnahmen beschlossen zu haben. Aus einem uns nicht bekannten Grund entstand unter der Mieterschaft das Gerücht, dass wir im Zusammenhang mit der Sanierung der Heinz-Steyer-Straße 11-17 eine Auflockerung des Bestandes in diesem Bereich gewollt hätten und wir deshalb dieses Gebäude abreißen wöllten. Ohne irgendeine Information unsererseits wuchs der Leerstand von 2016 bis 2018 von fünf auf 18 Wohnungen von insgesamt 40 Wohnungen im Gebäude. Beim Leerstand von 45 Prozent mussten wir natürlich reagieren und haben dieses Haus in die Abrisskonzeption aufnehmen müssen.
Und wie sieht es in der Nachbarschaft aus?
Im Wohngebiet Gröba/Merzdorf hatten wir neben dem Betreuten Wohnen auf der Alleestraße sowie im Neubau Heinz-Steyer-Straße in weitere drei Wohngebäude Aufzüge an- oder eingebaut, um auch den älteren Bewohnern gerecht zu werden.
Wie steht die WG Riesa beim Thema Leerstand im Vergleich zu den anderen sächsischen Genossenschaften da?
Der Leerstand in den Genossenschaften der Region Riesa-Großenhain liegt laut der Statistik des Verbandes Sächsischer Wohnungsgenossenschaften im Durchschnitt bei fast 17 Prozent, bei uns in Riesa nur bei 11 Prozent. Wegen geplanten Sanierungen oder Rückbaumaßnahmen ist davon die Hälfte strukturell bedingt.
Wie viele Wohnungen haben Sie seit der Wende insgesamt abgerissen - und wie geht es dabei weiter?
In der Wohnungsgenossenschaft Riesa wurden seit 1990 insgesamt 1.002 Wohnungen abgerissen bzw. zurückgebaut. Wir bitten um Verständnis dafür, dass wir Ihnen die in Planung befindlichen Abrissobjekte nicht benennen können. Nach Bekanntgabe dieser Planungen würden auch bei weit in der Zukunft vorgesehenen Abrissen sofort Auszugsaktivitäten beginnen, welche zu einem wirtschaftlichen Schaden in der Genossenschaft führen würden. Außerdem ändern wir durch politische Entscheidungen oder anderweitige Umstände unsere Planungen, was dann nicht mehr möglich wäre.

Welche Gebäude stehen absehbar bereits zum Rückbau an?
In diesem Jahr werden wir neben der Heinz-Steyer-Straße 1-9 in Vorbereitung der Komplexbaumaßnahme Klötzerstraße 16a-20d den Eingang 20a mit zwölf Wohneinheiten wegreißen. Im nächsten Jahr werden wir die Werner-Seelenbinder-Straße 2-6 komplett zurückbauen. In den nächsten fünf Jahren werden wir im Durchschnitt in jedem Jahr 36 Wohnungen zurückbauen oder abreißen.
Was für Angebote machen Sie betroffenen Bewohnern, die in zum Rückbau vorgesehenen Häusern wohnen?
Oberstes Primat ist, das Mitglied mit einer adäquaten Wohnung im eigenen Bestand zu versorgen. Dann genießt dieser Mieter auch eine entsprechend der Wohnungsgröße angemessene Umzugspauschale, welche auch für ein von uns vermitteltes Umzugsunternehmen genutzt werden kann. Zu Mietereinbauten verständigen wir uns regelmäßig im beiderseitigem Einvernehmen und auch fällige Schönheitsreparaturen brauchen selbstverständlich nicht mehr erledigt zu werden.
Wann teilen Sie das den Betroffenen mit?
Formalrechtlich muss die Abrisskündigung in Abhängigkeit von der Mietdauer drei bis neun Monate vor dem Kündigungstermin erfolgen. Wir informieren jedoch zwei Jahre vorher, damit das Mitglied und auch wir genügend Zeit für die Suche nach einer neuen Wohnung und den Umzug haben.

Gibt es in solchen Fällen immer Ärger – oder stoßen Sie auch mal auf Verständnis bei den Mietern?
Den allermeisten Mietern sind die Zusammenhänge von demografischer Entwicklung in Riesa und den notwendigen Abrissen bekannt. Deshalb lautet die Frage der Mieter auch nicht mehr, warum abgerissen wird, sondern warum wird ausgerechnet mein Haus abgerissen. Alles dreht sich um den Punkt der Beschaffung einer passenden Wohnung. Hier allerdings haben wir es mit ständig steigenden Ansprüchen zu tun, so dass es uns nicht immer leichtfällt, die Wünsche mit unseren Möglichkeiten in Übereinstimmung zu bringen.
Letzte Frage: Wie entwickelt sich die Nachfrage in Ihren sanierten Gebäuden oder neu gebauten Häusern?
Alle in den letzten zehn Jahren komplett sanierten Häuser und auch die Neubauten sind bis auf einzelne umzugsbedingt kurzfristig leer stehende Wohnungen voll vermietet. Für uns ist dies der Beweis dafür, dass unsere Entscheidungen, die Sanierungen in dieser Art und Weise durchzuführen, gut und richtig waren und wir diesen erfolgreichen Weg auch in Zukunft fortsetzen können und werden.
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