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Absage an A4-Ausbau: Oberlausitz verliert Hoffnung auf raschen Wandel

Wer in kleinere Orte in der Oberlausitz fährt, braucht vor allem Zeit. Die Verkehrsanbindung lässt zu wünschen übrig. Die Absage des Bundes an den Ausbau der A 4 bremst die Zuversicht.

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Autos und Lkw stehen dicht an dicht im Stau auf der A4 bei Weißenberg in Richtung Bautzen.
Autos und Lkw stehen dicht an dicht im Stau auf der A4 bei Weißenberg in Richtung Bautzen. ©  Robert Michael/dpa (Archiv)

Weißwasser. Wenn Torsten Pötzsch als Stadtoberhaupt von Weißwasser in seinem Rathaus potenzielle Investoren empfängt, erlebt er immer mal wieder ein Déjà-vu. "Zunächst finden sie alles super, die Kindergärten, die Vereinsstruktur, die Verwaltung, bei der man schnell einen Termin bekommt. Die sagen auch: Eine Viertelstunde Fahrt bis zur Autobahn geht gerade noch, aber eine Dreiviertelstunde nicht. Das ist für uns der K.o.", meint der Parteilose. Seine Stadt liegt am Rande des sächsischen Nirgendwo - da, wo viele Wölfe leben.

Tatsächlich hat der 51 Jahre alte Kommunalpolitiker, der mit Freunden einst die Wählergemeinschaft "Klartext" gründete und seit 2010 die Geschicke der ostsächsischen Stadt verantwortet, schon oftmals Tiefschläge kassiert. Doch wie ein taumelnder Boxer ist er immer wieder in den Ring zurückgekehrt. Unlängst gab es wieder einen Wirkungstreffer. Als im Januar durchsickerte, dass der Bund für einen sechsspurigen Ausbau der staugeplagten A 4 von Dresden nach Görlitz keinen Bedarf sah, waren von Pötzsch erneut Nehmerqualitäten gefragt.

Der Oberbürgermeister wähnte sich im falschen Film. "Ich dachte kurz an den 1. April". Trotz positiver Signale sei die Grundstimmung in der Region eher getrübt, sagt Pötzsch. Die Leute hätten das Gefühl, auch im Strukturwandel abgehängt zu bleiben. Deshalb hätten sie die Nachricht vom Verzicht einer breiteren Autobahn 4 auch als "Schlag ins Gesicht" empfunden. "Viele fühlen sich bestätigt in ihrer Ansicht, hier passiert sowieso nichts. Dabei haben wir uns noch nicht einmal von dem Strukturbruch der 1990er Jahre erholt."

Der Dresdner Wirtschaftswissenschaftler Joachim Ragnitz beschreibt in einer Studie den Systemwechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft, der in den 1990er Jahren in der Lausitz zu einem ersten Strukturbruch führte, mit dem Begriff Deindustrialisierung. Davon sei vor allem die Braunkohlewirtschaft betroffen gewesen. "Die Zahl der Beschäftigten schrumpfte von 80 000 Personen zum Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf weniger als 8000 Personen Mitte der 1990er Jahre", heißt es einer Fallstudie für das Bundesumweltamt.

Tage und Zeiten zum Durchkommen muss man kennen

Auch Branchen wie die Textilindustrie und die Glasindustrie schmolzen bis zur Unkenntlichkeit zusammen. "Ich bin geprägt durch meine Eltern, die in der Glasindustrie arbeiteten und zur Wende Anfang 40 waren. Sie haben nie wieder einen Job gefunden", erzählt Pötzsch. Viele hätten schon vergessen, dass Anfang der 1990er Jahre Zehntausende Jobs in der Lausitz verschwanden. "Ich habe mir gedacht, das darf nicht wieder passieren", begründet der Oberbürgermeister seine Motivation, die Dinge zum Besseren zu wenden.

Der Görlitzer AfD-Politiker Sebastian Wippel bezeichnet die Autobahn 4 als Nadelöhr - "ohne Wenn und Aber". Der 40-Jährige kennt sich bestens aus, denn er benutzt die Strecke fast jeden Tag. Deshalb weiß er ganz genau, wann die Chance zum "Durchkommen" am größten ist: "Das kommt ganz auf den Wochentag an. Mittwoch klappt es in beiden Richtungen relativ gut. Freitag und Donnerstag ist von West nach Ost schlecht, Montag und Dienstag dann in umgekehrter Richtung." Das hänge vor allem mit Pendlerströmen und dem Warenverkehr zusammen.

Der Ausbau der Straße sei kein Allheilmittel, es gelte auch die Schienenverbindung auszubauen, sagt Wippel. Seiner Partei schwebe eine Art "Rollende Landstraße" für den Transitverkehr in Richtung Polen vor - entweder Container oder ganze Lkw Huckepack auf der Bahn. Der Region fehle zudem eine tragfähige Nord-Süd-Verbindung. Dazu müsste man die B 115 von Görlitz über Weißwasser nach Cottbus - nach der Maßgabe "2 plus 1" ausbauen, also streckenweise in je einer Fahrtrichtung mit Überholspur.

