Jahrhundertflut 2002: "Niemand hat geahnt, dass es so schlimm wird"

Dresden. Patrizia Bär blättert in ihrem Fotoalbum. Bei einem Bild bleibt sie hängen, es zeigt nasse und schlammige Sandsäcke im Garten ihres Hauses in Laubegast. "Das hätten wir uns sparen können. Aber wir haben ja nicht geahnt, wie schlimm es wird." Niemand hat damals vorausgesehen, was in diesen Tagen Mitte August 2002 mit dem Stadtteil, der so idyllisch an der Elbe liegt, passieren wird.
Nach tagelangem Regen und den verheerenden Ereignissen in den Seitentälern der Elbe, wo kleine Bäche zu reißenden Strömen geworden waren und auf ihrem Weg alles mit sich gerissen hatten, warteten die Dresdner bei schönstem Sommerwetter auf das Hochwasser ihres Flusses.
Am 13. August hatte die Weißeritz Teile der Innenstadt überflutet - einen Tag später wappnete man sich in Laubegast mit Tausenden Sandsäcken, um Häuser und Gärten vor den angekündigten Wassermassen der Elbe zu schützen.

Mittendrin: Patrizia und Michael Bär, die seit den 1980er-Jahren auf der Fährstraße wohnen. Ihr Haus steht dort schon seit 1731, seit 1887 befindet es sich in Familienbesitz. "Von einem solchen Hochwasser ist uns aber nichts überliefert", erzählt Patrizia Bär. Wohl auch deshalb hielten sich die Flutvorbereitungen in ihrem Haus in Grenzen. "Wir haben nichts weggeräumt im Erdgeschoss, nur einige Elektrogeräte auf Ziegel gehoben, falls das Wasser doch hereinläuft", erzählt Patrizia Bär.
"Als ich den Staubsauger auf die dritte Stufe der Treppe gestellt habe, damit er nicht nass wird, hat mich mein Mann nur gefragt, ob ich verrückt geworden sei." Sie lacht bei der Erinnerung an seine Worte. "So hoch kommt das Wasser niemals", war sich Michael Bär damals sicher. Drei Tage später wird die Elbe 1,40 Meter hoch im Erdgeschoss ihres Hauses stehen.
Da haben Bärs mit ihren beiden Töchtern Caro und Tine, 16 und 14 Jahre alt, ihr Zuhause bereits verlassen. Aus der Ferne verfolgen sie die Pegelstände, neun Meter, zehn Meter - die Prognosen zum Höchststand ändern sich ständig. Sie malen sich aus, wie hoch das Wasser im Haus gestiegen ist und welche Schäden es wohl anrichtet. "Wir haben zu diesem Zeitpunkt nicht geahnt, was uns erwartet, wenn wir zurückkehren."
Immerhin: Die Familie ist in Sicherheit. Schweren Herzens hatten sie in der Nacht vom 14. auf den 15. August, als das Wasser immer weiter stieg, die Entscheidung gefällt, sich in Sicherheit zu bringen. Sie fanden Unterschlupf bei Freunden in der Troppauer Straße gleich um die Ecke. Es sollte ja nur für kurze Zeit sein, Michael hatte die wichtigsten Dokumente und Geld eingepackt, das Zwergkaninchen wurde in seinem riesigen Käfig mitgenommen. Mit Unterwäsche im Beutel und Badeschlappen an den Füßen zogen die vier los. Aus einer schnellen Rückkehr wurde allerdings nichts.
In der Nacht zum 16. August kreisen die Hubschrauber über Laubegast, überall blinkt Blaulicht. "Das war schon eine komische Stimmung." Immer wieder kommt ein Militärfahrzeug vorbei, eine Lautsprecherstimme fordert die Menschen auf, sich evakuieren zu lassen. "Verlassen Sie Ihre Häuser. Ihr Leben ist bedroht." Nach einigem Hin und Her entscheiden sich Bärs und ihre Freunde schließlich doch für den Weg hinaus aus Laubegast.
