Fotos zeigen Alltag im Gefangenenlager

Zeithain. Was mag den Männern durch den Kopf gehen? Teils in Militärmäntel gehüllt, teils in zerrissene Zeltplanen, wurden sie vor einer Ziegelwand fürs Foto aufgestellt. Zwei von ihnen halten eine Holztafel mit der höhnischen Aufschrift: "Wir sind Stalins Helden". Ob sie verstanden, was sie da in die Kamera hielten?
Die Schwarz-Weiß-Aufnahme gehört zu einem Konvolut von mehr als 70 historischen Fotos, die jetzt in Leipzig entdeckt wurden: Sie dokumentieren den Alltag aus dem Kriegsgefangenenlager Zeithain. Dort waren am Rand der Gohrischheide ab 1941 Zehntausende sowjetische Soldaten untergebracht, viele Tausend von ihnen starben an mangelhafter Versorgung, schlechter Behandlung, an Epidemien.

Ob die zehn Männer auf dem Foto den Aufenthalt in Zeithain überlebt haben, ist unbekannt. Die Gesichter – teils skeptisch, teils beschämt, teils trotzig – deuten noch nicht auf Mangelernährung hin. Vielleicht ist das Bild bald nach der Gefangenname der Soldaten entstanden? Die überlieferten Häftlingsakten und die Aufschriften auf den Sowjetischen Friedhöfen in Zeithain, Jacobsthal und Zschepa zeigen: Viele der Soldaten wurden nicht alt.
Bei den Fotos handelt es sich um einen Zufallsfund, sagt Jens Nagel, Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain. Die "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN-BdA) ordnete im Herbst 2020 ihr Archiv in Leipzig neu. Dabei fiel Vereinsmitgliedern ein bisher unbeachteter Briefumschlag in die Hände. Der enthielt nicht nur Dutzende Fotos, sondern auch einen Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 25. Juni 1946 mit der Überschrift „Der Totenwald in Zeithain“ sowie Plakate mit Bildern aus dem Kriegsgefangenenlager. Vorstandsmitglied Daniela Schmohl informierte die Gedenkstätte in Zeithain. Dort konnte man nach einer ersten Sichtung und einem Abgleich mit bekannten Zeitzeugenfotos bestätigen, dass es sich um Bilder aus dem Kriegsgefangenenlager handelt.

"Für die Forschungs- und Dokumentationsarbeit der Gedenkstätte sind die Aufnahmen wichtig und aufschlussreich", sagt Leiter Jens Nagel. Viele der bisher unbekannten Fotos zeigen Alltagssituationen aus dem Lager wie Zwangsarbeit, die primitiven sanitären Einrichtungen und das Gedränge der hungernden Gefangenen an der Essensausgabe. Auch Tote, Verhungerte und Sterbende sind zu sehen.
Die Fotografen hatten seinerzeit offenbar auch keine Scheu, die Vollstreckung von Strafen abzubilden: Da wird eine Hinrichtung durch Erhängen gezeigt und ein sogenannter Sonderpferch, ein provisorisches Gefängnis unter freiem Himmel. Das fand sich bislang ebenso wenig im Fotoarchiv der Gedenkstätte wie eine Aufnahme vom Pfahlhängen – eine äußerst schmerzhafte Form der Bestrafung.
Dabei wurden die Gefangenen rücklings vor einen Pfahl gestellt, mussten sich vornüberbeugen und wurden mit hochgezogenen Armen so am Pfahl festgebunden, dass sie nur noch mit den Fußspitzen den Boden erreichten. "Diese Behandlung war eigentlich in deutschen Kriegsgefangenenlagern verboten", sagt Jens Nagel.

Ein in Zeithain eingesetzter Hauptmann hatte die Methode offenbar aus seiner alten Heimat Österreich mitgebracht: In der kaiserlich-königlichen Monarchie sei das Pfahlhängen noch im Ersten Weltkrieg erlaubt gewesen – als Bestrafung der eigenen Soldaten, unter ärztlicher Aufsicht. "Das fand in Zeithain offenbar noch 1941/42 statt, ein späterer Lagerkommandant hat das Verbot dann durchgesetzt", sagt Jens Nagel. Das gehe aus Aussagen beteiligter Offiziere hervor, die sich Ende der 1960er Jahre in Westdeutschland einem Prozess stellen mussten.
Bislang waren vom Pfahlhängen in Zeithain noch keine Fotos bekannt, lediglich eine Zeichnung: Die hatte ein überlebender Gefangener angefertigt, der später in der Sowjetunion als Künstler arbeitete.

Ebenfalls neue Erkenntnisse für die Forschungsarbeit bietet zudem eine kleine Serie von sieben Fotos, die die Ankunft von Frauen im Oktober 1941 zeigen, die im Sanitätsdienst der Roten Armee dienten.
Bislang ist noch unklar, wie die Fotos aus Zeithain ausgerechnet beim Verein VVN-BdA landeten. "Unstrittig ist, dass die Fotos von Wachsoldaten aufgenommen wurden", sagt Gedenkstättenleiter Nagel. Mutmaßlich seien sie bei Hausdurchsuchungen kurz nach dem Krieg beschlagnahmt worden: Damals hatte es Ermittlungen zu den Kriegsverbrechen in Zeithain gegeben. "Die Frage, wie die Fotos dann von der sächsischen Polizei zur erst 1947 gegründeten VVN-BdA gelangten, gilt es nun zusammen mit dem Leipziger Stadtverband zu klären", so Nagel.

Die mit den Aufnahmen aufgetauchten Plakate würden zeigen, dass die Fotografien auch für die kommunistische Propaganda genutzt wurden: "Die schockierenden, die Opfer entwürdigenden Bilder der in Zeithain begangenen NS-Verbrechen wurden instrumentalisiert, um in der sächsischen Bevölkerung um Zustimmung für das 'Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes' zu werben", sagt der Historiker. Im ersten Volksentscheid in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stimmten die Sachsen am 30. Juni 1946 der entschädigungslosen Enteignung von Großgrundbesitzern, Kriegsverbrechern und aktiven Nationalsozialisten zu.
Mittlerweile konnten die Mitarbeiter der Gedenkstätte alle Fotos und Plakate sichten. Eine offizielle Übergabe an das Archiv der Gedenkstätte soll noch folgen. Laut Jens Nagel würden die Erinnerungsfotos ehemaliger Wachsoldaten deren "mitleidslosen Blick auf die sowjetischen Kriegsgefangenen und ihr Massensterben infolge von Hunger, Krankheiten und Gewalt" zeigen – mitten in Deutschland.
Ob die Bilder in Zeithain noch öffentlich gezeigt werden, steht noch nicht fest. Derzeit ist die Gedenkstätte unter Corona-Bedingungen geschlossen. Auch die jährliche Sonderausstellung im Riesaer Stadtmuseum aus Anlass des NS-Opfer-Gedenktages 27. Januar kann deshalb nicht stattfinden.
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