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Riesenmikado mit Straßenbahn

Ein Teil eines Baugerüstes erinnert an fatale Fehler bei Sanierungsarbeiten in den 80er-Jahren. Es gehört zu den Beweisstücken sächsischer Krimigeschichte im Polizeimuseum Dresden.

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© privat

Von Thomas Schade (Text) und Thomas Kretschel (Foto)

Rost und etwas Zement kleben noch an dem Stahlrohr, das vor vielen Jahren einmal zu einem stattlichen Baugerüst gehörte. Die Schrauben und Muttern an der Schelle haben sich festgefressen. Heute würde es keiner mehr verwenden. Nur einer ist froh, es zu besitzen: Wolfgang Schütze, der Leiter der polizeihistorischen Sammlung in der Dresdner Schießgasse. In seinem musealen Kabinett gehört es zu den Exponaten aus mehr als einhundert Jahren sächsischer Polizeigeschichte.

Der wohl letzte noch existierende Teil des Unglücksgerüstes, das 1988 auf der Bautzner Straße in Dresden auf eine Straßenbahn gestürzt war.
Der wohl letzte noch existierende Teil des Unglücksgerüstes, das 1988 auf der Bautzner Straße in Dresden auf eine Straßenbahn gestürzt war. © kairospress

Nicht allen Ausstellungsstücken liegen schwere Verbrechen zugrunde. Beim Rundgang durch die noch recht kleine, kompakte Sammlung fallen auch historische Waffen auf und Uniformen. Ein MZ-Motorrad aus Zschopau in Weiß-Grün dürfte zu den größten Exponaten zählen, neben einer mehr als drei Meter langen Anlage zur erkennungsdienstlichen Bearbeitung von Verdächtigen, wie es im Polizeideutsch heißt. Noch in den 60er-Jahren wurden damit mutmaßliche Straftäter fotografiert. Sie mussten auf einem Holzstuhl Platz nehmen, etwa drei Meter vor ihnen stand eine hölzerne Plattenkamera.

Das MZ-Motorrad ist ein Prototyp, der sonst nirgendwo zu sehen ist. Er sei für die sächsische Polizei entwickelt worden, aber nie zum Einsatz gekommen, sagt Sammlungsleiter Wolfgang Schütze. Besonders stolz ist er auch auf den sogenannten Dresdner Kammhelm, den er zeigen kann. Dieser schwarze Polizeihelm besaß nicht die anderenorts übliche Spitze einer Pickelhaube, sondern einen Metallbügel, Kamm genannt, wie ihn schon römische Feldherren trugen. Dieser Kammhelm sei auf Geheiß des Königs nach österreichischem Vorbild für die Dresdner Polizei konstruiert worden, sagt Schütze und fügt hinzu: „Friedrich August wollte in seiner Residenzstadt keine Polizisten mit preußischen Pickelhauben.“

Fast unscheinbar nimmt sich im Vergleich dazu das etwa 40 Zentimeter lange Rohr aus, das einmal zu dem Metallgerüst gehörte. Es hat ebenfalls nichts mit einem Verbrechen zu tun. Dennoch versetzte es am 16. März 1988 mehr als ein Dutzend Menschen in Angst und Schrecken. Einer dieser Menschen war die Dresdner Straßenbahnfahrerin Karin Jüngling.

An jenem Mittwoch vor 26 Jahren ist Karin Jüngling 30 Jahre alt. Sie ist gebürtige Dresdnerin, hat die 10. Klasse absolviert und unmittelbar danach, 1975, bei den Dresdner Verkehrsbetrieben ihre Lehre begonnen. Sie sei eine erfahrene Straßenbahnfahrerin gewesen, sagt sie.