Wann immer man mit Bewohnern über Chancen und Defizite der Region spricht, kommt die mangelnde Verkehrsanbindung zur Sprache. Pötzsch hat Sorge, dass auch der zweigleisige Ausbau und die Elektrifizierung der Strecke von Berlin via Weißwasser nach Görlitz noch auf der Strecke bleibt. Mit der Umsetzung des Strukturwandels ist er nur zum Teil zufrieden. "Uns fehlt das Geld, die Eigenmittel aufzubringen." Wenn weit entfernt liegende Projekte gefördert würden, sei das zwar schön für die entsprechenden Orte. "Uns hilft das aber nicht weiter."

Viele verlassen die eingezwängte "Halbinsel"

Tatsächlich genießt das Thema Straße in der Lausitz einen hohen Stellenwert. Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstitut MAS Partners für den Lausitz-Monitor 2022 war eine gute Straßenanbindung 50 Prozent der Befragten "besonders wichtig" und weiteren 43 Prozent wichtig. Bundesweit fallen die Zustimmungswerte geringer aus. Hier halten nur 40 Prozent der Leute die guten Straßenanbindung für "besonders wichtig".

Pötzsch zufolge hat Weißwasser aufgrund seiner geografischen Lage nur wenig Raum zur Entfaltung. Die Stadt liegt zwischen dem Tagebau Nochten und dem Truppenübungsplatz Oberlausitz eingezwängt. "Wir sind hier wie auf einer Halbinsel, da kann man nicht viel machen." Viele Menschen haben diesem Gefühl nachgegeben und sind abgewandert. Zu DDR-Zeiten hatte Weißwasser mehr als 38.000 Einwohner, jetzt sind es nur noch reichlich 15.000. Inzwischen halten sich Zuzug und Wegzug die Waage. Doch immer mehr alte Menschen bevölkern die Stadt.

Leute wie AfD-Mann Wippel merken bei jedem Klassentreffen, wie viele der früheren Mitschüler die Region aus Perspektivmangel inzwischen verlassen haben. Viele Lausitzer fühlten sich von der Politik im Stich gelassen und abgehängt. "Natürlich muss man hier Angebote schaffen, die Gegend muss erreichbar sein", sagt der Parlamentarier. Seiner Ansicht nach scheitert eine gute Entwicklung bislang an falschen Prioritäten oder daran, dass "einfach nichts passiert".

Pötzsch zufolge wurden in Weißwasser im Zuge des Stadtumbaus und als Reaktion auf die schwindende Bevölkerung schon rund 6.000 Wohnungen abgerissen. "Das sind sechs Kilometer fünfgeschossige Häuser aneinandergereiht." Ein ganzes Stadtgebiet sei so verschwunden. "Wenn jetzt Leute kommen, die ihren Kindern zeigen wollen, wo sie aufgewachsen und zur Schule gegangen sind, ist da alles weg." Dennoch hätten viele Menschen noch immer das Gefühl, hier etwas bewegen zu können. Man müsse sich aber "immer wieder neu erfinden".

Strukturwandel muss vor dem Kohle-Ausstieg kommen

"Viele Entscheidungen gegen uns hauen uns nicht so einfach um. Aber irgendwann ist der Akku bei den Leuten runter. Wir rechnen immer mit dem Schlechtesten, mit gar nichts. Wenn dann etwas kommt, freut man sich", beschreibt der "Klartext"-Politiker seine Herangehensweise. "Deshalb ist es so wichtig, den Menschen ein Signal zu geben. Ihr habt hier eine Zukunft. Denn viele wollen immer noch weg. Wir müssen diesen Leuten Mut machen." Doch dafür brauche man zwingend eine passende Infrastruktur.

Der Bautzener CDU-Politiker Marko Schiemann hat für den von der Bundesregierung geforderten vorzeitigen Kohleausstieg ein Update für den Strukturwandel in der Lausitz angemahnt. "Die Mittel für die Projekte müssen von Berlin schneller freigegeben werden. Angesichts der jüngsten Entwicklungen braucht es zusätzliches Geld für den nachhaltigen Ausbau der Infrastruktur. Der Strukturwandel muss zwingend vor dem Ausstieg erfolgen." Schiemann weist seit Jahren auf die Folgen des zögerlichen Handelns für die Lausitz hin. Der Region drohe wegen mangelnder Perspektiven erneut ein personeller Aderlass.

Eine Hoffnung setzt man in Weißwasser auf die Bundeswehr, die im Zuge des Strukturwandels in der Region ein Regiment ansiedeln will. Die Bevölkerung sei durch den nahe gelegenen Truppenübungsplatz an die Präsenz von Soldaten gewöhnt, sagt Pötzsch. "Wir sind viel Lärm und Staub auch vom Tagebau gewöhnt. Die Leute sind hart im Nehmen. Auf dem Übungsplatz wird 220 Tage im Jahr geschossen. Bei entsprechender Windrichtung klirren hier die Fensterscheiben. Wenn es schon knallt, sollen die Soldaten wenigstens auch in Weißwasser wohnen." (dpa)