Wirken die Sanktionen gegen Putin überhaupt?

Von Thorsten Mumme, Frank Herold und Sandra Lumetsberger
Seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar haben die USA, die EU und Großbritannien sieben Sanktionspakete verabschiedet, die Russlands Zugang zu den internationalen Märkten einschränken, russische Finanzmittel in dreistelliger Milliardenhöhe blockieren und eine Vielzahl westlicher Unternehmen gezwungen haben, sich aus Russland zurückzuziehen. Gleichzeitig gibt es keinerlei Anzeichen, dass der Kreml seinen Kriegskurs ändern könnte. Möglicherweise waren die Strafmaßnahmen nicht stark genug oder sie werden nicht effektiv genug umgesetzt.
Öfter ist zu hören, die westlichen Strafmaßnahmen seien wirkungslos, aber das ist aus ökonomischer Perspektive Unsinn. Die jüngsten Zahlen des Finanzministeriums in Moskau und der Statistikbehörde Rosstat klingen nicht gut. Das GDP sank im zweiten Quartal um 4,7 Prozent, die Inflation liegt bei mehr als 15 Prozent. Der Staatshaushalt verzeichnet erstmals seit vielen Jahren ein leichtes Defizit.
Russland versucht, die Sanktionen zu umgehen
Die Automobilproduktion ist faktisch zusammengebrochen. Der Metallurgie-Sektor hat einen Rückgang um 29 Prozent zu verzeichnen. Und selbst der Kreml muss eingestehen, dass die Abwanderung von Fachkräften vor allem aus dem IT-Bereich schmerzhaft ist.
Aber die Situation ist widersprüchlich. Ende Juli veröffentlichten Ökonomen der US-Eliteuniversität Yale eine Studie, laut der die russische Wirtschaft sich dank der Sanktionen auf einen Abgrund zubewegt. Zeitgleich kommt ein Kommentator des Wirtschaftsmagazins „Bloomberg“ zu dem Schluss, auf den Öl- und Gas-Märkten habe Russland „den Sieg davongetragen“. Im Juli sei die Ölförderung in Russland wieder auf Vorkriegsstand gewesen.
Sanktionen gegen Oligarchen sollten einen Keil zwischen die Machtelite und die Unternehmer treiben. Doch für die Superreichen seien die Strafaktionen leicht zu umgehen, schrieb die russischsprachige Ausgabe des Wirtschaftsmagazins „Forbes“ kürzlich. Ihre Firmengeflechte und Beteiligungen, auf die der Westen Zugriff haben könnte, sind kaum zu durchschauen.
Unternehmer überschreiben beispielsweise auch einfach ihre Anteile an Geschäftspartner oder Familienmitglieder, die nicht auf den Listen stehen. Oder sie klagen gegen Sanktionen, denn im Westen gilt schließlich das Rechtsstaatsprinzip. Für einige der Superreichen bietet sich sogar eine Gelegenheit, noch reicher zu werden. Sie übernehmen derzeit für Spottpreise die Geschäfte, von denen sich die ausländischen Investoren in Russland zurückgezogen haben.
Erfinderisch bei den Sanktionen ist auch die russische Machtelite. Das Parlament hat ein Gesetz über den „parallelen Import“ beschlossen. Dahinter verbirgt sich der Versuch, die mit westlichen Exportbeschränkungen belegten Erzeugnisse über noch befreundete Nachbarn wie Kasachstan einzuführen.
Gegen Belarus beispielsweise sind noch keine Sanktionen für Konsumgüter verhängt worden. Also organisieren russische Reiseveranstalter zunehmend Shopping-Touren in das Nachbarland, damit die russische Mittelklasse nicht auf italienische Textil-Marken oder französisches Parfüm verzichten muss.
Wie haben westliche Firmen reagiert?
