Wirtschaft
Merken

Die Zeitung auf dem Tablet serviert

Günter Bruntsch nimmt kein Blatt vor den Mund. Zur Meinungsbildung nutzt der Ex-Präsident der IHK Dresden die Zeitung – nur digital. Damit macht er vielen etwas vor.

Von Michael Rothe
 5 Min.
Teilen
Folgen
Günter Bruntsch in seinem grünen Paradies am Waldpark. Zeitungen hat der 77-Jährige digital dabei: auf einem Tablet.
Günter Bruntsch in seinem grünen Paradies am Waldpark. Zeitungen hat der 77-Jährige digital dabei: auf einem Tablet. © Matthias Rietschel

Die Zeiten des täglichen Schlipsträgers Günter Bruntsch sind vorbei. Der Ex-Präsident der Dresdner Industrie- und Handelskammer genießt sein Leben danach. Barfuß, das blau-weiß gestreifte Hemd weit geöffnet und in Schlumperhose empfängt er den SZ-Reporter bei sich zu Hause. Vor zwei Jahren hatte er der Zeitung noch namens des Industrieclubs Sachsen mit einer großen Anzeige zum „75.“ gratuliert. Zur Schnapszahl 77 schaut die Jubilarin nun bei ihm vorbei – und gibt die Blumen zurück. Der Unruheständler wurde im gleichen Jahr geboren wie seine Heimatzeitung – und ist als Wassermann sogar ein paar Wochen älter.

Einmal im gemütlichen Wintergarten platziert, kommt das einstige Sprachrohr der ostsächsischen Wirtschaft schnell ins Plaudern. Sein Terminkalender ist nicht mehr so voll wie in den sieben Jahren als Präsident von rund 90.000 IHK-Mitgliedern. Unter seiner Ägide gewann die Interessenvertretung an Profil, blieben die Mitgliedsbeiträge niedrig, rückte die Lausitz als Strukturwandel-Region in den Fokus der Öffentlichkeit. Gern hätte er weitergemacht, doch die Satzung ließ keine Wiederwahl mehr zu. „Ich bin ein Macher“, sagt Bruntsch, „aber die Pflege meiner Frau hat mich verändert“. Ein Fulltime-Job. Von seinen vielen Ehrenämtern ist nur das eines Aufsichtsrats bei der Wirtschaftsförderung Sachsen GmbH geblieben.

Er hat sich eingerichtet, nicht nur in der Mehrfamilienvilla am Rande des Dresdner Waldparks. Dort wohnt nicht irgendwer: In der Tiefgarage parken Marken wie Aston Martin, Bentley, Ferrari. Bruntsch selbst fährt zwei Karossen mit einem Stern auf der Motorhaube.

Sahra Wagenknecht im Mai im Industrieclub

Ihm ist nichts in den Schoß gefallen: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Dresden geboren, als Einzelkind in Bannewitz aufgewachsen. Die Scheidung der Eltern war eine Zäsur. Der Vater – Banker und Vorbild – ging 1953 in den Westen. Günter blieb, lernte Werkzeugmacher, studierte in Köthen und an der TU Dresden und startete 1968 eine Karriere vom Verfahrensingenieur zum Kombinatsdirektor des VEB Komplette Chemieanlagen (KCA). Als erster Ostdeutscher beantragte er 1989 ein Joint Venture mit dem Münchner Gasespezialisten Linde. 2016 litt er mit, als der Dresdner Anlagenbauer mit gut 500 Leuten geschlossen werden sollte – aber nach lautem Protest gar zum Kompetenzzentrum aufstieg.

Noch immer verfolgt der Ex-Chef das Geschehen in seinem früheren Betrieb, bei dessen Konzernmutter nun mit Praxair Amerikaner das Sagen haben. Bruntschs Tochter und Schwiegersohn hatten in Russland für Linde eine Niederlassung mit 300 Beschäftigten aufgebaut. Doch wegen der Sanktionen hätten sie zurückgemusst, sei dort alles dicht, sagt Bruntsch verbittert.

