Riesa. Das älteste Stück im Haus ist mehr als 440 Jahre alt, umfasst einige handgeschriebene Seiten und findet sich zwischen zwei Buchdeckeln eingelegt. Ein Lehensbrief von 1578, ausgestellt von Kurfürst August von Sachsen an Johann von Embden, damals neuer Besitzer des Riesaer Klosters. Vorsichtig nimmt Riesas Hauptamtsleiter Marcus Gierth die betagte Urkunde fürs Foto aus einem Karton.
Die Szene spielt sich im Stadtmuseum am Poppitzer Platz ab – könnte man zumindest vermuten. Tatsächlich passiert sie im Stadtarchiv. Einem Gebäude an der Goethestraße, das viele im Vorbeifahren vielleicht eher für ein Wohnhaus halten. Das war der Bau nahe der Kreuzung zur Pausitzer Straße bis Mitte der 1990er auch. Nach Abschluss der damaligen Sanierung dient es seit 2004 als Kommunalarchiv und ist, metaphorisch gesprochen, das Gedächtnis der Stadt Riesa.
Ein schweres Gedächtnis: Stadtarchivarin Steffi Schmidt erinnert sich, dass es beim Einzug 2004 allein sieben Tonnen an Unterlagen gewesen sind, die ins Haus kamen. Das habe seinerzeit die Umzugsfirma ermittelt. Inzwischen dürften es viele Kilo mehr sein, schätzt die langjährige Stadtarchivarin. Um die Lasten zu tragen, bringt das ursprünglich 1905 erbaute Haus aber gute Voraussetzungen mit: Es wurde als Lagergebäude errichtet, hat massive Decken.

Besucher des Hauses werden im Erdgeschoss in einem Zimmer mit großem Schreibtisch und Stühlen empfangen, dem Leseraum. Weiter als bis hierhin kommen die Gäste eigentlich nicht. Zutritt zu den Magazinen, den Lagerräumen, haben nur die Archivmitarbeiter.
An diesem Tag macht Steffi Schmidt eine Ausnahme und führt durchs Treppenhaus in die oberen Etagen hinauf, wo die Aktenbestände lagern. Metallregale, Aktenordner und Archivkartons bestimmen das Bild. Im ersten Geschoss befindet sich der historische Bestand, zu dem auch der Lehensbrief gehört. Daneben gibt es beispielsweise Stadtratsprotokolle, aber auch eine große Kartei über nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebene. Als es nach der Wiedervereinigung eine Einmalzahlung von 4.000 Mark für die Vertriebenen aus der einstigen DDR gab, waren diese Akten als Nachweise stark gefragt.
In den Etagen weiter oben dominieren Bauunterlagen aus den Nachwendejahren – von städtischen Hoch- und Tiefbauprojekten bis zu Vorhaben privater Bauherren. Aber auch Unterlagen über abgerissene Häuser sind verwahrt. Unterm Dach ist alles deponiert, was mit Gewerbe und Industrie zu tun hat. Seien es Akten zum Autohaus Gute Fahrt oder die auf Riesaer Flur entstandenen Windräder.
Bevor diese Unterlagen im Archiv landen, haben die Akten meistens eine Zeit in der Stadtverwaltung verbracht. Ist der jeweilige Vorgang abgeschlossen, die Unterlage archivwürdig und archivfertig gemacht, tritt sie nach Aufenthalt im Zwischenarchiv des Rathauses den Weg zur Goethestraße an. Wo sie dann wartet, bis sich wieder einmal jemand dafür interessiert.
Nicht nur die Mitarbeiter aus Ämtern in der Stadtverwaltung fragen die Unterlagen an. Auch Ortschronisten oder Studenten interessieren sich wegen eigener Forschungsprojekte für verschiedene Akten. Auch Behörden – von Standesämtern bis zu Gerichten – holen im Archiv Erkundigungen ein. Wenn es um Rückübertragung von Grundstücken oder Erbangelegenheiten geht, zum Beispiel. Was zugenommen habe, sei die Zahl der Ahnenforscher, erzählt Steffi Schmidt.
Wenn sie gebraucht werden, wollen die Akten bewegt sein. Um den Archivmitarbeitern die Arbeit zu erleichtern, gibt es im Gebäude einen kleinen Aufzug. Sieht man von Elektro- und Brandschutztechnik ab, sucht man elektronisches Gerät in den Archivmagazinen ansonsten aber eher vergebens. Ob Digitalisierung ein Thema ist? Zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, sagt Riesas Hauptamtsleiter Marcus Gierth, zu dessen Verantwortungsbereich das Stadtarchiv zählt. Aber: In den nächsten Jahren werde es mit Sicherheit eines. Es stellten sich eine Reihe von Fragen – unter anderem die, welche Dateiformate für dauerhafte digitale Archivierung die geeigneten sind.
Bis das gesetzgeberisch geregelt ist und in Riesa umgesetzt wird, werden die Unterlagen im hiesigen Stadtarchiv in Form von Papier, in Ordnern und Kartons aufbewahrt. Platz dafür ist im Archivgebäude noch ausreichend, etliche Regalmeter sind noch leer. Hinzu kommt, dass auch Akten vernichtet werden. Das erledigt eine Spezialfirma. Gleichwohl kommt nur das Nötigste durch den Schredder. Damit vom Amtsmitarbeiter bis zum privaten Ahnenforscher auch in Zukunft alle, die Informationen suchen, fündig werden.
Übrigens: Eine Information von ortshistorischer Relevanz hat Stadtarchivarin Steffi Schmidt dem städtischen Gedächtnis vor einiger Zeit selbst entlocken können: So wusste niemand, wie das bekannte Riesaer Original "Pferdebahn-Maxe" eigentlich mit vollem bürgerlichen Namen hieß. Die Stadtarchivarin bekam es aufgrund einiger Informationskrumen und Recherche schließlich mit Hilfe der Akten heraus: Max Heinrich Röder hieß der 1882 geborene und 1937 gestorbene legendäre Kutscher.
>> Nutzung auf Antrag
- Um das Stadtarchiv zu nutzen, muss ein "berechtigtes Interesse" glaubhaft gemacht werden, regelt die Archivsatzung der Stadt Riesa. Nicht jeder darf in jede Akte Einsicht nehmen.
- Nutzungsanträge sind schriftlich mit Name, Anschrift, Benutzungszweck (und, wenn vorhanden: Auftraggeber) ans Archiv zu richten. Das geht auch per E-Mail.
- Archivgut im Archiv einzusehen, ist während der Öffnungszeiten nach Voranmeldung möglich.
- Die Archivnutzung kann Gebühren nach sich ziehen, regelt eine städtische Gebührensatzung. Kopien aus historischem Archivgut bis 1945 kosten zum Beispiel einen Euro je Seite. (SZ)
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