Dass der Stadtteil inzwischen zur Insel geworden ist, merken sie erst, als sie im Schwimmpanzer auf der Leubener Straße im Bereich des alten Elbarms durchs Wasser fahren. Mit dabei: der XXL-Käfig des Zwergkaninchens. "Die Soldaten waren sehr nett, es war zum Glück kein Problem, den Käfig mitzunehmen", sagt Patrizia Bär. Nach ihrer Evakuierung kommen sie wieder bei Freunden unter, dieses Mal in Dobritz.
"Wir waren total erschöpft und leer." Schlafen, kochen, Kraft auftanken. Zu neunt teilen sie sich eine Vierraumwohnung, die Enge ist nicht ihr Hauptproblem, sondern vielmehr die Sorge um ihr Haus. Die Nachrichten in Radio und Fernsehen bestimmen ihre Tage, immer wieder fährt Michael zur Salzburger und zur Leubener Straße, bis ans Wasser, wo ihn Polizeibeamte stoppen. "Wir durften nicht hinein nach Laubegast."
Mit dem Schlauchboot durch die Straßen
Die Familie fährt in den Großmarkt, der damals wegen der Flutkatastrophe auch sonntags geöffnet war, deckt sich mit Kleidung und Drogerie-Artikeln ein. Nach wie vielen Tagen Michael am Hochwasserposten endlich nach Laubegast durchgelassen wurde, wissen sie nicht mehr genau. "Ich kann mich nur erinnern, dass auf der Österreicher Straße das Wasser noch bis zu meinem Bauch stand, als wir das erste Mal zurück sind", erzählt Patrizia Bär. Sie traut sich nicht durch die braune Brühe, Michael läuft allein weiter. Kein ungefährliches Unterfangen, denn auf den Straßen hatten sich die Gullydeckel gelöst und waren weggeschwommen, die Löcher im Wasser sind nicht zu sehen.
"Ich hatte Glück, weil ein Nachbar seine Frau mit dem Schlauchboot zum Auto schaffte, damit sie zur Arbeit fahren kann." Auf dem Rückweg steigt Patrizia Bär mit ein, lässt sich über die Österreicher Straße und vorbei an der Kneipe Zum Gerücht bis in die Fährstraße schippern. "Es war ganz ruhig überall, nur das Wasser plätscherte." Fast hätte es ein beschaulicher Bootsausflug werden können - doch der Anblick ihres Hauses dämpft die Stimmung augenblicklich. "Als ich das erste Mal hineingegangen bin, habe ich die Luft angehalten." Nicht nur wegen des Gestanks. "Ich wollte nur weg." Schlamm, Wasser, Chaos.
Ratten zwischen nassem Sperrmüll
Was folgt, sind erneut kräftezehrende Tage. Bad, Kinderzimmer, Gästezimmer und Toiletten müssen ausgeräumt und gereinigt werden. Meterhoch stapelt sich der nasse Sperrmüll auf der Fährstraße, die in der heißen Sonne inzwischen zur Staubpiste geworden ist. Dazwischen tummeln sich Ratten. Letztlich gehen die Arbeiten schneller als gedacht, noch in der ersten Woche nach der Flut ist der Sperrmüll von der Fährstraße verschwunden. "Wir hatten große Hilfe von unseren Familien, Freunden und auch von den Nachbarn."
Der Zusammenhalt auf der Fährstraße sei enorm gewesen, jeder habe mit anpackt, man achtete aufeinander. Die Schäden am Haus sind groß, der Gebäudeteil zur Elbe hin war abgesackt, ein Riss durchzog die Fassade.
Am Ende stecken 120.000 Euro in der Sanierung ihres Hauses, der Großteil bezahlt aus Flutmitteln des Landes, 20 Prozent tragen Bärs selbst. Patrizia Bär zeigt einen dicken Aktenordner aus jener Zeit, Abrechnungen und Antragsformulare, die sie einreichen mussten. Nach etwa einem Jahr ist das Haus in der Fährstraße wieder hergerichtet. Dass es zehn Jahre später wieder im Hochwasser versinkt, ahnt da noch niemand.