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Die App, die Diabetikern helfen soll

Sächsische.de stellt Erfindungen von hier vor, die unser Leben verbessern. Teil 4: Diafyt. Die Leipziger Diabetes-App ist ein Manager für den Insulin-Spiegel.

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Mit Künstlicher Intelligenz das Leben um Jahre verlängert. Thomas Wuttke hatte diese Idee und fand schließlich ein Team, das daraus ein Medizinprodukt machen konnte. Die Diabetiker-App „diafyt“.
Mit Künstlicher Intelligenz das Leben um Jahre verlängert. Thomas Wuttke hatte diese Idee und fand schließlich ein Team, das daraus ein Medizinprodukt machen konnte. Die Diabetiker-App „diafyt“. © Anja Jungnickel

Von Sven Heitkamp

Die Geschichte dieser Erfindung beginnt an dem Tag, als der Leipziger Unternehmensberater Thomas Wuttke zum Arzt geht. Er will routinemäßig den Stand seines Diabetes Typ-1 kontrollieren lassen, doch sein Internist eröffnet das Gespräch mit einer Hiobsbotschaft: Wenn er seinen Blutzuckerspiegel nicht endlich in den Griff bekomme, sei er mit 65 Jahren tot. Wuttke, heute 51, ist das eindeutig zu früh. Und er ist fassungslos, weil er eigentlich der Meinung war, dass er ordentlich auf seine Insulinwerte achtet. „Ich dachte, ich habe alles unter Kontrolle.“ Doch stattdessen hat er stark schwankende und teils sehr hohe Blutzuckerwerte. Also beschließt er, dass er etwas tun muss.

Voriges Frühjahr nun hat er eine schlaue Smartphone-App „diafyt“ für eine personalisierte Diabetes-Therapie auf den Markt gebracht. Sie zeigt dank Künstlicher Intelligenz jederzeit die tatsächlich nötige Insulindosis an. Die selbstlernenden Algorithmen beobachten den individuellen Stoffwechsel des Patienten und berechnen kontinuierlich seinen Bedarf voraus. „Unser Diafyt-Guide ist die europaweit erste medizinisch zugelassene App für digitales Insulin-Management“, sagt Wuttke.

Der Aufwand für die Patienten ist gering: Zwar trägt man weiterhin beständig seine Mahlzeiten, Kohlehydratmengen und Insulingaben in die App ein. Doch herkömmliche Systeme registrieren die Daten lediglich, die Betroffenen berechnen ihren Insulinbedarf daraus selbst. Fehldosierungen und starke Schwankungen des Glukosestoffwechsels sind mitunter die Folge. Der Diafyt-Algorithmus dagegen lernt den Nutzer und seine Ernährungsgewohnheiten täglich besser kennen und berechnet so die benötigte Insulinmenge. „Je länger der Patient die App nutzt, umso präziser werden die Hinweise.“

Heute berechnet der diabetische Patient selbst seine Insulinmenge, Fehler in der Berechnung führen zu gesundheitlichen Schäden. Der Diafyt-Algorithmus dagegen lernt den Nutzer und seine Ernährungsgewohnheiten täglich besser kennen und berechnet so die ben
Heute berechnet der diabetische Patient selbst seine Insulinmenge, Fehler in der Berechnung führen zu gesundheitlichen Schäden. Der Diafyt-Algorithmus dagegen lernt den Nutzer und seine Ernährungsgewohnheiten täglich besser kennen und berechnet so die ben © Anja Jungnickel

Diabetes Typ-1 ist die seltenere Form der Zuckerkrankheit. Die Bauchspeicheldrüse produziert das Hormon Insulin nicht mehr ausreichend oder gar nicht mehr. Die Betroffenen müssen sich daher ihr Leben lang regelmäßig Insulin spritzen, um ihren Blutzuckerspiegel zu regulieren. Moderne Insuline erlauben zwar eine nahezu perfekte Therapie. „Doch das Dilemma liegt in der richtigen Dosierung“, sagt der Unternehmer, der sich bis zu zehnmal am Tag spritzen muss.

