Er hat sie noch, diese gut 80 Zentimeter lange und 20 Zentimeter breite, blaue Plastikbox. „Hier kamen die Rezepte rein“, sagt Marko Eschmann. „Ein Kurier holte sie ab und weg waren sie.“ Auf der Box sind schwarze Ellipsen aufgeklebt, darin sind drei weiße Großbuchstaben zu lesen: AVP. Die Abkürzung steht für die Apotheken-Abrechnungstreuhand von Platen GmbH.
Seit 25 Jahren ist Eschmann nun schon Apotheker. Zuerst in Neubrandenburg, dann, seit 1999 in Riesa. Er eröffnete die Sonnen-Apotheke, fünf Jahre kam die Stadt-Apotheke hinzu. Eschmann ist Chef von gut 20 Mitarbeitern. Alles lief in all den Jahren fast wie am Schnürchen. Bis Anfang September. „Da teilte die AVP mit, es gäbe IT-Probleme wegen eines Server-Umzugs“, erinnert sich Eschmann. AVP, das Unternehmen mit der blauen Plastikbox, hatte zwar noch die August-Rezepte eingesammelt, nicht aber das damit verbundene Geld überwiesen. Anfang November ging das Unternehmen mit Sitz in Düsseldorf in die Insolvenz.

„Wie dramatisch die Lage war, bemerkte ich erst, als die Zahlungen für die Stadt-Apotheke komplett ausblieben“, sagt der 51-Jährige. „Das war eine sechsstellige Summe. Auch die Ausschüttungen aus dem Nacht- und Notdienstfonds kamen nicht.“
18.500 Apotheken nehmen in Deutschland täglich etwa 1,8 Millionen rosafarbene Rezepte an. Die darauf verordneten Medikamente kosten im Schnitt 80 Euro. Ein Milliardenmarkt, dominiert von der Pharmaindustrie und den 105 gesetzlichen Krankenkassen mit ihren Abermillionen Versicherten. Die Abrechnungsgelder unterliegen den strengen Vorgaben des Sozialversicherungsrechts, die Regularien sind komplex. Gesetzliche Zuzahlungen sind zu beachten, Hersteller- und Krankenkassenrabatte, Retax-Abschläge, Bonus-Malus-Berechnungen, Importquoten.

„Wir haben wegen der Bürokratie gar keine andere Wahl, als die Dienste von Rechenzentren in Anspruch zu nehmen“, sagt Eschmann. „Ich könnte den Aufwand weder zeitlich, geschweige denn rechtssicher bewältigen.“ Darum lassen Apotheker wie er ihre Rezepte von einem Finanzdienstleister wie AVP verwalten. Dessen Aufgabe ist es, die analogen Angaben auf den Rezepten in elektronische Daten umzuwandeln, daraus die Abrechnungen anzufertigen und diese an die Versicherungen weiterzuleiten. Von dort fließt wieder Geld an die Apotheker zurück.
Genau das aber passierte Anfang September nicht. „Viele wollen das ja nicht glauben“, sagt Eschmann. „Aber die Gewinnspannen in unserer Branche sind eher niedrig.“ Er verliere wegen des August-Ausfalls mehr als einen Jahresgewinn. Seine Vergütung bezieht Eschmann zu fast 90 Prozent aus den abgegebenen rezeptpflichtigen Packungen. Allerdings: „Je teurer das Medikament, desto geringer ist meine Marge“, sagt er. Gewinner seien vielmehr die Pharmahersteller und – über die Umsatzsteuer – der Staat.

Wie Eschmann sind weitere 92 der insgesamt 950 Apotheker in Sachsen von der AVP-Pleite betroffen. Der Vorsitzende des sächsischen Apothekerverbands, Thomas Dittrich, urteilt: „Der Ausfall einer gesamten Monatsabrechnung stellt betroffene Apotheker vor enorme Herausforderungen.“ Seinen Mitgliedern fehlten durch die Insolvenz fast 20 Millionen Euro.
AVP war nach eigenen Angaben unter den 18 deutschen Abrechnungszentren das größte private. Es zahlte in der Regel den Apotheken zu Monatsbeginn einen Vorschuss in Höhe von 80 Prozent des Vorvormonats aus. Die Apotheker kauften damit Medikamente im Großhandel ein. Die restlichen 20 Prozent folgen dann zur Monatsmitte. Pi mal Daumen war der 1999 gegründete Finanzdienstleister mit seinen 59 Beschäftigten für ein Abrechnungsvolumen von gut sieben Milliarden Euro im Jahr zuständig. Davon behielt er zwischen 0,1 bis 0,15 Prozent als Verwaltungsgebühr für sich, also etwa bis zu neun Millionen Euro.

Düsseldorf, ein Donnerstag im Dezember. Jan-Philipp Hoos arbeitet bei einer großen Wirtschaftskanzlei in einem Bürohaus aus Glas und Stahl nahe am Rhein. Es ist schon fast 22 Uhr, der Jurist sitzt immer noch am Computer. Hoos ist der Insolvenzverwalter der AVP. 3.200 Gläubiger fordern 617 Millionen Euro. Hoos versucht, so viel AVP-Vermögen wie möglich für die Insolvenzmasse aufzutreiben: Das reicht von Brachland in Brandenburg über den Verkauf von Geschäftsteilen bis hin zu Haftungsansprüchen gegen frühere Manager und Forderungen an die Krankenkassen von bis zu 135 Millionen Euro. „In welcher Höhe letztendlich Zuflüsse zur Insolvenzmasse generiert werden können, ist noch nicht abzusehen“, sagt Hoos.
"Mit jeder Reform kommt mehr Bürokratie hinzu"
Etwa 80 der Gläubiger, die Geld von ihm fordern, lassen sich von der Kanzlei Mulansky + Kollegen in Dresden vertreten. Dort brütet Stefan Kurth über den AVP-Akten. Es gibt wohl nur wenige Fachleute, die sich so gut auskennen im Paragrafen-Dschungel der Branche wie er: Seit 2006 wurde allein das Apothekengesetz 15-mal geändert. „Mit jeder Reform kam mehr Bürokratie dazu“, sagt Kurth. „Alle zwei, drei Jahre irgendwas.“ Grund sei das ständige Bemühen der Politik, die Preise für Arzneimittel günstiger zu gestalten. So entstand eine Arzneimittelpreis- und eine Heilmittelverordnung, das Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz, das Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung oder auch das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz.

