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Queen Elizabeth II. ist tot: Ein Jahrhundertleben

Das zweite elisabethanische Zeitalter geht zu Ende. Elizabeth II. war der Fels in der Brandung des Wahnsinns im Königreich. Ein Nachruf.

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Königin Elizabeth II. ist gestorben.
Königin Elizabeth II. ist gestorben. © dpa/PA Wire/Jonathan Brady

Von Deike Diening

Das Gelöbnis ist erfüllt. Mehr als erfüllt. Wer immer geholfen hat.

Die junge Frau, die 1952 als 25-Jährige in London den Thron bestieg und nun eine verzweigte Familie, ein Volk, 14 Staaten des Commonwealth und sechs Corgies hinterlässt, hat alle Erwartungen an sie übertroffen, alle Rekorde eingestellt. Am Donnerstagnachmittag gab die älteste amtierende und am längsten amtierende Monarchin der Welt nach über 70 Jahren auf dem Thron ihr Zepter aus der Hand. Sie trug es länger als Queen Victoria. Durch eine Amtszeit, aus der kaum ein Fehltritt, keine einzige Entgleisung bekannt geworden ist.

Noch am Dienstag hatte sie Boris Johnson aus dem Amt des Premierministers entlassen und Liz Truss damit beauftragt, die neue Regierung zu bilden, das 15. Regierungsoberhaupt ihrer Amtszeit. Ein Leben, in dem erst die echten Kanonen im London des zweiten Weltkriegs donnerten, die später harmlosen Salutschüssen zu Geburtstagen, Hochzeit und Taufen in der Familie wichen. Ein langer Lebensweg, der, wo immer sie öffentlich auf eine Straße trat, gesäumt war von Kindern, die ihr Blumensträuße überreichten, Menschen, die knicksten, in den 117 Ländern, die sie bereist. Es war ein Leben als wichtigster Gast in jedem Raum. Sie prägte das Bild, das sich die Briten von ihrem Land machen. Und die ganze Welt von Großbritannien.

Ein 96 Jahre währendes Leben, das tief ins letzte Jahrtausend ragt, und nicht ausreichend beschrieben ist, wenn man es nur im Lichte der jüngsten Entwicklungen sieht, etwa im Lichte der Fernsehlampen, die etwa den fahnenflüchtigen Enkel Harry und seine Frau Meghan ausleuchteten oder die peinliche Not des sich windenden Prince Andrew, ihres Lieblingssohns der sich in einem BBC-Interview um Kopf und Kragen redete.

Per Kaiserschnitt in ihr zukünftiges Königreich geholt

Als Elizabeth Alexandra Mary am 21. April 1926 gegen drei Uhr morgens in London per Kaiserschnitt in ihr zukünftiges Königreich geholt wird, da ist sie von dem Thron, auf dem gerade ihr Großonkel sitzt, noch weit entfernt. Die Thronfolge verläuft in einer anderen Linie der Familie. Zum vierten Geburtstag bekommt sie eine Sammlung Bauklötze geschenkt, gefertigt aus Hölzern aus sämtlichen Empire-Staaten. Doch dann verzichtet 1936 unerwartet König Eduard VIII. auf den Thron, weil er sein Leben lieber mit der glamourösen, geschiedenen Amerikanerin Wallis Simpson teilen will.

Da schwankt auf einmal die gesamte Monarchie. Ihr Vater George VI. springt ein - und die Thronfolge weist plötzlich in ihre Richtung. Mit elf Jahren weiß Elizabeth, die man noch „Lilibet“ ruft, dass ihr eines Tages der Thron blüht. Und dieser Thron verspricht ein Leben, in dem Macht und Ohnmacht immer nahe beieinander liegen werden. Denn das Staatsoberhaupt hat in der konstitutionellen Monarchie qua Verfassung wenig zu entscheiden. Es soll repräsentieren. Sogar ihre Reden werden vorher mit den jeweiligen, über die Jahre wechselnden Regierungen abgesprochen. Außenstehende fragen sich, wie man das aushält. Doch politisch zur Bedeutungslosigkeit gezwungen, hat sie diese mit eigener, von vielen auf der ganzen Welt bewunderten Haltung gefüllt.

Elizabeth II. vollbringt das Kunststück, umgeben vom Prunk ihrer Paläste bescheiden zu wirken. Sie kann formal über kaum jemanden herrschen, also beherrscht sie sich selbst. Allen Einfluss leitet sie ab aus der Art, wie sie mit sich selber umgeht. Es ist Führen durch Lebensführung. Herrschen durch Selbstbeherrschung. Auf diesem Terrain bringt sie es zur Meisterschaft. Und mit ihrer Art, das Amt auszufüllen, legitimiert sie es zugleich. Selbst Monarchie-Skeptiker können dadurch nicht anders, als die Queen persönlich zu respektieren.