Bei Ikea und H&M ist der Rückzug aus Russland seit vergangener Woche in den Geschäften sichtbar. Beide Unternehmen haben den Schlussverkauf eingeläutet und räumen ihre Lager in Russland. Nach der Invasion waren die Geschäfte gestoppt worden, nun werden sie endgültig abgewickelt.
Entlassungen sind angekündigt. H&M teilte mit, 6000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würden von dem Rückzug des Unternehmens betroffen sein. Ikea sagte im Juni, viele Mitarbeiter würden ihren Arbeitsplatz verlieren, und versprach, die Löhne ein halbes Jahr weiter zu zahlen. Nach eigenen Angaben hat der schwedische Möbelkonzern 15.000 Beschäftigte in Belarus und Russland.
Beide internationale Ketten stehen beispielhaft für den Rückzug westlicher Unternehmen aus Russland. So hat etwa McDonald’s seine 850 Restaurants an einen russischen Unternehmer verkauft, der sie unter dem Namen „Wkusno-i Totschka“ („Lecker und fertig“) wieder eröffnen will. Auch die US-Ketten Coca-Cola und Starbucks haben ihre Geschäfte eingestellt. Deutsche Automarken wie Volkswagen oder Mercedes haben die Exporte nach Russland gestoppt und ihre dortige Produktion ausgesetzt. Das gilt für die meisten Dax-Firmen.

Deutlich kürzer ist die Liste der Firmen, die ihr Russland-Geschäft weiterhin betreiben wollen. Dazu gehören zum Beispiel die französische Baumarktkette Leroy Merlin, die zwölf Märkte weiter betreibt. Die Unternehmen Pepsico, Nestlé und Johnson & Johnson haben angegeben, nur noch lebenswichtige Waren wie Medikamente und Babynahrung weiterhin liefern zu wollen.
Nach offiziellen Zahlen des Kremls wirkt sich all das nicht auf den Arbeitsmarkt in Russland aus. Alexej Yussupov, Leiter des Russlandprogramms der Friedrich-Ebert-Stiftung, ist jedoch überzeugt, dass ein Anstieg der Arbeitslosigkeit zum Ende des Jahres unumgänglich ist. So sei bereits ein nomineller Lohnrückgang zu verzeichnen. Das sei ein Signal für einen schwächelnden Arbeitsmarkt. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit werde derzeit noch mit Kurzarbeit verschleiert, die Firmen in Russland aus Betriebsmitteln zahlen müssten.
Zudem merkte Yusupov schon im Juli im IPG-Journal der SPD-nahen Stiftung an, dass Jobportale eine sinkende Zahl der Stellenanzeigen und einen kräftigen Anstieg von Jobgesuchen registrieren. Etwa zwölf Prozent der formell beschäftigten Russinnen und Russen seien abhängig von ausländischem Kapital, der entsprechenden Unternehmenspräsenz sowie ungestörten Handelsbeziehungen. Dass viele westliche Firmen ihre Fachkräfte aus Russland abgezogen haben, schwächt die Wirtschaft zusehends. Vor allem IT-Experten fehlen.
Waffenindustrie ist eingeschränkt
Bilder von zurückgelassenen Panzern, Berichte über Waschmaschinen-Chips, die in den Militärfahrzeugen verbaut waren, machten in den vergangenen Monaten die Runde. Franz-Stefan Gady, Militärberater und Forscher am International Institute for Strategic Studies, mahnt zur Vorsicht. „Russland hat noch genügend Munition, um so einen Konflikt lange zu führen“, sagt er dem Tagesspiegel. Auch die Waffensysteme, die größtenteils aus Sowjetzeiten stammen, sind sanktionsresistent.
