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Roter Teppich für alle Frauen

Leben mit angezogener Handbremse: Jacqueline Strehle weiß, was ein Burn-out bedeutet. Heute achtet sie besser auf sich. Und will andere Frauen unterstützen.

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© nikolaischmidt.de

Von Susanne Sodan

Das Handwerk 20 hat langen Leerstand hinter sich. Über Jahre hing noch das Schild vom Vormieter über der Tür: Silberwerk. Hier gab es früher Schmuck. Jetzt ist eine neue Beschriftung an der Tür. „Herzensgold“ steht dort in geschwungener Schrift. Hört sich auch ein bisschen nach Schmuck an. Aber hier gibt es nichts zu kaufen. Die neue Mieterin ist Jacqueline Strehle. Sie will Frauen selbstbewusster machen. Vor wenigen Tagen war die Eröffnung ihrer psychologischen Beratung.

„Männer sind auch zufrieden, wenn sie am Tag mal nur 80 Prozent ihres Zieles erreicht haben“, sagt sie. „Frauen sind das nicht, da müssen es immer hundert Prozent sein.“ Das ist plakativ gesprochen, „es ist aber tatsächlich so, dass Frauen häufig sehr viel stärker zum Perfektionismus neigen.“ Hauptberuflich arbeitet Jacqueline Strehle bei der Stadtverwaltung. In den vergangenen zwei Jahren hat sie ein Fernstudium gemacht, um sich zur psychologischen Beraterin und Personal Coach ausbilden zu lassen. Im Studium hat sie sich mit Frauenbildern in Zeitschriften genauso befasst wie mit medizinischen Statistiken, zum Beispiel den Zahlen für Burn-out-Erkrankungen.

Die jüngsten sächsischen Zahlen vom Landesamt für Statistik in Kamenz stammen von 2016. Wie viele Menschen insgesamt wegen Burn-out und ähnlichen psychischen Erkrankungen behandelt wurden, lässt sich über die Statistik nicht sagen, sie gibt keine Auskunft über ambulanten Behandlungen. Aber die Zahlen zu stationären Behandlungen liegen dem Landesamt vor: 2016 mussten wegen Neurathenie 45 Personen ins Krankenhaus. Es handelt sich dabei um ein Erschöpfungssyndrom, das zum Burn-out führen kann. Es waren deutlich mehr Frauen als Männer betroffen, doppelt so viele. Auch Burn-out betreffe öfter Frauen, sagt Jacqueline Strehle. Die Erfahrung musste sie selber schon machen. Vor reichlich zehn Jahren war sie ins Burn-out gerutscht, „im Grunde, indem ich über Jahre hinweg körperliche Anzeichen ignoriert habe.“ Was Burn-out ist, habe sie damals gar nicht gewusst. Energielos fühlte sie sich, Schlafstörungen kamen dazu. Wie ein Leben mit angezogener Handbremse, so beschreibt es Jacqueline Strehle. „Statt mich auszuruhen und zu verstehen, woran das liegt, habe ich noch mehr gearbeitet, wollte noch stärker sein. Ich habe das versucht zu überspielen.“ Aus Energielosigkeit wurde absolute Erschöpfung. „Ich hatte mich mehr und mehr von Freunden abgekapselt, dadurch hatte auch niemand eine Chance mitzubekommen, was eigentlich los war.“ Am Ende war selbst das Socken anziehen eine Herausforderung.

Die Madonna-Übung

Später habe sie sich oft gefragt, wie sie da reingeraten ist, beschäftigte sich viel mit dem Thema mentale Gesundheit von Frauen. Und begann schließlich 2015 mit dem Fernstudium. Ja, sie habe durchaus Zweifel gehabt, ob sie das alles schaffe: Arbeit, Studium, Familie, Haus. Am Ende hat sie es geschafft. Psychologin ist sie nicht, sie arbeitet bei Herzensgold aber mit einer Görlitzer Psychotherapeutin zusammen. Nach Praxis sieht es in den Räumen dennoch nicht aus – sondern rosa-gold. „Es wird viel gelacht, manchmal fließt ein Tränchen, aber das ist auch gut so.“ In ihrer psychologischen Beratung geht es nicht um klassische Burnout-Prävention, sondern viel mehr darum, individuelle Fähigkeiten zu stärken. Mentale Widerstandskraft aufbauen, um mit alltäglichen Belastungen und auch mit Krisensituationen besser umgehen zu können – Resilienztraining ist der Fachbegriff dafür, eine derzeit sehr populäre Methode. Kritikpunkte daran hatte 2015 ein „Zeit“-Artikel beschrieben: Es gibt zum Beispiel Unklarheiten über die Faktoren für Resilienz. In einem weiteren Punkt geht es um die Gefahr, dass strukturelle Probleme, wie Dauerüberlastung am Arbeitsplatz, ins Private abgeschoben werden könnten. In Handwerk 20 geht es vielmehr um die Frage: Was können Frauen für sich selber tun? Wie können sie ihre individuellen, weiblichen Fähigkeiten stärken? Welche sind das, und wie kann man sie mehr zu schätzen lernen? Es geht um Selbstbewusstsein. Und um die Gemeinschaft. Wie wichtig die ist, weiß Jacqueline Strehle aus eigener Erfahrung. „Manche Frauen wissen, welche Fähigkeiten sie haben, anderen ist das nicht bewusst. So kann man sich gegenseitig unterstützen“, erzählt sie. „Es gibt zum Beispiel die Madonna-Übung“, erklärt sie. Dafür erstellt man eine Liste mit Punkten, was man an seinem Idol so toll findet, welche Eigenschaften und Fähigkeiten. Dann kommen drei farbige Stifte zum Einsatz, einer für die Punkte, von denen man sicher ist, dass man sie nie erreichen wird. Die zweite Farbe für das, was man vielleicht noch nicht hat, aber erreichen könnte. Die dritte Farbe ist für alles, was man schon kann und geschafft hat. „Ich habe schon Frauen gesehen, die angefangen haben zu weinen beim Ergebnis.“ Weil sie die letzten beiden Farben viel häufiger verwendet haben als gedacht. Viele Frauen, sagt sie, unterschätzen sich sehr.

Auch Einzelgespräche sind möglich, Jacqueline Strehle will außerdem Seminare und Vorträge anbieten. Erfahrungen im Zuhören hat sie selber schon länger, seit mehreren Jahren leitet sie die Görlitzer Selbsthilfegruppe für Frauen, die von Endometriose betroffen sind, eine chronische, gynäkologische Erkrankung. Es handelt sich um zwar gutartige, aber oft sehr schmerzhafte Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut. Die zweithäufigste gynäkologische Erkrankung, darüber sprechen fällt trotzdem schwer. „Ich sage beim Arzt auch immer: Ohrenschmerzen wären mir lieber“, sagt Jacqueline Strehle.

Auch bei Herzensgold soll es viel um Austausch gehen, zum Beispiel beim Frauen-Stammtisch. Sich unterstützen sollten Frauen ohnehin viel mehr, findet Jacqueline Strehle. „Wir brauchen uns nicht durch Konkurrenz das Leben gegenseitig schwer zu machen.“

1. „Stammtisch für tolle Frauen“. 27. Juli, ab 16 Uhr. Herzensgold-Garten.