Wie die meisten ihrer Kollegen lenkt sie an diesem Tag einen roten Tatrazug. Ihre beiden Wagen haben die Nummern 222-807 und 222-919. Kurz nach zehn rollt die schwere Bahn auf der Bautzner Straße eher gemächlich stadtwärts am Waldschlößchen vorbei. Schon seit mehr als einhundert Jahren fahren Dresdner Straßenbahnen auf der Bautzner Straße. Die 11 ist eine der Linien mit den meisten Fahrgästen, heute sind es an manchen Tagen mehr als 30.000 täglich. Es ist eine sogenannte Gutenacht-Linie, die rund um die Uhr befahren wird. Vom Streckenprofil her zählt sie zu den anspruchsvollsten im Dresdner Netz. Zwischen den Haltestellen Plattleite und Mordgrundbrücke muss die Bahn ein Gefälle von 7,7 Prozent passieren.

Diese Stelle hat Karin Jüngling am 16. März 1988 längst passiert. Gegen 10.15 Uhr verlässt sie die Haltestelle am Diakonissenhaus. „Es waren nicht allzu viele Fahrgäste in der Bahn“, erinnert sie sich. Bei Pfunds Molkerei muss sie abbremsen, weil ein Auto nicht rechtzeitig ausweicht. Der nächste Halt an der Ecke zur Pulsnitzer Straße ist schon in Sicht. „Plötzlich höre ich ein Geräusch. Erst war es ein Bersten, dann donnerte und schepperte es, als ob die Welt über mir zusammenbricht.“ So beschreibt die heute 56-Jährige den Moment.

An der Bautzner Straße 65 löst sich an diesem Tag um 10.17 Uhr ein 22 Meter hohes und 16 Meter langes Baugerüst von der Hauswand, kippt gegen die Fassaden auf der anderen Straßenseite und fällt mit riesigem Getöse in sich zusammen.

Was für ein Zufall, dass Karin Jüngling mit ihrer Bahn ausgerechnet in diesem Augenblick an der Bautzner Straße 65 vorbeifährt. Geistesgegenwärtig bringt sie ihre Bahn zum Stehen und macht sich in ihrem Fahrerstand ganz klein. Mit dem großen Donner durchschlagen mehrere Holzbohlen die Windschutzscheibe ihres Triebwagens und schieben sich in die Bahn. „Hätte ich in diesem Augenblick noch auf meinem Fahrersitz in der Kanzel gesessen, hätte ich das Unglück nicht überlebt“, sagt sie.

Im Konsum gegenüber von Hausnummer 65 sitzt an diesem Vormittag Ramona Teichmann an der Kasse. „Es ging alles so schnell, und dann der laute Aufprall. Jetzt sind wir froh, dass es für uns mit ein paar zerschlagenen Fensterscheiben glimpflich abgegangen ist“, sagt sie eine halbe Stunde nach dem Unglück dem Reporter der Sächsischen Zeitung. Sie ist es auch, die Feuerwehr und Rettungskräfte benachrichtigt.

Minuten nach dem Zusammensturz gelingt es Karin Jüngling, die Türen der Bahn zu öffnen. „Die meisten Leute saßen im ersten Wagen, sie konnten alle selbstständig die Bahn verlassen.“ Einige hätten Schnittwunden gehabt, vermutlich von den zerbrochenen Scheiben. „Ich musste mich vor lauter Schreck an die Hauswand lehnen und habe eine nach der anderen geraucht, bis der Dispatcher kam“, erzählt sie.

Die Stadt schrammt an diesem Tag knapp an einer Katastrophe vorbei. Denn das Baugerüst begräbt nicht nur die Bahn der Linie 11 mit etwa 20 bis 30 Fahrgästen unter sich. Es stürzt auch auf ein halbes Dutzend Autos – und auf eine junge Frau, die zum Zeitpunkt des Unglückes auf dem gegenüberliegenden Fußweg gerade mit ihrem Kind im Kinderwagen am Konsum vorbeiläuft. Wie durch ein Wunder bleiben Mutter und Kind unverletzt und kommen mit dem Schrecken davon. Die Bahn hatte das Gerüst über ihnen abgefangen. Bauarbeiter befreien die Frau und das Baby wenig später aus dem Chaos der Eisenstangen und Gerüstbohlen. Auch von den Arbeitern stand keiner auf dem Gerüst, als es sich von der Hauswand löste. Die Rettungskräfte bringen einige Verletzte in die umliegenden Krankenhäuser. Die meisten können nach ambulanter Behandlung wieder entlassen werden.