Bei Uralwagonsawod, dem größten Panzerhersteller, der laut britischem Geheimdienst zuletzt seine Produktion eingestellt haben soll, wird nach wie vor gearbeitet. Das zeigen Satellitenbilder. „Man weiß nicht, ob neue Panzersysteme hergestellt oder alte repariert werden. Es zeigt aber, dass die Industrie nicht zum Erliegen gekommen ist“, sagt Gady. Allerdings ortet er Mängel bei Präzisionsmunition: „Sie benutzen ein Langstreckenflugabwehrsystem, das eigentlich gegen Kampfflugzeuge, Drohnen und Bomber eingesetzt wird, um Ziele am Boden anzugreifen.“
Wie viel Russland noch an westlicher Technologie, Ersatzteilen und Chips hat, die zivil und militärisch verbaut werden, ist nicht bekannt. Genauso wenig, ob es nicht doch Wege findet, die Sanktionen zu umgehen, wie einst im Kalten Krieg, etwa durch Zweitanbieter.
„Manche Länder haben auch kein Interesse daran, dass die russische Verteidigungsindustrie komplett implodiert“, sagt Gady. Zum Beispiel Indien, 45 Prozent der Hardware, Ausrüstung und Waffensysteme, die das Land besitzt, sind sowjetischer beziehungsweise russischer Bauart. „Wenn Indien nicht mehr auf russische Ersatzteile zurückgreifen kann, oder deren Expertise im Verteidigungssektor, ist das ein enormes nationales Sicherheitsproblem.“
Verfehlen die Energiesanktionen ihr Ziel?
Mit Blick auf die Handelsbilanz zwischen Deutschland und Russland könnte man fast vermuten, der Kreml hätte Sanktionen gegen die Bundesrepublik verhängt. Denn während der Export einbricht, steigt Deutschlands Import aus Russland. Im ersten Halbjahr 2022 legte der Wert der Wareneinfuhren sogar um 51,3 Prozent auf 22,6 Milliarden Euro zu. Der Grund dafür sind die steigenden Energiepreise.
Weil Deutschland in den ersten sechs Monaten des Jahres vor allem Gas und Erdöl aus Russland eingekauft hat, musste sehr viel mehr Geld nach Moskau überwiesen werden als im Vorjahr. Mengenmäßig werden die Sanktionen hingegen sichtbar, da sanken die Russlandimporte um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Putin dürfte das egal sein. Der lange Hebel, an dem er mit seinen Gaslieferungen sitzt, verschafft ihm sogar mehr Geld für weniger Volumen.
Auch beim Öl scheinen die Sanktionen den Kreml-Chef bislang kaum zu treffen. Nachdem die Öl-Förderung im März und April rapide abfiel, stieg sie danach umso schneller wieder an. Bloomberg zufolge konnte Russland im Juli wieder mit 10,8 Millionen Barrels pro Tag praktisch wieder genau so viel Öl verkaufen wie vor dem Kriegsbeginn – damals waren es elf Millionen. Dem US-Nachrichtendienst zufolge dürfte dieser Wert im August sogar übertroffen werden.
Russland ist es gelungen, schnell andere Abnehmer für sein Öl zu finden. Indien etwa gehört seit dem Krieg zu den größten Käufern von russischem Öl. Mitunter werden Sanktionen sogar gezielt umgangen. So haben die USA Indien gegenüber nach Angaben eines dortigen Zentralbankers Besorgnis über einen Bruch der Wirtschaftssanktionen gegen Russland geäußert. Demnach habe ein russischer Tanker auf offener See an ein indisches Schiff Öl übergeben, das dann in Indien verarbeitet und schließlich in die USA exportiert worden sei, berichtete der Vizegouverneur der Reserve Bank of India, Michael Patra, am Samstag bei einer Finanzkonferenz.
Warum ist Putin vom Sieg überzeugt?