Die Folgen sind Über- oder Unterzuckerung, die die Lebensqualität beeinträchtigen und auf Dauer Organe schädigen. Doch Wuttke ist ein Mann der Tat und kennt sich in modernen Technologien aus. 1990 macht er in Mittweida sein Diplom in Elektrotechnik und Informatik. Er geht als einer der ersten Ostdeutschen zu Siemens-Nixdorf in Augsburg und arbeitet in der Computer-Entwicklung. Später folgen Stationen als Programm-Manager bei Microsoft in den USA, als Berater bei der Unternehmensberatung PwC in Frankfurt am Main und bei IBM. 2008 lässt er sich in seiner Heimat nieder und gründet in Leipzig seine kleine, international engagierte Unternehmensberatung.

Nach dem erschreckenden Befund seines Arztes will der Macher eine neue Software entwickeln – eine App für ein längeres Leben. Er sucht nach Algorithmen, die ihm die exakten Daten zur Insulingabe verraten. „In einer aufwendigen Recherche habe ich festgestellt, dass es dazu keine relevanten Patente gab“, erzählt er. Also sucht er einen herausragenden Mathematiker und Informatiker, der mit ihm die App programmieren kann. Er findet ihn mit Hilfe eines Bekannten in Markus Oehme, einem frisch promovierten, hochbegabten Absolventen der Universität Jena. Und Oehme sagt zu. Seit 2017 haben sie an der Künstlichen Intelligenz gearbeitet, seit Anfang 2020 ist Diafyt nach klinischen Studien und Tests auf dem Markt.

Das Team von diafyt: Geschäftsführer Thomas Wuttke (M.), Markus Oehme (li.) und René Richter.
Das Team von diafyt: Geschäftsführer Thomas Wuttke (M.), Markus Oehme (li.) und René Richter. © Anja Jungnickel

Wuttke nutzt die App selbst sogar schon seit Ende 2018 und sein Arzt ist sehr zufrieden. „Mein durchschnittlicher Blutzuckerwert ist von 9 auf 6,8 gesunken“, sagt er. „Das ist nahe am Normalbereich.“ Seine rechnerische Lebenserwartung sei bereits um zehn Jahre gestiegen und auch seine Lebensqualität deutlich besser geworden. „Ich lebe heute schon fast, als ob ich kein Diabetes hätte“, sagt er. „Ich musste akzeptieren, dass das Gerät schlauer ist als ich.“

Die App ist bisher für die Android zu haben und im Google-Playstore abrufbar. „Diabetologen empfehlen die App bereits ausgewählten Patienten“, sagt Wuttke. Bisher wurde sie von gut 100 Nutzern heruntergeladen. Sie zahlen nach einer dreimonatigen, kostenlosen Testphase zehn Euro im Monat für die Nutzung. Doch es laufen bereits Gespräche mit Krankenkassen über die mögliche Kostenübernahme. Die App ist auch in Englisch und Französisch, Spanisch und Italienisch verfügbar. Denn Wuttke hat Großes vor. Er will mit Diafyt eine Million Nutzer in Europa erreichen.

Und das ist nicht alles. Das Team hat auch einen intelligenten Aufsatz für handelsübliche Insulinpens entwickelt – moderne, stiftartige Spritzen für eine bequeme, unauffällige Injektion. Die meisten insulinpflichtigen Diabetiker nutzen zwar schon solche Pens. Der „Smart Pen“ aus Leipzig aber überträgt die exakten Daten und Mengen per Nahfunk an die App, damit sie weiterlernen kann. Die Entwicklung sei bereits patentiert und werde mit Patienten getestet, sagt Wuttke. Aktuell sucht er einen Partner für die Produktion.

Außerdem plant das Start-up für den europäischen Markt einen eigenen, kontinuierlich messenden Glukosesensor, den Diabetiker als runden Plastikchip am Oberarm tragen. „Bisher sind fast nur Produkte von amerikanischen Herstellern auf dem Markt – und die Firmen haben die Datenhoheit“, kritisiert Wuttke. „Das wollen wir ändern und technologisch unabhängig werden.“ Für die Entwicklung arbeitet er mit renommierten Institutionen wie der Fraunhofer-Gesellschaft, der Berliner Charité und dem Forschungszentrum Jülich zusammen. Der Unternehmensberater konzentriert sich mittlerweile voll auf seine Medizinprodukte – die Beratungsagentur muss warten.

Das Erfinder-Projekt „Genial Sächsisch“ findet gemeinsam mit den drei Gründerschmieden Dresden Exists, Saxeed (Chemnitz) und Smile (Leipzig) statt.

Acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, hat die Serie von 2019 mit dem wichtigsten Preis für Technikjournalismus ausgezeichnet.

Hier noch einmal alle Erfindungen im Überblick:

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