SZ + Dresden
Merken

Jahrhundertflut 2002: "Niemand hat geahnt, dass es so schlimm wird"

Im August 2002 war Dresden-Laubegast zum ersten Mal eine Insel, der Stadtteil komplett von Wasser umschlossen. 20 Jahre später sind die Erinnerungen an jene Schicksalstage nicht verblasst.

Von Nora Domschke
 6 Min.
Teilen
Folgen
Laubegast, abgeschnitten vom Rest der Stadt: Vor 20 Jahren, im August, machte das Elbehochwasser den Stadtteil zur Insel.
Laubegast, abgeschnitten vom Rest der Stadt: Vor 20 Jahren, im August, machte das Elbehochwasser den Stadtteil zur Insel. © imago-images/Killig

Dresden. Patrizia Bär blättert in ihrem Fotoalbum. Bei einem Bild bleibt sie hängen, es zeigt nasse und schlammige Sandsäcke im Garten ihres Hauses in Laubegast. "Das hätten wir uns sparen können. Aber wir haben ja nicht geahnt, wie schlimm es wird." Niemand hat damals vorausgesehen, was in diesen Tagen Mitte August 2002 mit dem Stadtteil, der so idyllisch an der Elbe liegt, passieren wird.

Nach tagelangem Regen und den verheerenden Ereignissen in den Seitentälern der Elbe, wo kleine Bäche zu reißenden Strömen geworden waren und auf ihrem Weg alles mit sich gerissen hatten, warteten die Dresdner bei schönstem Sommerwetter auf das Hochwasser ihres Flusses.

Am 13. August hatte die Weißeritz Teile der Innenstadt überflutet - einen Tag später wappnete man sich in Laubegast mit Tausenden Sandsäcken, um Häuser und Gärten vor den angekündigten Wassermassen der Elbe zu schützen.

Vor 20 Jahren erlebten Michael und Patrizia Bär die Flutkatastrophe in Laubegast. Gut ein Jahr dauerte es, bis ihr Haus in der Fährstraße nach dem Hochwasser wieder hergerichtet war.
Vor 20 Jahren erlebten Michael und Patrizia Bär die Flutkatastrophe in Laubegast. Gut ein Jahr dauerte es, bis ihr Haus in der Fährstraße nach dem Hochwasser wieder hergerichtet war. ©  Rene Meinig

Mittendrin: Patrizia und Michael Bär, die seit den 1980er-Jahren auf der Fährstraße wohnen. Ihr Haus steht dort schon seit 1731, seit 1887 befindet es sich in Familienbesitz. "Von einem solchen Hochwasser ist uns aber nichts überliefert", erzählt Patrizia Bär. Wohl auch deshalb hielten sich die Flutvorbereitungen in ihrem Haus in Grenzen. "Wir haben nichts weggeräumt im Erdgeschoss, nur einige Elektrogeräte auf Ziegel gehoben, falls das Wasser doch hereinläuft", erzählt Patrizia Bär.

"Als ich den Staubsauger auf die dritte Stufe der Treppe gestellt habe, damit er nicht nass wird, hat mich mein Mann nur gefragt, ob ich verrückt geworden sei." Sie lacht bei der Erinnerung an seine Worte. "So hoch kommt das Wasser niemals", war sich Michael Bär damals sicher. Drei Tage später wird die Elbe 1,40 Meter hoch im Erdgeschoss ihres Hauses stehen.

Warten auf die Flut: Mit einem Sandsackwall wollten die Anwohner verhindern, dass das Wasser in die Fährstraße fließt. Aufhalten ließ sich die Elbe davon nicht.
Warten auf die Flut: Mit einem Sandsackwall wollten die Anwohner verhindern, dass das Wasser in die Fährstraße fließt. Aufhalten ließ sich die Elbe davon nicht. © Repro: Rene Meinig
Am 16. August 2002 wurden Laubegaster mit Schlauchbooten und Schwimmpanzern von ihrer "Insel" evakuiert. Der Stadtteil war vom Wasser komplett umschlossen.
Am 16. August 2002 wurden Laubegaster mit Schlauchbooten und Schwimmpanzern von ihrer "Insel" evakuiert. Der Stadtteil war vom Wasser komplett umschlossen. © privat
Am 13. August 2002 erreichte das Hochwasser die Türschwelle der Bäckerei Siemank. Später werden Café und Backstube komplett unter Wasser stehen.
Am 13. August 2002 erreichte das Hochwasser die Türschwelle der Bäckerei Siemank. Später werden Café und Backstube komplett unter Wasser stehen. © Repro: Rene Meinig
Eine Insel auf der Insel: Auf der Kreuzung von Fährstraße und Altlaubegast ist man noch trockenen Fußes unterwegs. Ansonsten war das Schlauchboot ein beliebtes Fortbewegungsmittel zu jener Zeit.
Eine Insel auf der Insel: Auf der Kreuzung von Fährstraße und Altlaubegast ist man noch trockenen Fußes unterwegs. Ansonsten war das Schlauchboot ein beliebtes Fortbewegungsmittel zu jener Zeit. © Repro: Rene Meinig
Folien über dem Zaun und Sandsäcke schützen hier noch das Fährhaus Hesse am Laubegaster Ufer.
Folien über dem Zaun und Sandsäcke schützen hier noch das Fährhaus Hesse am Laubegaster Ufer. © Repro: Rene Meinig
Am 7. Juni 2013 rollen wie schon zur Jahrhundertflut 2002 Bundeswehr-Lkw über die Leubener Straße, um Menschen aus Laubegast in Sicherheit zu bringen. Der Stadtteil war erneut zur Insel geworden.
Am 7. Juni 2013 rollen wie schon zur Jahrhundertflut 2002 Bundeswehr-Lkw über die Leubener Straße, um Menschen aus Laubegast in Sicherheit zu bringen. Der Stadtteil war erneut zur Insel geworden. © André Wirsig

