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Jammert nicht – engagiert euch!

Wir müssen die Parteien von innen verändern - und zwar grundsätzlich, sagt Augustusburgs Bürgermeister Dirk Neubauer. Ein Gastbeitrag

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Für Dirk Neubauer, Bürgermeister von Augustusburg, sind Parteien eher Teil des Problems als Teil der Lösung.
Für Dirk Neubauer, Bürgermeister von Augustusburg, sind Parteien eher Teil des Problems als Teil der Lösung. © dpa

Unser Parteiensystem ist von einem stetig wachsenden Machtanspruch durchzogen. Ob dieser Machtanspruch geregelt ist und korrekt abläuft, wird nicht nur durch die Anzahl der Legislaturen bestimmt, die Abgeordnete im Mandat verbringen. Bei dieser Frage spielt auch eine Rolle, wie stark oder schwach eine Basis eingebunden ist, wie sehr sie ertüchtigt und informiert wird und welche Kompetenzen, ja, welches Gewicht diese am Ende wirklich hat.

Hierzulande kann man getrost sagen: Den Parteispitzen droht von ihrer jeweiligen Basis kaum Gefahr. Und das auch nicht ohne Grund. Meist über Jahre hat man die Pflege der kleinen Parteizellen vor Ort vernachlässigt und in der Priorität der eigenen Arbeit deutlich herabgestuft. Politische Arbeit wird hier nur selten wirklich betrieben oder gar gefördert. Viele dieser Gruppen an der jeweiligen Basis existieren aus sich selbst heraus. Objektiv betrachtet, sind die wenigsten Mitglieder der Parteien tatsächlich verantwortlich in deren Arbeit eingebunden.

Ein Fehler, den die Parteivölker zumeist auch hinnehmen. Denn selten sind Entscheidungen bzw. Einmischungen von ihnen tatsächlich auch gefragt. Oder werden gar von ihnen eingefordert. Und wenn die Zustimmung der Mitglieder gefragt ist, dann wird dies über das Delegiertenmodell bei Parteitagen oder eine dann einsetzende Agitation für ein abzustimmendes Ziel gut abgesichert. Vor allem immer dann, wenn es wirklich um etwas geht. Wie zum Beispiel bei der Frage des Spitzenkandidaten oder der Listenplatzbesetzungen bei anstehenden Landtagswahlen. Auch hier gewinnt in der Regel weder die Basis noch der bessere Kandidat bzw. Gedanke. Hier gewinnen meist jene, die Orts- bzw. Kreisverbände hinter sich haben, die ausreichend groß, organisiert und von ihnen dominiert sind. Oder die vom professionellen Teil der Partei vorgeschlagene Auswahl.

Ähnlich verhält es sich, wenn es um Inhalte geht. Nur wenige an der Basis sind in der Lage, ein Thema tatsächlich durch die parteipolitischen Instanzen zu bringen. Wem es nicht gelingt, die Köpfe der Partei für ein Thema im Vorfeld zu erwärmen, der landet bei einem Programmparteitag schnell im Drei-Minuten-Antragsredemarathon zur schläfrigen Mittagszeit. Ohne jegliche Aussicht auf Erfolg. Die Punkte, die die Parteispitzen für wichtig halten, werden in der Regel priorisiert den Delegierten auf den Weg gegeben. Diese stimmen somit oft mit einer klaren Zielvorgabe von oben ab und nicht aufgrund der vorhergehenden Diskussion. So bestimmen trotz breiter Debatte stets die, die führen. Selten, dass dieses System nicht funktioniert. Es greift selbst bei schicksalhaften Entscheidungen. Notfalls über das Narrativ der Alternativlosigkeit.