Der promovierte Ökonom steht zu seiner DDR-Biografie und passt in keine Schablone. Hinter scheinbarer Unbeholfenheit steckt Cleverness. „Der Mann ist wunderbar bodenständig“, heißt es im Industrieclub, einer Bildungsplattform für Unternehmer und Manager. Der Ehrenpräsident habe das Herz am rechten Fleck und seine Zunge selten im Zaum. Seine Meinung wird geschätzt, auch in breitem Sächsisch. Noch immer gibt er Tipps, lässt seine Beziehungen zu hochkarätigen Referenten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft spielen. Auch Ansichten abseits des Mainstreams sind willkommen. „Am 11. Mai ist Sahra Wagenknecht zu Gast“, so Bruntsch.

"Es ist sinnlos, Russland zu ignorieren"

„Das Beste wäre: Ohne Regierung!“, hatte er 2017 gegenüber der SZ mal auf die schleppende Regierungsbildung im Bund reagiert. So ist Bruntsch: direkt und den Schalk im Nacken. Deutschland stehe sich durch den Datenschutz bei der Digitalisierung selbst im Weg, moniert er. Russland-Sanktionen seien „großer Mist“ – wie alle Embargos. Sie stärkten die Adressaten und schadeten der eigenen Wirtschaft.

Bruntsch weiß, wovon er spricht, war oft in Putins Reich und im Donbass. Er hat in den 1990er-Jahren mit Linde KCA eine Luftzerlegungsanlage ins Asow-Stahlwerk von Mariupol geliefert und einen Polyäthylen-Komplex nach Kalusch in der Westukraine. Als Beleg kramt er Bücher mit Fotos und Zeitungsartikeln hervor.

Es sei „sinnlos, Russland zu ignorieren“ und brauche eine Lösung für nach dem Krieg. „Wie wollen wir die Erde beim Klima retten, wenn wir mit Russland und China, das größte und das bevölkerungsreichste Land, nicht einbeziehen?“, fragt Bruntsch rhetorisch. „Und in Deutschland streitet man sich über Wärmepumpen – das ist doch irre!“ Er sorgt sich um den Wirtschaftsstandort D, fürchtet, „dass die Politik nicht mehr die richtigen Prioritäten setzt, um unseren Wohlstand zu erhalten“.

Lebensmotto: Nach vorn schauen, da spielt die Musik!

Während er so sinniert, schweift sein Blick in seinen 800 Quadratmeter großen Garten. Zwischen Eichen und Sträuchern kommen täglich Eichhörnchen und ein Dachs zu Besuch – angelockt durch Nüsse vom Hausherrn. Im Wasserbecken drehen zehn Goldfische ihre Runden. Wohl nicht mehr lange, denn Bruntsch erwartet in Kürze einen Graureiher zum Festmahl – wie jedes Frühjahr, ehe das Laub an den Bäumen den Anflug erschwert. Noch steht nur ein künstlicher Artgenosse im Wasser, beobachtet von zwei Pelikan-Skulpturen.

Das kleine grüne Paradies ist ideal zum Entspannen. Mit dabei: ein Kaffeepott mit seinen goldenen Initialen und ein Tablet. „Ich lese intensiv Zeitung, aber nur noch digital“, sagt Bruntsch. Damit ist er dem Gros seiner Generation voraus und macht auch den sieben Enkeln und neun Urenkeln in Sachen Digitalisierung noch einiges vor. Sein Facebook-Auftritt zeigt den vierfachen Vater einer Patchworkfamilie am Steuer der „Sea Cloud“, einem 92 Jahre alten Viermaster. Der Genießer hat auf dem Kreuzfahrtschiff wiederholt geurlaubt, ist mit ihm unter anderem durch den Panamakanal gesegelt.

„Trübsal blasen bringt nichts“, sagt Bruntsch. Er hält sich mit Radfahren und Schwimmen fit, erholt sich im Ferienhaus an der Ostsee. „Ich habe keine Wehmut.“ Es nutze nichts, zurückzublicken und zu jammern „Ach hättest Du doch ...“. Sein Motto: „Nach vorn schauen, da spielt die Musik! Jeden Tag geht die Sonne neu auf.“