Reservisten pflegen Gedenkstein für Massaker von Lorenzkirch

Lorenzkirch. Die Pflastersteine sind zur Seite geräumt. Ältere Herren in Felduniform schaufeln und harken vor einer mannshohen Stele. Die Männer, alle etwa im Alter von Ende 60 bis Mitte 80, sind eigentlich viel zu alt, um noch mal zum Militärdienst eingezogen zu werden. Doch als Reservistenkameradschaft kommen sie immer wieder zusammen und pflegen alte Kriegsgräber. So auch in diesen Tagen auf dem Friedhof in Lorenzkirch.
In dem kleinen Ort, der vor allem wegen seines Jahrmarktes berühmt ist, trafen am Ende des Zweiten Weltkrieges Russen und Amerikaner zum ersten Mal aufeinander. Dass dieses historische Ereignis offiziell nach Torgau verlegt wurde, hat auch mit einer Flüchtlingstragödie zu tun, die sich wenige Tage zuvor in Lorenzkirch abspielte. Der Gedenkstein, unter dem sich ein Massengrab mit 51 Toten befindet und den die Reservisten vom Unkraut befreien, erinnert daran.
Doch Steine können nicht sprechen. Wie gut, dass es noch Zeitzeugen gibt. So wie Ina-Maria Pradella, die damals erst neun Jahre alt war. Sie zeigt den Reservisten die Kirche, lässt sie in den Bänken Platz nehmen und beginnt zu erzählen: "Es war wirklich grausam, was sich hier abgespielt hat. Überall lagen Tote auf den Elbwiesen. Alte, Frauen und Kinder."

Am tiefsten habe sich ihr das Bild von einem Kinderwagen auf den Resten der gesprengten Pontonbrücke ins Gedächtnis eingegraben. Die deutsche Wehrmacht hatte sie über die Elbe errichtet, um vor allem selbst über den Fluss zu kommen. Doch auch zahlreiche Flüchtlingstrecks waren nach Lorenzkirch geeilt, in der Hoffnung, der herannahenden Roten Armee zu entkommen. Alle trieb die Angst vor der Rache der Bolschewisten.
Den Flüchtlingen aus Schlesien und dem heutigen Südbrandenburg schlossen sich viele Menschen aus der Region an. Sie waren am 21. April 1945 einem Aufruf der NSDAP-Kreisleitung Großenhain gefolgt, so schnell wie möglich Haus und Hof zu verlassen und sich über die Elbe vor den Russen in Sicherheit zu bringen. Etwa 25.000 Leute sollen sich in und um Lorenzkirch befunden haben.
Am nächsten Tag geschah dann die Katastrophe von Lorenzkirch. Als die Rote Armee nur noch wenige Kilometer von Strehla entfernt war, sprengte die Wehrmacht die Pontonbrücke. Zahlreiche Menschen, die sich zu dem Zeitpunkt noch darauf befanden, verloren ihr Leben.
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Sie hatten möglicherweise in dem Chaos die Warnsignale für die Sprengung überhört oder konnten einfach nicht zurück ans Lorenzkircher Ufer, weil dort eine riesige Menschenmasse auf die Brücke drängte. Denn die Russen hatten gegen Abend begonnen, mit ihren Kanonen in Richtung Strehla zu schießen. Doch einige Granaten schlugen schon vorher ein und trafen die Zivilisten auf der Lorenzkircher Elbseite.
Historische Quellen berichten von mehr als 400 Toten. Ein US-Offizier, der bei der ersten Begegnung mit der Roten Armee am 25. April an den vielen leblosen Körpern vorbeiging, soll von einem "Massaker" gesprochen haben.
"Wir wissen, wie schlimm Krieg ist", sagt Ina-Maria Pradella und fügt hinzu: "Ich kann die Leute in Afghanistan verstehen, dass sie wegwollen." Sie hat die verzweifelten Gesichter von Kundus in den TV-Nachrichten gesehen und fühlt sich an die schrecklichen Bilder von damals erinnert.
Die Reservisten aus Achim in Niedersachsen hören zum ersten Mal von der Flüchtlingskatastrophe von Lorenzkirch. Sie sind sichtlich berührt, stellen Fragen: "Wie konnte es so weit kommen?" "Wer hat den Befehl zur Sprengung der Pontonbrücke gegeben?" "Haben die Verantwortlichen denn nicht gesehen, dass da noch Leute drauf sind?"
Einer von drei jungen Soldaten vom Jägerbataillon 91 aus Rotenburg, die von der Bundeswehr abkommandiert wurden, die älteren Herren nach Sachsen zu fahren, schluckt: "So etwas steht in keinem Geschichtsbuch."

Als die Reservisten wieder aus der Kirche gehen, wissen sie, dass ihre freiwillige Aufgabe, die Gedenkstätte auf dem Friedhof Lorenzkirch wieder ordentlich herzurichten, eine gute Sache ist.
Seit 2008 kommen sie einmal im Jahr auf Einladung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der Bundeswehr und der Stiftung Sächsische Gedenkstätten in die Region. Bisher pflegten sie die Gräber im ehemaligen Kriegsgefangenenlager Zeithain, wo von 1941 bis 1945 bis zu 30.000 sowjetische Soldaten gestorben sind. In diesem Jahr kümmert sich die Reservistentruppe um ihren Kommandeur Bernd Gilster zum ersten Mal um ein Kriegsgrab außerhalb der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain.
Zusammen mit Ina-Maria Pradella stellen sich die Männer an einen anderen Gedenkstein vor dem Kirchhof. "April 1945" steht darauf geschrieben. Mehr nicht. Sie legen Blumen nieder und schweigen. Sie gedenken der vielen Toten von Lorenzkirch und auch der 53 Bundeswehr-Soldaten, die in Afghanistan gefallen sind.