Königin Elisabeth II. hält die so genannte "Queen's speech" bei der feierlichen Wiedereröffnung des britischen Parlaments
Königin Elisabeth II. hält die so genannte "Queen's speech" bei der feierlichen Wiedereröffnung des britischen Parlaments © dpa

Die Frau, die die Macht hat, Feiertage zu erlassen, tut dies, damit das Volk ihre Familienfeste mit ihr feiern kann: 1981 für die Hochzeit von Charles und Diana, 2002 für ihr 50. Thronjubiläum, 2011 für die Hochzeit von Kate und William, 2012 für ihr 60. Thronjubiläum. Und noch einmal Feiertage in diesem Jahr für ihr Platin-Thronjubiläum, an dem sie schon kaum noch persönlich teilnehmen kann.

Die Briten haben sie kennengelernt als Frauchen von mehreren Generationen an Corgies, echte Expertin in der Pferdezucht, Fan von Galopprennen und Jockeys, als Befehlshaberin über eine Armada von Angestellten, Mutter des Thronfolgers Charles, Oberhaupt der anglikanischen Kirche und der Staaten des Commonwealth, unermüdliche Absolventin von Auslandsreisen, Trägerin des Diadems. Die Queen hat nicht nur Mick Jagger zum Ritter geschlagen. Sie mag Gin und Bentleys, Hüte stehen ihr und mit ihrer Handtasche sendet sie Eingeweihten Signale.

Elizabeth II. ist nie auf das Niveau ihrer Gedenktassen gesunken

Es gab Jahre, da kam keine britische Comedy ohne Königin-Witze aus, doch inmitten der Masse der Kalender, Geschirrhandtücher und Winkepuppen ist sie selbst nie auf das Niveau ihrer Gedenktassen gesunken. Mochte die Monarchie zwischen Witz und Würde pendeln, sie selbst erfüllte ihre Rolle mit heiligem Ernst. Sie stammt schließlich aus dem prä-ironischen Zeitalter, mit Ernst gerüstet für dieses merkwürdige, kuriose Leben mit einer einzigartigen Aufgaben, von denen es in der modernen Gegenwart nichts Vergleichbares gibt.

Erarbeiten muss sie sich ihre Perspektive auf die Welt selbst. Denn eine Schule hat sie nie besucht. Sie soll eine „schöne“ Kindheit haben, beschließen ihre Eltern, denn später würde es noch hart genug. Außerdem wollen sie keine intellektuelle, sondern eine praktische Prinzessin. Das ist eine Popularitäts-Strategie. Intellektuelle glaubt man bei Hofe, schreckten das Volk nur ab. So erhält Elizabeth neun Stunden Unterricht von einem Hauslehrer – in der Woche. Als Elizabeth 13 ist, erklärt ihr ein Verfassungsrechtler regelmäßig das Verhältnis von Staat und Krone und ihre Rolle in der Welt. Ihre Schwester Margaret wird sich später bitter über die fehlende Bildung beschweren.

Dass sie die Nachmittage ihrer Kindheit mit Pferden und Hunden in der Natur verbringt, hat später auch sein Gutes. Denn im Zweiten Weltkrieg ist das Fleisch auch auf Schloss Windsor knapp, da beteiligt sich Elizabeth an der Jagd. Die Frau, die es ihr Leben lang vorziehen wird, sich auf ein Ziel zu fokussieren, heißt es, schießt lieber mit Kugeln als mit Schrot. Sie lernt später auch, wie man den Motor eines Lasters repariert. Von einem einzigen Abend in ihrem ganzen Leben weiß man, dass sich die Prinzessin mit ihrer Schwester Margaret ohne Aufsicht unter normalen Menschen bewegt: Am 8. Mai 1945 mischt sie sich unter die Menge, um das Ende des Krieges zu feiern.

„Gibt es irgendjemanden in der königlichen Familie, der König oder Königin werden will? Ich glaube nicht.“, hatte Prinz Harry 2018 in einem Interview mit Newsweek gesagt. All der Zwang, die Verpflichtungen, das Korsett! So sehen das heute viele. Doch „wollen“ war für Elizabeth II. in diesem Zusammenhang nie eine Kategorie. Es war eine Pflicht, auch eine Ehre, der Dienst am Land.