Da haben Bärs mit ihren beiden Töchtern Caro und Tine, 16 und 14 Jahre alt, ihr Zuhause bereits verlassen. Aus der Ferne verfolgen sie die Pegelstände, neun Meter, zehn Meter - die Prognosen zum Höchststand ändern sich ständig. Sie malen sich aus, wie hoch das Wasser im Haus gestiegen ist und welche Schäden es wohl anrichtet. "Wir haben zu diesem Zeitpunkt nicht geahnt, was uns erwartet, wenn wir zurückkehren."

Immerhin: Die Familie ist in Sicherheit. Schweren Herzens hatten sie in der Nacht vom 14. auf den 15. August, als das Wasser immer weiter stieg, die Entscheidung gefällt, sich in Sicherheit zu bringen. Sie fanden Unterschlupf bei Freunden in der Troppauer Straße gleich um die Ecke. Es sollte ja nur für kurze Zeit sein, Michael hatte die wichtigsten Dokumente und Geld eingepackt, das Zwergkaninchen wurde in seinem riesigen Käfig mitgenommen. Mit Unterwäsche im Beutel und Badeschlappen an den Füßen zogen die vier los. Aus einer schnellen Rückkehr wurde allerdings nichts.

2002 haben Michael und Patrizia Bär im Garten Sandsäcke gestapelt, um ihr Haus vor der Elbe zu schützen. "Das war sinnlos. Das Wasser kam auch von unten und von hinten." 2013 haben sie sich die Mühe gespart.
2002 haben Michael und Patrizia Bär im Garten Sandsäcke gestapelt, um ihr Haus vor der Elbe zu schützen. "Das war sinnlos. Das Wasser kam auch von unten und von hinten." 2013 haben sie sich die Mühe gespart. © Repro: Rene Meinig
1,40 Meter hoch stand die braune Brühe im Erdgeschoss ihres Hauses. Nachdem das Wasser weg war, wurde das ganze Ausmaß der Schäden sichtbar.
1,40 Meter hoch stand die braune Brühe im Erdgeschoss ihres Hauses. Nachdem das Wasser weg war, wurde das ganze Ausmaß der Schäden sichtbar. © Repro: Rene Meinig
Nach der Flut kam der Wiederaufbau. Bauunternehmer Michael Bär packte selbst mit an, um das 1731 gebaute Haus wieder bewohnbar zu machen.
Nach der Flut kam der Wiederaufbau. Bauunternehmer Michael Bär packte selbst mit an, um das 1731 gebaute Haus wieder bewohnbar zu machen. © Repro: Rene Meinig
Familie, Freunde und Nachbarn packten beim Aufräumen mit an. "Der Zusammenhalt war großartig."
Familie, Freunde und Nachbarn packten beim Aufräumen mit an. "Der Zusammenhalt war großartig." © Repro: Rene Meinig
Alles musste raus: Weil niemand ahnte, dass das Wasser so hoch steigt, versanken Möbel und Hausrat in den Erdgeschosswohnungen an der Fährstraße in den Fluten. Da half nur entsorgen.
Alles musste raus: Weil niemand ahnte, dass das Wasser so hoch steigt, versanken Möbel und Hausrat in den Erdgeschosswohnungen an der Fährstraße in den Fluten. Da half nur entsorgen. © Repro: Rene Meinig
Mit einem Bagger wurde der Müll in der ersten Woche nach der Flut in große Container geladen.
Mit einem Bagger wurde der Müll in der ersten Woche nach der Flut in große Container geladen. © Repro: Rene Meinig
Am 25. August 2002 entstand dieses Foto in einer Halle der Wertstoff-Aufbereitung Dresden GmbH. Rund 200 Tonnen wiederverwertbarer Abfall aus Laubegast, Kleinzschachwitz und Leuben wurden dort nach dem Hochwasser täglich angeliefert.
Am 25. August 2002 entstand dieses Foto in einer Halle der Wertstoff-Aufbereitung Dresden GmbH. Rund 200 Tonnen wiederverwertbarer Abfall aus Laubegast, Kleinzschachwitz und Leuben wurden dort nach dem Hochwasser täglich angeliefert. © Ronald Bonß

