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Putins Krieg: Östlicher Wahn und westliche Verblendung

Aufklärende Bücher über den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Ziele gibt es, seit er im Amt ist. Die Welt war gewarnt.

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Den „Mann ohne Gesicht“ nennt die gebürtige russische Autorin Masha Gessen den Herrscher im Kreml.
Den „Mann ohne Gesicht“ nennt die gebürtige russische Autorin Masha Gessen den Herrscher im Kreml. © POOL TASS Host Photo Agency/AP/dpa

Von Karl Adam

Auch in deutschen Buchhandlungen fehlt dieser Tage selten der obligatorische Russland-Ukraine-Tisch. Von Dutzenden Covern schauen Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj auf die Leserschaft, als handele es sich beim Angriffs- und Eroberungskrieg der Russischen Föderation um einen Zweikampf. Dabei ist das Interesse für den ukrainischen Präsidenten, der erst seit 2019 im Amt ist, naturgemäß neuerer Natur. Putin-Bücher gibt es dagegen seit vielen Jahren in Massen. Wir waren also gewarnt. Zum Beispiel durch die Enthüllungen der Anna Politkowskaja.

Deren Bücher erschienen früh nach Putins Machtübernahme. „Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg“ (2003), „In Putins Russland“ (2005) oder „Russisches Tagebuch“ (2007) legten dar, was erst heute, im Jahre 2022, mehr oder weniger Allgemeinwissen geworden ist: Dass der russische Präsident ein skrupelloser Verbrecher ist, der zur Erreichung seiner Ziele über Leichen geht. Es wurden im Laufe der Jahre Hunderte, Tausende, Hunderttausende Leichen. Darunter Anna Politkowskaja, die 2006 in Moskau erschossen wurde.

Am 4. Februar begann der russische Eroberungsfeldzug in der Ukraine. Das bisherige Ergebnis sind massive Verwüstungen wir hier in Mykolajiw und unzählige Todesopfer auf beiden Seiten.
Am 4. Februar begann der russische Eroberungsfeldzug in der Ukraine. Das bisherige Ergebnis sind massive Verwüstungen wir hier in Mykolajiw und unzählige Todesopfer auf beiden Seiten. © Emilio Morenatti/AP/dpa

Eine seltsame Häufung plötzlicher Todesfälle

Ein solches Schicksal hätte wohl auch der in Moskau geborenen Publizistin Masha Gessen gedroht, wäre sie nicht rechtzeitig ins US-Exil zurückgekehrt. Nach der Lektüre von „Der Mann ohne Gesicht – Wladimir Putin. Eine Enthüllung“ (2013) konnte eigentlich niemand, der halbwegs bei Verstand war, weiterhin glauben, Putin sei ein „lupenreiner Demokrat“, wie es Bundeskanzler Gerhard Schröder 2004 erklärt hatte. Dafür waren die „tragischen Todesfälle“ auf diesen Seiten, die Dichte an plötzlichen Herzinfarkten und Fensterstürzen einfach zu hoch.

Doch Ähnliches konnte man in entsprechenden Kreisen auch 2014 noch lesen. So mutmaßte seinerzeit der Vordenker der legendären Ostpolitik, Egon Bahr (SPD), im Zuge der Krimkrise: „Ich habe jetzt das Gefühl, als ob man im Grunde dem Putin übel nimmt, dass er kein Demokrat nach unserer Auffassung und nach unserer Machart ist.“ Wer sich bereits in den Jahren zuvor mit der Herrschaftslogik des Putinismus auseinandersetzen wollte, wurde durch die Politikwissenschaftlerin Margareta Mommsen informiert: „Wer herrscht in Russland? Eine Großmacht zwischen Anarchie und Demokratie“ (2004) oder „Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland“ (2007) trugen beide noch den Begriff „Demokratie“ im Titel. Und das zu einer Zeit, in der hierzulande bereits spekuliert wurde, ob man bei Putins Russland nicht von einer „Demokratur“ sprechen sollte.