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. 2019 ging es um die Beteiligung meiner SPD an der Keniakoalition in Sachsen. Hier war das Storytelling klar: Entweder, wir sind an der Macht, können so wenigstens ein bisschen mitmischen – oder, wir sind raus. Welche Parteibasis stimmt in so einem Kontext nicht für die Beteiligung an einer Regierung? Dass diese Regierung den eigenen Zielen eher im Weg steht, als diese zu fördern, spielt bei einer solchen Fragestellung keine Rolle mehr. Warum wurde in dieser Situation nicht zumindest die Option diskutiert, sich in der Opposition inhaltlich und thematisch neu aufzustellen, um das massiv angekratzte Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen? Nicht einmal bei der verheerenden Entscheidung im Bund zur Bundestagswahl 2017 setzten sich die ursprünglichen Werte der Partei durch, als die SPD trotz vorherigem kategorischem Ausschluss einer großen Koalition dann doch umkippte. Nein. Auch hier stimmte die Basis der SPD nach massivem Druck der Parteispitze zum historischen Wortbruch. Damit leitete sie einen seither stetigen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit der gesamten Partei ein. Und auch hier ging es um den kurzfristigen Erhalt der Macht, dem langfristiges Denken geopfert wurde.

Diskussionen gibt es kaum

Die Diskussion über eine Alternative, nämlich die der Neuaufstellung in der Opposition, wurde aktiv vermieden. Weil jene, die von einem „Weiter so“ profitierten, es einmal mehr schafften, Mehrheiten zu organisieren. Aus diesem Grund fand sich die SPD in der Situation wieder, dass in Sachsen zu keinem Zeitpunkt nach der durchzitterten Landtagswahl eine ehrliche Debatte darüber geführt werden konnte, wie 7,7 Prozent als Ergebnis zustande kommen konnten. Ob dies für eine Regierungspartei akzeptabel ist, und was wir falsch gemacht haben könnten. Und vor allem auch nicht darüber, was wir anders machen müssen. Damit meine ich noch nicht einmal zwingend eine Personaldebatte. Mit der erneuten Beteiligung an der Regierung war eine inhaltliche Diskussion weitgehend vom Tisch – mit Ausnahme von kleinen Kreisen, deren Diskussionen nicht öffentlich geführt wurden und die für die Partei als solche genau deshalb auch kaum Wirkung zeigten. Weder nach innen noch nach außen. Tagesordnung vor Erneuerung. Regieren vor Debatte. Tatsächlich sind die Parteigefüge derzeit eher Teil des Problems als Teil der Lösung.

Die verkrustete, überkomplexe, sich verselbstständigende Verwaltung. Die verlorene Fähigkeit, große und komplexe Veränderungen oder Projekte herbeizuführen, ohne dabei grandios zu scheitern. Und die daraus resultierende Langsamkeit bei der Entwicklung von Zukunft, während sich der Rest der Welt rasend fortbewegt. Dies alles hat seine Ursache in der Art und Weise, wie wir Politik organisieren. Und dies alles kann und wird sich nur ändern, wenn Veränderung zu einem festen Teil des Systems wird. Und der Mut, auch mal zu scheitern, akzeptierte Regel.

So kann es nicht weitergehen

Die Menschen spüren, dass es nicht so weitergehen kann. Nicht nur jene, die im Widerstand die Verweigerung proben. Auch die, die sich engagieren wollen. Und sie suchen sich andere Wege. Bewegungen wie Fridays for Future beispielsweise haben bis heute keine wirkliche Bindung zur etablierten Politik gefunden. Es gibt keinerlei Andockpunkte. Warum? Weil diese Bewegung sehr zielgerichtet Veränderung erreichen will. Schnell, grundlegend, ohne Rücksicht auf Lobbygruppen und etablierte Strukturen. Und noch dazu in vielen Bereichen, bei denen Veränderungen einen Großteil der Bürgerinnen und Bürger betreffen würden. So einschneidend, dass keine Partei mit Blick auf die eigene Machtsicherung diese Themen wirklich aufzunehmen bereit ist. All dies geschieht, obwohl alle wissenschaftlichen Prognosen dafürsprechen, diesen Bewegungen Gehör zu schenken und ihr Anliegen zu unterstützen. Ein klassisches Beispiel politischer Unfähigkeit und Paralyse. Keine Frage.