In der Nacht zum 16. August kreisen die Hubschrauber über Laubegast, überall blinkt Blaulicht. "Das war schon eine komische Stimmung." Immer wieder kommt ein Militärfahrzeug vorbei, eine Lautsprecherstimme fordert die Menschen auf, sich evakuieren zu lassen. "Verlassen Sie Ihre Häuser. Ihr Leben ist bedroht." Nach einigem Hin und Her entscheiden sich Bärs und ihre Freunde schließlich doch für den Weg hinaus aus Laubegast.

Dass der Stadtteil inzwischen zur Insel geworden ist, merken sie erst, als sie im Schwimmpanzer auf der Leubener Straße im Bereich des alten Elbarms durchs Wasser fahren. Mit dabei: der XXL-Käfig des Zwergkaninchens. "Die Soldaten waren sehr nett, es war zum Glück kein Problem, den Käfig mitzunehmen", sagt Patrizia Bär. Nach ihrer Evakuierung kommen sie wieder bei Freunden unter, dieses Mal in Dobritz.

"Wir waren total erschöpft und leer." Schlafen, kochen, Kraft auftanken. Zu neunt teilen sie sich eine Vierraumwohnung, die Enge ist nicht ihr Hauptproblem, sondern vielmehr die Sorge um ihr Haus. Die Nachrichten in Radio und Fernsehen bestimmen ihre Tage, immer wieder fährt Michael zur Salzburger und zur Leubener Straße, bis ans Wasser, wo ihn Polizeibeamte stoppen. "Wir durften nicht hinein nach Laubegast."

Mit dem Schlauchboot durch die Straßen

Die Familie fährt in den Großmarkt, der damals wegen der Flutkatastrophe auch sonntags geöffnet war, deckt sich mit Kleidung und Drogerie-Artikeln ein. Nach wie vielen Tagen Michael am Hochwasserposten endlich nach Laubegast durchgelassen wurde, wissen sie nicht mehr genau. "Ich kann mich nur erinnern, dass auf der Österreicher Straße das Wasser noch bis zu meinem Bauch stand, als wir das erste Mal zurück sind", erzählt Patrizia Bär. Sie traut sich nicht durch die braune Brühe, Michael läuft allein weiter. Kein ungefährliches Unterfangen, denn auf den Straßen hatten sich die Gullydeckel gelöst und waren weggeschwommen, die Löcher im Wasser sind nicht zu sehen.

"Ich hatte Glück, weil ein Nachbar seine Frau mit dem Schlauchboot zum Auto schaffte, damit sie zur Arbeit fahren kann." Auf dem Rückweg steigt Patrizia Bär mit ein, lässt sich über die Österreicher Straße und vorbei an der Kneipe Zum Gerücht bis in die Fährstraße schippern. "Es war ganz ruhig überall, nur das Wasser plätscherte." Fast hätte es ein beschaulicher Bootsausflug werden können - doch der Anblick ihres Hauses dämpft die Stimmung augenblicklich. "Als ich das erste Mal hineingegangen bin, habe ich die Luft angehalten." Nicht nur wegen des Gestanks. "Ich wollte nur weg." Schlamm, Wasser, Chaos.

Ratten zwischen nassem Sperrmüll

Was folgt, sind erneut kräftezehrende Tage. Bad, Kinderzimmer, Gästezimmer und Toiletten müssen ausgeräumt und gereinigt werden. Meterhoch stapelt sich der nasse Sperrmüll auf der Fährstraße, die in der heißen Sonne inzwischen zur Staubpiste geworden ist. Dazwischen tummeln sich Ratten. Letztlich gehen die Arbeiten schneller als gedacht, noch in der ersten Woche nach der Flut ist der Sperrmüll von der Fährstraße verschwunden. "Wir hatten große Hilfe von unseren Familien, Freunden und auch von den Nachbarn."

Der Zusammenhalt auf der Fährstraße sei enorm gewesen, jeder habe mit anpackt, man achtete aufeinander. Die Schäden am Haus sind groß, der Gebäudeteil zur Elbe hin war abgesackt, ein Riss durchzog die Fassade.

Am Ende stecken 120.000 Euro in der Sanierung ihres Hauses, der Großteil bezahlt aus Flutmitteln des Landes, 20 Prozent tragen Bärs selbst. Patrizia Bär zeigt einen dicken Aktenordner aus jener Zeit, Abrechnungen und Antragsformulare, die sie einreichen mussten. Nach etwa einem Jahr ist das Haus in der Fährstraße wieder hergerichtet. Dass es zehn Jahre später wieder im Hochwasser versinkt, ahnt da noch niemand.