Die Journalistin Anna Politkowskaja schrieb kritische Bücher und Artikel über Wladimir Putin. 2006 wurde sie in Moskau erschossen. Die Russin war nur einer von mehreren seltsamen Todesfällen in den Reihen der Opposition.
Die Journalistin Anna Politkowskaja schrieb kritische Bücher und Artikel über Wladimir Putin. 2006 wurde sie in Moskau erschossen. Die Russin war nur einer von mehreren seltsamen Todesfällen in den Reihen der Opposition. ©  [M] dpa/ SZ

Wie sich der KGB Russland zurückholte

Noch war die Repression im Inneren nicht so hemmungslos wie nach seiner Rückkehr an die Macht im Jahre 2012. Das hat sich seither massiv verändert, und jedwede Kritik an der Politik des faktischen Despoten birgt ein stetig gestiegenes Risiko; zunächst natürlich für einheimische Kritiker, deren Riege inzwischen aber praktisch ausgestorben ist, aus naheliegenden Gründen. Doch auch, wer kein Russe ist, sieht sich oft mit Gegenwind konfrontiert.

Besonders hart angegangen wurde die britische Investigativjournalistin Catherine Belton für ihr Buch „Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“ von 2020, das als umfassendster und gründlichster Bericht der internationalen Destabilisierungsaktivitäten russischer Regierungspolitik gelten darf. In keinem anderen Werk werden beispielsweise die SED- und Stasi-Verbindungen des heutigen Nord-Stream-Managements sowie die Verflechtungen rund um Ex-Bundeskanzler Schröder derart minutiös aufgedeckt.

Einmal Geheimdienstler, immer Geheimdienstler: Ausweis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) von Wladimir Putin, der damals Major des KGB in Dresden war.
Einmal Geheimdienstler, immer Geheimdienstler: Ausweis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) von Wladimir Putin, der damals Major des KGB in Dresden war. © BStU

Berichterstattung „tendenziös“ und „zu russlandkritisch“?

Und das ist nur das deutsche Beispiel. Entsprechende Aktivitäten gab und gibt es auch in Großbritannien, dessen Hauptstadt nicht umsonst bereits Londongrad genannt wurde, in Österreich, Italien, Frankreich, Schweiz und den Niederlanden – um nur die wichtigsten Staaten zu nennen. In fast all diesen Ländern unternahmen Putin-Getreue rechtliche Schritte, um die Veröffentlichung des Buches zu verhindern – zum Glück ohne Erfolg.

Deutsche Journalistinnen wie Sabine Adler (Deutschlandfunk), Golineh Atai (ARD) oder Katrin Eigendorf (ZDF) haben die Ereignisse in Russland und Osteuropa ebenfalls seit vielen Jahren im Blick und sehen an den massenhaft geworfenen Nebelkerzen vorbei. Insbesondere im Umfeld der Ereignisse von 2014 mussten sie, die ja anders als der damalige Mainstream verstanden, was gespielt wurde, tonnenweise Hass aushalten. Es war dies eine Zeit, in der der Programmbeirat der ARD dem Senderverbund eine Rüge wegen einer „voreingenommenen“, „tendenziösen“ und „zu russlandkritischen“ Berichterstattung erteilte – aus heutiger und auch damaliger Sicht ein geradezu grotesker Vorgang.

Die britische Investigativjournalistin Catherine Belton wird für ihr Buch „Putins Netz" hart kritisiert.
Die britische Investigativjournalistin Catherine Belton wird für ihr Buch „Putins Netz" hart kritisiert. ©  AP/dpa

"Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft"

Golineh Atai ist inzwischen notgedrungen geübt im Kampf mit „Hassbloggern und Meinungsagenten“. In „Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist“ berichtete sie 2019 von einer Neuerfindung Russlands im Zeichen alter imperialer Größe und es schien sich in dem einen oder anderen Interview dazu das alte Nietzsche-Diktum zu bewahrheiten: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Tief in diesen Abgrund schaut auch Sabine Adler in „Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft“. Dafür musste sie in ihrem Werk neben erhellenden historischen Rückgriffen lediglich zusammentragen, was deutsche Politikerinnen und Politiker im Laufe der Jahre an Unsäglichkeiten gegenüber der Ukraine vom Stapel ließen.