1953: Königin Elizabeth II. von Großbritannien und ihr Mann Prinz Philip, Herzog von Edinburg winken nach der prunkvollen Krönungszeremonie
1953: Königin Elizabeth II. von Großbritannien und ihr Mann Prinz Philip, Herzog von Edinburg winken nach der prunkvollen Krönungszeremonie © Str/PA/dpa (Archivbild)

An ihrem 21. Geburtstag, nun volljährig ihrer Zukunft ins Auge blickend, leistet sie per Rundfunk aus Kapstadt einen Schwur, der in das gesamte Empire übertragen wird: „Ich erkläre vor euch allen, dass mein ganzes Leben, ob es lang währt oder kurz, dem Dienst an euch und der großen Familie des Empires, der wir alle angehören, gewidmet sein soll. Möge Gott mir helfen, dieses mein Gelöbnis zu erfüllen.“ Und wie ernst sie diesen quasi-religiösen Eid, diese Selbstverpflichtung nehmen würde, konnte man schnell ahnen.

Sie stürzt sich in die Arbeit. Sie mag dieses Riesenreich geerbt haben, aus einer Laune des Schicksals heraus, ihre Rolle darin aber will sie sich erarbeiten. Einmal in der Woche trifft sie Premier Winston Churchill, der von ihrer Wissbegierde begeistert ist, um mit ihm die Angelegenheiten des Staates zu besprechen. Vermutlich sind diese Treffen eine gründlichere, nützlichere Ausbildung für die 25-Jährige, als es eine formale Schulbildung jemals hätte sein können.

Kinder beschwerten sich über ihre Arbeitswut

Monate nach ihrem Amtsantritt verabschieden sich bereits mehrere Staaten des Commonwealth in die Unabhängigkeit. Die Queen bewahrt Haltung und bereist jahrzehntelang die übrigen Länder ihres Restreichs. Sie fuchst sich ein in die mehrfache Haushaltsführung ihrer Familie: Buckingham Palace, Windsor, Sandringham, Balmoral im Sommer – und das bisschen Haushalt wird von einer Schar Angestellter bewältigt, die die Teppiche rückwärts gehend saugen, damit ihre Fußabdrücke nicht sichtbar sind. Wenn die Familienmitglieder Möbel verrücken wollen, melden sie das der Polizei, damit die ihre Pläne aktualisieren kann. Bizarren Informationen wie diesen, deren Wahrheitsgehalt niemand überprüfen kann, wird offiziell nie widersprochen. „Never complain, never explain.“

Ihre vier Kinder haben sich später über ihre Arbeitswut beschwert. Vor allem Charles, der eine Kindheit lang nicht nur auf den Thron, sondern auch immer auf seine Mutter wartet und dann ins Protokoll zurück gepresst wird. Er muss formell um einen Termin bei ihr bitten und sie mit „Ihre Majestät“ anreden.

Möglich, dass viele diese Dinge für das heutige Empfinden an der Grenze zur Lächerlichkeit stattfinden. Oder was würden Sie sagen, wenn jeden Morgen um 9 Uhr vor Ihrem Schlafzimmerfenster ein Dudelsackpfeifer exakt 15 Minuten lang schottische Lieder spielt? Bloß, weil das schon seit 1843 so gewesen ist? „Die Queen“ - einen Namen braucht sie schon bald nicht mehr, es reicht der bestimmte Artikel - hat es als ihre Aufgabe begriffen, diese Traditionen fortzuführen.

Prinz Philip ist der Entlastungswitz der Monarchie

Und sie fällt niemals aus der Rolle - dafür hat sie ja Prinz Philip. Den einzig möglichen Ehemann mit seinen unmöglichen Witzen. Es hat sie erwischt, als sie ihn mit 13 Jahren zum ersten Mal sah, den 1,83-Meter-Marineoffizier, geboren in Griechenland, deutscher Adel im Blut. Sie wollte fortan den oder keinen. Prinz Philip war dann lange Jahre eine Art Entlastungswitz der Monarchie. Ein geradezu Shakespeare’scher „Comic Relief“, der für einen Moment die Spannung des Protokolls löste. Im Internet kursieren Listen mit seinen unmöglichsten Kommentaren. Und als Freund der gepflegten Entgleisung brachte er den Stoizismus seiner Frau nur umso besser zur Geltung.

Aber dieser Stoizismus wird nicht immer nur positiv gesehen. Die Queen gibt sich auch dann noch unbewegt, als Prinzessin Diana, das magersüchtige, gejagte Palastopfer, in einem Pariser Tunnel stirbt. Nein, kein Staatsbegräbnis! Auch, wenn sie die Mutter der Thronfolger sein mag, Diana selbst sei aktuell geschieden. Habe also keine Funktion mehr am Hofe. Und plötzlich sieht die Coolness der Queen wie Kälte aus. Königin der Herzen? Herz? Ist diese Frau womöglich schon zu Lebzeiten von innen heraus zu einem Denkmal versteinert? 1992 sieht die Königin so hilflos aus wie nie.

