Leben und Stil
Merken

Trauma vor Gericht: Missbrauch nicht noch mal durchleiden

Eine Gerichtsverhandlung spült alles Schreckliche wieder nach oben. Ein Vortrag in Chemnitz zeigt, welche Hilfsmöglichkeiten es für Opfer gibt.

Von Stephanie Wesely
 7 Min.
Teilen
Folgen
Lisa M. aus Zwickau hat ihren Peiniger vor Gericht gebracht. Durch guten Beistand konnte sie eine Re-Traumatisierung vermeiden.
Lisa M. aus Zwickau hat ihren Peiniger vor Gericht gebracht. Durch guten Beistand konnte sie eine Re-Traumatisierung vermeiden. © Georg Ulrich Dostmann

Lisa M.* aus Zwickau hat Schlimmes erlebt. Mit neun Jahren wurde sie von einem älteren Jungen missbraucht, der sie damit erpresste, allen anderen zu erzählen, was sie für eine Schlampe sei, wenn sie nicht mitmache. Er holte später sogar weitere Jungen mit dazu. Da Lisa M. aufgrund ihrer von Druck und Gewalt geprägten Erziehung nicht wusste, ob sie sich richtig oder falsch verhalten hat, schwieg sie. "Ich konnte mich niemandem anvertrauen", sagt die heute Mittdreißigerin.

Als sie es nicht mehr aushielt, machte er die Drohung wahr. Unter der Verleumdung litt sie so sehr, dass sie sich selbst in eine psychiatrische Klinik einwies. "Dort war erstmals von Missbrauch die Rede, und dass man das anzeigen kann." Das tat sie auch. Doch sie hatte Angst, alles noch einmal durchzumachen, wenn sie den Täter vor Gericht sieht.

So schwere sexualisierte Gewalt erleben vier Prozent der jungen Frauen und Mädchen in Deutschland, sagt Psychiater Ulrich Sachsse aus Göttingen. "Dieses Vergehen ist die häufigste Schädigung von Kindern in der Gesellschaft. Kaum eine Krankheit hat so viele Opfer." Was Frauen dagegen tun können, ist Thema seines Vortrages am Freitag in Chemnitz.

Herr Professor Sachsse, eine sexualisierte Straftat anzuzeigen, ist sehr schwer. Wie groß ist die Gefahr, dass Opfer erneut traumatisiert werden?

Das kommt auf die Begleitung und die Umstände an. Ich empfehle niemandem, ohne psychologischen oder fachlichen Beistand eine Gerichtsverhandlung durchstehen zu wollen, bei der es um selbst erlebte sexuelle Gewalt geht. Denn Gerichtsprozesse laufen nach bestimmten Regeln ab. Die muss man kennen, um informiert zu entscheiden, ob eine Anklage sinnvoll ist. Denn eine Verhandlung ist keine Therapiesitzung.

Welche Regeln sind das denn, die das Opfer kennen sollte?

Der Angeklagte hat viele Rechte, weil er bis zu seiner Verurteilung als unschuldig gilt. Insbesondere bei dem schweren Vorwurf von sexueller Gewalt muss der Staat beweisen, dass es zu der Straftat gekommen ist. Das hat sich in den letzten Jahren sogar noch verschärft, weil es Beispiele gab, wo vermeintliche Opfer gelogen haben, weil sie vielleicht aus persönlicher Verletztheit dem anderen schaden wollten. Der Strafverteidiger hat die Aufgabe, die Rechte des Angeklagten zu wahren und seine Unschuld zu beweisen.

Lisa M. in unserem Beispiel konnte ihre Erklärungen zum Tathergang schriftlich abfassen, um ihrem Peiniger nicht nochmals gegenüberstehen zu müssen. Ist das ein Grundrecht, das Opfer zu ihrem Schutz haben?

Nein, das gilt nur dann, wenn alle Verfahrensparteien damit einverstanden sind. Der Verteidiger hat immer das Recht, die Anklägerin ins Kreuzverhör zu nehmen. Möglich ist aber, dass der Angeklagte dabei nicht mit im Gerichtssaal sitzt. Er wird dann per Video zugeschaltet, um sich zu informieren, was ihm vorgeworfen wird, und um sich rechtfertigen zu können. Gerade bei sexuellen Straftaten vertreten die Täter die Meinung, dass alles einvernehmlich war. Dann steht Aussage gegen Aussage. Deshalb wird zum Beispiel in Deutschland auch die Glaubhaftigkeit der Anklägerin mithilfe eines Gutachtens überprüft.

Nur der Anklägerin? Finden Sie das richtig? Der Täter kann doch genauso die Unwahrheit sagen.

Es geht hier nicht darum, was ich richtig finde. Die Glaubhaftigkeitsprüfung ist gültiges Recht und nicht diskutabel. Auf so eine Überprüfung sollte man sich als Opferzeugin gut vorbereiten. Dazu gibt es in Deutschland und besonders in Sachsen gute Institutionen, wie die Opferhilfe oder den Weißen Ring, die Betroffenen zur Seite stehen.

Wie überprüft das Gericht die Glaubhaftigkeit?