Wir müssen die Parteien verändern. Denn diese sind in einer repräsentativen Demokratie wie der unseren der wichtigste Motor. Doch der stottert. Gerade jetzt, wo wir so vieles tun müssten, wo so viele Herausforderungen bewältigt werden müssten. Gerade jetzt bräuchten wir die Kraft des Maschinenraumes der Parteien, um die breiten und wichtigen Diskussionen zu suchen, die die Gesellschaft gerade braucht. Auch und gerade mit denjenigen, die uns nicht hören wollen. Gerade in solchen Spannungsräumen, wie wir sie derzeit erleben, beginnt die politische Arbeit. Und sie besteht nicht nur aus einer Verkündung von Maßnahmen. Sie besteht vor allem aus Zuhören, aus transparenter und menschlicher Kommunikation. Und einem klaren, nachvollziehbaren Handeln. Das muss unsere Priorität sein. Gerade, um die wiederzugewinnen, die politisch oft pauschal ausgegrenzt werden, weil sie den klassischen Politikbetrieb grundsätzlich infrage stellen. Und nun, da die Pandemie auch hier unsere Fehler offenlegt, im vermeintlichen Widerstand gegen die Schutzmaßnahmen den kleinsten gemeinsamen Nenner für ihre Wut gefunden haben.

Dass wir nicht so Politik machen, dass wir nicht die Kraft haben, auf diese außerparlamentarische Masse adäquat und souverän zuzugehen, hat nichts oder nur sehr wenig mit der Pandemie zu tun. Vielmehr befinden sich Parteien inzwischen im Verteidigungs- und Grabenkampf. Wagenburg statt offener Streit. Doch das ist falsch. Diese Menschen im „Widerstand“ sind keine verlorenen Radikalen. Sie sind Ergebnis jahrzehntelanger Fehlentwicklung, die größtenteils die Parteien zu verantworten haben. Das Virus, das uns von echter Veränderung im politischen Raum abhält, heißt nicht Covid-19. Es heißt Machterhalt. Wir brauchen einen Neuanfang. Wir müssen jetzt überlegen, wie wir all diese Fehlentwicklungen, das selbstsichernde Taktieren, das ewige „Weiter so“ beenden. Bevor unsere Demokratie nicht mehr zu retten ist.

Entern wir die Parteien. Gründen wir welche! Bringen wir uns als Bürgerinnen und Bürger aktiv ein. Hören wir auf zu jammern. Verschaffen wir uns nicht nur Gehör, sondern auch eine Stimme. Bringen wir damit unsere Sicht der Dinge ein und gestalten wir endlich wieder mit. Lasst uns Bürgerräte gründen, die die gewählten Gremien begleiten und beraten, die Stadt- und Gemeinderäte positiv begleiten und unterstützen. Lasst uns das Land, die Städte und Gemeinden wieder an einen Tisch bringen.

Es braucht einen Plan

Gerade in diesen Zeiten, da das Land und die Gesellschaft einer Prüfung unterzogen werden und wir einen gemeinsamen Plan brauchen, wie wir die Folgen der Corona-Pandemie gemeinsam bewältigen. In Zeiten, in denen wir uns alle anpassen und ändern müssen. Jetzt ist auch die Zeit, neue Wege zu gehen. Wir müssten unser bisheriges System öffentlich hinterfragen und aushalten, was daraufhin auf uns niederprasselt. Ein reinigendes Gewitter, nach dem klare Luft über der Landschaft liegt. Die klare Ausrichtung auf die Basis vor Ort. Die Stärkung der Demokratie im Selbsterfahrungsraum Kommune.

Das muss ein Schwerpunkt der politischen Arbeit werden. Wir müssen denen Vertrauen schenken, die eigentlich der Souverän des Landes sein sollten. Nur so werden wir auch im Gegenzug wieder Vertrauen zurückgewinnen können. Das ist es, was wir jetzt brauchen. In allen Parteien. Im Osten wie im Westen.

Unser Autor: Dirk Neubauer, 1971 in Halle geboren, ist Mitglied der SPD und Bürgermeister von Augustusburg. Am 21. April erscheint sein Buch „Rettet die Demokratie!“ (Rowohlt, 192 S., 10 Euro). Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.