Aber sie lernt. Lenkt ein. Fährt nach London, sieht sich das Blumenmeer an. Vielleicht hat sich das Ideal der Härte überlebt. Annie Leibovitz fotografiert sie später zum ersten Mal ohne Krone – ein Meilenstein, die Queen ist ein Mensch! Dann ein zweites Mal im Kreise ihrer Enkel, der Aspekt der Großmutter ist stärker als der der Königin. Die größte Bedrohung für die Monarchie, musst Elizabeth II. feststellen, kommt nicht von außen. Geht nicht von denen aus, die die Monarchie für überholt halten. Das Minenfeld ist die Familie, so wie damals, als 1936 ihr Onkel kniff. Und ihre Familie ist es auch, die von der Öffentlichkeit am strengsten bewertet und mitunter gnadenlos ins Visier genommen wird.

Queen Elizabeth II. und Prinz Philipp
Queen Elizabeth II. und Prinz Philipp © Fiona Hanson/PA Wire/dpa (Archivbild)

Aber was soll sie machen, wenn ihre Kinder nicht ihren Prinzipien, sondern den eigenen Trieben folgen? Sie trennen sich von ihren Ehepartnern, heiraten erneut. Und zwar, wen sie wollen. Wen auch sonst? Die Öffentlichkeit fragt sich bei Charles: Wird man jemals einen König vergleichbar respektieren können, von dem man so viele Intime Dinge weiß? Zuletzt ist ihr Enkel Harry samt Frau und Kind in die USA ausgewandert, Westküste, so weit weg wie möglich auf diesem Planeten. Nach dem Interview von Meghan und Harry mit Oprah Winfrey standen plötzlich Anklagen gegen die Windsors im Raum, Rassismus im Palast, mangelnde Unterstützung bei psychischen Problemen. Die Enkel sind einander entfremdet, ihr Lieblingssohn Prinz Andrew ist aller Ämter enthoben worden, verwickelt in die Machenschaften des Mädchenhändlers Jeffrey Epstein. Da war es plötzlich wieder, das Bild der dysfunktionalen Familie.

Schon in den 50er Jahren hat jemand die Geschehnisse am Hofe eine „Soap“ genannt. Es ist die am längsten laufende Staffel in Echtzeit überhaupt. Ihr Stoff darf sich kaum politisch entwickeln, deshalb muss er aus dem Privaten kommen. Viele sagen, in Wahrheit sei die „Firma“ ein riesiges Unternehmen der Unterhaltungsindustrie, das zugleich den Tourismus ankurbelt. Die Einnahmen aus diesem Unternehmen überträfen regelmäßig die Summe, die der Staat für ihren Unterhalt ausgibt. Und in der Tat unterhalten die Dramen und Tragödien die Welt. Zuletzt Harry, der das Weite suchte.

Prinzessin Elizabeth 1951.
Prinzessin Elizabeth 1951. © PA Wire/Netflix

Doch als der Brexit das Land aufwühlt, wird die Rolle der Queen noch einmal wichtiger denn ja. Elizabeth II. gilt als ein Fels in der Brandung des Wahnsinns, als die Figur, auf die sich auch die zerstrittensten Parteien einigen können. Wenn man sich auch auf nichts verlassen kann – die Queen bleibt sich treu. Dem Land treu. Ihren Prinzipien treu. Ihrem Ehemann sowieso, der im April 2021 mit 99 Jahren nach 74 Jahren Ehe stirbt. Es spielt keine Rolle, dass ihr die Verfassung des Landes wenig Spielraum einräumt. Ihr Herrschaftsbereich erstreckt sich längst auf die innere Verfassung der Engländer.

Für die meisten von ihnen war die Queen 70 Jahre lang zugleich persönlich unerreichbar und doch in allen Bereichen des Lebens präsent: Unzählige Queen’s Pubs und Colleges und Roads sind in jeder Stadt, ihr Gesicht schaut auf jedem Geldschein aus dem eigenen Portemonnaie. Beim Bezahlen hält man mit jeder Münze ihr geprägtes Profil in der Hand. Und jede klebrige Briefmarke mit ihrem Bild, die ein Untertan rückseitig anleckt, hielt die Monarchie zusammen. Niemand wird mehr das Handtaschen-Esperanto beherrschen. Ascot, ja überhaupt der Galoppsport, wird in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Bald wird selbst in England niemand mehr wissen, wie man richtig knickst.