Dennoch, so erinnern sich Polizisten, die an jenem Tag zur Ermittlung der Unfallursache auf die Bautzner Straße gerufen worden waren, wäre aus dem Unglück fast eine Staatsaffäre geworden. Denn unter dem Baugerüst wurden auch zwei Fahrzeuge der Staatssicherheit begraben, die auf der Bautzner Straße die beiden größten Dienststellen des Bezirkes Dresden hatte. Einige Stasi-Mitarbeiter sollen das Unglück kurzzeitig für einen Anschlag gehalten haben. Deshalb hatte die Polizei auch den Auftrag, die Ursache genau zu klären. Kriminaltechniker und Bausachverständige fanden das Übel auch schnell heraus, das zum Einsturz geführt hatte.

Das Gerüst stand bereits mehrere Monate an dem viergeschossigen Haus aus der Gründerzeit. Der Bau war in schlechtem Zustand und wurde seit Jahresbeginn vom Kombinat Bau und Modernisierung Dresden rekonstruiert. Am 16. März hatten sich direkt unterm Dach mehrere große Simssteine aus dem Mauerwerk gelöst. Wie Keile, so einer der damaligen Ermittler, seien sie zwischen Hauswand und Rüstung nach unten gestürzt und hätten das Gerüst aus der Verankerung gerissen. Die Technologie sah damals vor, diese Simssteine abzustützen, damit sie nicht herausfallen konnten. Das war unterblieben. Die Verantwortlichen dafür seien ermittelt worden, sagt einer der Ermittler, an eine Gerichtsverhandlung kann er sich jedoch nicht erinnern.

Tramfahrerin Karin Jüngling fragt an diesem Tag nach vielen Zigaretten ihren Dispatcher, was sie denn nun machen solle. Ihr fehlte nichts. „Aber weiterfahren konnte ich auch nicht, denn die Bautzner Straße war erst nach mehreren Stunden wieder frei.“ Der Dispatcher schickt sie zur Poliklinik am Schillerplatz. Dort sollte sie sich wenigstens röntgen lassen. „Im Wartezimmer saß eine Kollegin, die fragte, ob ich was von dem Unglück auf der Bautzner Straße weiß, bei dem der Straßenbahnfahrer ums Leben gekommen ist“, erzählt sie. „Ich sagte nur: Das bin ich, bin ich etwa tot?“ Da sei ihr die Frau um den Hals gefallen.

Am nächsten Tag erschien Karin Jüngling wieder auf Arbeit. „Ich durfte nur Rangierdienst machen.“ Ihren Spitznahmen hatte sie weg. „Ich war nur noch die Mikado-Karin, weil das Gerüst auf den Bildern wie ein Haufen Mikadostäbe aussah.“ Nach zwei Wochen fuhr Karin Jüngling wieder die Linie 11, auf der sie bis heute unterwegs ist. Zuerst habe sie vor der Pulsnitzer Straße immer nach oben geschaut.

„Aber das gab sich mit der Zeit“, sagt sie. Dass bis heute ein Stück von dem Gerüst existiert, wusste sie nicht. „Vielleicht schaue ich’s mir mal an.“

Lesen Sie in der nächsten Folge über einen 15-Jährigen in Meißen, der 1999 mit zwei Messern zur Schule ging.

Die polizeihistorische Sammlung im Polizeipräsidium in der Dresdner Schießgasse ist nur nach Voranmeldung zu besichtigen. Telefon: 0351/4833447. [email protected]