In einem Gutachten, aus dem das Fachportal Apotheke Adhoc zitiert, kommt Insolvenzverwalter Hoos zu dem Schluss, dass Misswirtschaft zu der AVP-Pleite führte. Von „strukturellen Defiziten“ und einer „chaotischen Datenlage“ ist die Rede. AVP solle bereits längere Zeit Verlust gemacht haben. Das aber sei in den Bilanzen kaschiert worden.
Flughafen Mönchengladbach. Am frühen Abend des 14. Novembers landet eine zweistrahlige Phenom 300 des brasilianischen Flugzeugherstellers Embraer. „Der sonst in Düsseldorf stationierte Jet wird hier gewartet“, sagt ein Flugzeug-Spotter vor Ort. Es ist die Maschine, die AVP-Eigentümer Mathias W. zuletzt dauerhaft gechartert hatte. Die Kosten dafür sollen über eine MW Aviation GmbH & Co. KG verrechnet worden sein. Ob in diese Firma Geld von den Apothekerkonten der AVP floss, das untersucht derzeit die Staatsanwaltschaft Düsseldorf.

Sie ermittelt bereits seit Mitte September gegen zwei ehemalige Führungskräfte der AVP. Der Tatvorwurf laute auf Bankrott, teilt ein Sprecher mit. Unabhängig von diesem Verfahren habe man bereits im August einen Ex-AVP-Manager wegen Untreue angeklagt. „Gegenstand sind Zahlungen von privaten Bedarfen mit Firmengeldern.“ Das Handelsblatt berichtet über eine Bereicherung „im siebenstelligen Bereich“. Einer der in den Fokus geratenen Manager soll Daten aus dem Abrechnungsgeschäft über seine eigene Drittfirma an die Pharmaindustrie verkauft haben.
Das Bundesfinanzministerium begründet die Insolvenz in einer Antwort auf eine AfD-Anfrage, sie beruhe auf einer außerordentlichen Kündigung der Kredite zum 4. September. Die Banken hätten ihr Vertrauen in die AVP verloren „infolge des Bekanntwerdens von Defiziten in der Geschäftsorganisation und Hinweisen auf dolose Handlungen eines ehemaligen Geschäftsleiters“.

Ein gutsituiertes Viertel in Dresden, Mitte Dezember. Die Inhaberin einer Apotheke macht ihrem Ärger Luft. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Sie befürchtet „einen persönlichen Image-Schaden bei Banken und behördliche Repressalien durch den Freistaat Sachsen“. Die AVP-Pleite ist für sie „rücksichtlose Finanzkriminalität“. In einem Brief an den Bundestag kritisiert sie, dass das von der Regierung angebotene Darlehen der Kreditanstalt für Wiederaufbau zum Ausgleich der August-Verluste nicht helfe. Die Zugangsvoraussetzungen seien zu hoch. Betroffene Apotheker hätten zur Rettung ihrer Liquidität überteuerte Hausbankdarlehen aufnehmen müssen. Und das Finanzamt treibe sogar noch die Umsatzsteuer für das von der AVP nicht gezahlte Geld ein. „Es gibt große strukturelle Mängel in den gesetzlichen Regelungen und in der Kontrolle bei der Rezeptabrechnung“, urteilt sie.
Und wieder steht die Finanzaufsicht in der Kritik
Kollege Eschmann in Riesa stimmt zu. „Da ist Einiges schiefgelaufen.“ Zuständig für die Kontrolle ist die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen, kurz Bafin. Mitarbeiter der Behörde waren bereits 2016 zu einem Aufsichtsgespräch bei der AVP – wegen „fehlerhafter Meldungen über personelle Veränderungen in der Geschäftsleitung“. So steht es in einer Antwort des Bundesfinanzministeriums an die FDP. Weiter heißt es, im November 2019 habe ein anonymer Informant einen „ersten sehr unbestimmten Hinweis auf mögliche Defizite in der Rechnungslegung“ gegeben. Im Januar 2020 sei der Tippgeber konkreter geworden. Fortan habe die Bafin das Abrechnungszentrum „sehr eng“ begleitet. Entgegen einer Anordnung sei es jedoch im September „zu erheblichen Auszahlungen bei AVP“ gekommen.

Die Liberalen fordern eine „schnellst- und bestmögliche“ Aufklärung. Das Geld in den Abrechnungszentren solle künftig insolvenzsicher angelegt werden. Versicherte sollten ab Januar 2022 anhand einer elektronischen Quittung erkennen können, welche Leistungen gegenüber den Kassen abgerechnet werden und welche Kosten dafür angefallen sind. Ferner verlangt die FDP weniger „Abrechnungsbürokratie“.
Apotheker Eschmann ist trotz des Chaos-Jahres 2020 zuversichtlich. „Die Hauptlast dieses Skandals werden wir Apotheker zwar selbst tragen müssen, schlimmstenfalls mit unserem Privatvermögen; aber hier bei uns in Riesa kriegen wir das hin.“