Adlers Buch endet mit Unverständnis darüber, dass die deutsche Politik auch nach 2014 keinen Kurswechsel vorgenommen, vielmehr die Abhängigkeit in Sachen Gas mit dem Bau von Nord Stream 2 und dem Verkauf der Gasspeicher sogar noch intensiviert hat. Nur der kritische Blick auf „Deutschlands Versagen“ könne in Zukunft Sicherheit davor gewährlisten, dass sich derartige Fehler wiederholen. Den mit der Abhängigkeit von China droht ein entsprechendes Szenario im Quadrat.

Die Demokratie in Russland wurde unter Wladimir Putin ausgehöhlt, im kommunalen Bereich gibt es sie nicht mehr. 2019 protestierten tausende Moskauer dafür, dass bei der Wahl zum Stadtparlament überhaupt Kandidaten der Opposition zugelassen werden - vergeb
Die Demokratie in Russland wurde unter Wladimir Putin ausgehöhlt, im kommunalen Bereich gibt es sie nicht mehr. 2019 protestierten tausende Moskauer dafür, dass bei der Wahl zum Stadtparlament überhaupt Kandidaten der Opposition zugelassen werden - vergeb ©  [M] dpa / SZ

Was könnte nach Putin kommen?

Im August legte Kathrin Eigendorf den Reportage-Band „Putins Krieg. Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen“ vor. Der Haupttitel ist dabei unglücklich gewählt, haben doch gerade wir Deutschen gelernt, dass die Fokussierung auf die eine Person an der Spitze etwas ungemein Relativierendes hat. Doch lesen sich Eigendorfs Berichte aus den Vorjahren und ersten Monaten 2022, in denen sie ihren Leserinnen und Leser das Gesicht des Krieges durch Personen des Alltags näherbringt, als wertvolle Ergänzung zur „großen Politik“.

Im Oktober erschien dann eine weitere Perspektive, und zwar von einem engen Vertrauten des inhaftierten russischen Dissidenten Alexei Nawalny: In „Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens“ berichtet Leonid Wolkow aus dem Innenleben des Nawalny-Apparats. Er zeichnet den langsamen, aber stetigen Weg Russlands in die Diktatur Putins nach und vermag Hoffnung darauf zu wecken, dass die Autokratie auch in Russland kein Dauerzustand sein muss.

Das Ziel: Freiheit für die Ukraine, Russland und Europa

Nun ist Wolkow Politiker und mag die demokratischen Möglichkeiten mitunter etwas rosig zeichnen, ebenso wie er bei der Bedeutung Nawalnys – auch im Verhältnis zu anderen Oppositionellen – durchaus etwas überzieht. Dennoch macht er eine positive Entwicklung Russlands nach dem Ende des Putinismus plausibel und zeigt, wie die Opposition gestärkt werden könnte.

Dabei hält Wolkow nicht zuletzt der deutschen Politik den Spiegel vor: Ihre jahrelange Nähe zum russischen Präsidenten nahm dem Widerstand gegen dessen Gewaltregime immer wieder jeglichen Wind aus den Segeln. Insgesamt zeigt sich: Es mangelt nicht an öffentlich zugänglicher Information zum Regime Putins, das zusehends Charakteristika des Faschismus annimmt. Es bedarf jedoch der richtigen Schlüsse, die im Interesse der Freiheit der Ukraine, Europas und Russlands selbst gezogen werden müssen. Die Lektüre der richtigen Bücher kann dabei eine Hilfe sein.

Catherine Belton: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. Harper Collins, 740 Seiten, 26 Euro

Sabine Adler: Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft. C. H. Links, 248 S., 20 €

Golineh Atai: Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist. Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 20 Euro

Katrin Eigendorf: Putins Krieg – Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen. S. Fischer, 256 Seiten, 24 Euro

Leonid Wolkow: Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens. Droemer, 240 Seiten, 22 Euro