Das ist eine psychologische Fachdisziplin, dafür müssen Gutachter speziell ausgebildet sein. Das läuft in festgelegten Kategorien ab. Denn die Glaubhaftigkeit ist auch ein Schutz, sie soll der Anklägerin eine Niederlage ersparen, wenn die Beweislage zu dünn ist. Auf der anderen Seite gilt der Schutz auch dem potenziellen Täter, den man nicht verurteilen darf, ohne Beweise für die Tat zu haben, denn auch sein Leben wird damit zerstört.

Wann in der Gerichtsverhandlung ist die Gefahr der Re-Traumatisierung besonders groß?

Das beginnt bereits bei der Schilderung des Tatherganges. Das Opfer muss sehr genau beschreiben, was exakt passiert ist. Das lässt es die Tat oft nochmals durchleben. Da der Verteidiger den Angeklagten vertritt, wird er alles tun, um das Opfer unglaubhaft dastehen zu lassen. So wird das Erinnerungsvermögen infrage gestellt und die Folgen der Tat als Beeinträchtigung der Aussagekraft gewichtet. Die Opfer fühlen sich oft nicht ernst genommen.

Hat es unter diesen Voraussetzungen überhaupt Sinn, eine Sexual- oder Gewaltstraftat vor Gericht zu bringen?

Bei der Beantwortung dieser Frage können sich Opfer beim Weißen Ring, der Opferhilfe oder auch in Frauenberatungsstellen unterstützen lassen. Dort weiß man genau, womit man eine Chance vor Gericht hat. Die Frau braucht auch unbedingt einen guten Nebenklageanwalt, der ihre Interessen vertritt und an einer Verurteilung des potenziellen Täters interessiert ist. Eine Straftat anzuzeigen, hat aber auch aus einem anderen Grund Zweck. Selbst wenn es keine Aussicht auf einen Sieg vor Gericht gibt, kann dem Täter mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens deutlich gemacht werden, dass der Staat, dass die Polizei ein Auge auf ihn haben. Dann besteht zum Beispiel die Chance, Familientabus zu durchbrechen.

Wie sollten sich Frauen nach einer Vergewaltigung denn verhalten?

Erwachsene Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung geworden sind, sollten alles daran setzen, zu beweisen, dass der Sex eben nicht einvernehmlich war. Auch wenn die Handlung des Reinigens nur allzu nachvollziehbar ist, sollten sie damit warten und zuerst die Beweise der Tat sichern. Dafür können sie in gynäkologische Kliniken gehen oder sich an entsprechende Beratungsstellen wenden. Sind die Beweise gesichert, können sie mit Unterstützung der Opferhilfe, mit der Frauenärztin oder einer Freundin überlegen, ob sie die Straftat anzeigen wollen.

Wann hat eine solche Anzeige wenig Aussicht auf Erfolg?

Wenn die Tat Jahrzehnte zurückliegt und keine objektiven Beweise gesichert worden sind, wenn die Erinnerung einer möglicherweise inzwischen psychisch kranken Frau das einzige Beweismittel ist. Denn die Erinnerung wird oft von eingebildeten Dingen überlagert – auch wenn man fest vom geschilderten Tathergang überzeugt ist. Schwierig wird die Sache auch, wenn Alkohol im Spiel war. Dann wird oft von Einvernehmlichkeit oder mangelnder Erinnerungsfähigkeit ausgegangen – zumindest vonseiten des Verteidigers. Das Gleiche gilt für Frauen, die nach der Tat jahrelange psychiatrische Behandlungen in Anspruch nehmen mussten. Das verringert ihre Zeugentauglichkeit.

Was müsste sich aus Ihrer Sicht an solchen Verfahren ändern? Denn die Bilanz ist doch sehr ernüchternd.

Das ist es nicht, denn es wird heute viel mehr abgeurteilt als noch vor einigen Jahren. Unsere Justiz und Gesetzgebung müsste aber prüfen, welche Erfahrungen andere Staaten gemacht haben, bei denen auch Täter und Zeugen ihre Glaubhaftigkeit nachweisen müssen. Doch auch Gutachten haben ihre Fallstricke und können irren, denn auch da können Menschen lügen oder ihr Gegenüber täuschen.

(* Name geändert)

  • Vortrag in Chemnitz: Professor Ulrich Sachsse und Kirsten Böök, leitende Medizinalrätin im Justizministerium Niedersachsen, sprechen am Freitag, dem 17. Juni, von 18 bis 19.30 Uhr zum Thema "Re-Traumatisierung durch gerichtliche Verfahren?" Der Vortrag findet im Veranstaltungssaal des Kulturkaufhauses Tietz, Moritzstraße 20, in Chemnitz statt. Die Teilnahme kostet zehn Euro.
  • Für Fachpersonal finden Freitag und Samstag Seminare zum Thema statt. Nähere Infos finden Sie hier.
  • Professor Ulrich Sachsse, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Göttingen, ist auch Traumaspezialist. Der 72-Jährige arbeitet als wissenschaftlicher Berater der Fachklinik Göttingen, einer Klinik mit Traumaschwerpunkt. Sachsse wurde für sein Engagement mit zahlreichen Preise geehrt, unter anderem dem Bundesverdienstkreuz.