Der russische Präsident wusste natürlich, dass der Westen mit weiteren Sanktionen auf die Aggression reagieren wird. Aber seine Priorität stand unerschütterlich, ist Leonid Wolkow, ein Vertrauter des inhaftierten Oppositionellen Andrej Nawalny, überzeugt. Putin wollte den Machtwechsel in Kiew um jeden Preis. Nach Ansicht Wolkows gilt für Putin militärisch wie ökonomisch die gleiche Logik: Über Sieg und Niederlage entscheiden nicht die Verluste, sondern die Toleranz und Leidensfähigkeit der Gesellschaft. „Ein Einbruch der Wirtschaft um 0,5 Prozent ist ein großes Problem für einen westlichen Politiker. Ein Einbruch der russischen Wirtschaft um sechs Prozent ist für Putin verkraftbar“, glaubt Wolkow.
Der wirtschaftliche Schaden mag für Russland um ein Vielfaches größer sein als für den Westen. Dafür ist Putins Macht über die Gesellschaft um ein Vielfaches größer als die jedes westlichen Politikers. Spätestens im Winter wackeln die Sanktionen, das ist die Spekulation, auf die der Kreml setzt. Und dann kommen auch die westlichen Firmen zurück. Einige von ihnen, wie der französische Autokonzern Renault, haben Russland mit einer Option verlassen, in den nächsten fünf Jahren in ihre Werke zurückzukehren.
Wie bewerten Experten die Wirkung der Sanktionen insgesamt?
„Seit der Ausweitung der Sanktionen ist erst ein halbes Jahr vergangen. Dieser Zeitraum ist etwas kurz, um festzustellen, dass die Sanktionen nicht wirken“, erklärt Hella Engerer, Osteuropa-Expertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. „Die Sanktionen sind nicht auf einen kurzfristigen Zeitraum angelegt. Sie können nur mittel- bis langfristig wirken. Zudem handelt es sich um ein Paket von Sanktionen. Es gibt erste Anhaltspunkte, dass die Sanktionen Wirkung entfalten.“
Effekte zeigen sich im finanziellen Sektor. Russland ist, was die internationalen Reserven betrifft, inklusive der Devisenreserven, sehr gut aufgestellt. Die internationalen Reserven sind von 630 Milliarden US-Dollar am Jahresanfang, auf 577 Milliarden gesunken. Dies ist immer noch sehr viel. „Vor allem aber geht es darum, dass die Finanzsanktionen es Russland erschweren, das Devisenpolster auch zu verwenden“, sagt Engerer.
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Auch die russischen Einnahmen aus dem Gasgeschäft mit Europa könnten trotz des enormen Preisniveaus bei weiteren Liefereinschränkungen sinken, sagte Lion Hirth, Juniorprofessor für Energiepolitik der Hertie School, kürzlich dem Tagesspiegel. Gazprom habe das Angebot auf dem europäischen Markt verknappt und dadurch hätten sich die Preise etwa verzehnfacht. Ab einem bestimmten Punkt könnten die höheren Preise die geringere Absatzmenge nicht mehr überkompensieren und dem Monopolisten gehe Geld verloren.
Aus Sicht von Hella Engerer ist die Betrachtung der russischen Erlöse aus Energieexporten zwar wichtig. „Allerdings sollten bei der Debatte um Sanktionen auch die russischen Importe in den Blick genommen werden.“ Die Sanktionen betreffen unter anderem die russischen Einfuhren von Technologie und Ersatzteilen. Hier neue Zulieferer zu finden, dürfte für Russland schwer werden. Zudem verlassen qualifizierte Fachkräfte und ausländische Unternehmen das Land. Beides wird sich mit der Zeit bemerkbar machen. Insgesamt hat Russland einen Vertrauensverlust erlitten, stellt die Expertin fest.
„Russland hat jahrelang den Fokus auf Rohstoffe und Rüstung gelegt. Der für eine Modernisierung der russischen Wirtschaft notwendige Strukturwandel wurde versäumt“, sagt Engerer. Ihr Ausblick: „Den Strukturwandel aber wird das Land kaum von innen heraus bewältigen können. Eher wird die Rückständigkeit Russlands in vielen Wirtschaftssektoren zementiert werden.“