Wildromantisch wirkt der Jüdische Friedhof in Görlitz an diesem sonnigen Spätfrühlingstag. Hellgrün wuchern Gräser, Büsche und kleine Ahornbäume zwischen weit über 100 Jahre alten Grabsteinen. Manche neigen sich mehr oder weniger stark oder sind umgelegt. Graspolster oder Efeu überdecken einstige Umrandungen. In den hohen Laubbäumen singen Vögel. Eine junge Frau in geblümtem Kleid wandert langsam umher. Für ein paar Augenblicke fühlt man sich wie in einem Gemälde des 19. Jahrhunderts. Wie an einem „lost place“, einem verlassenen, fast vergessenen, verzauberten Ort.
Lauren Leiderman legt ihr Handy auf eine Bank. Stattdessen klappt sie ihren Laptop auf, ohne den man die 33-jährige US-Amerikanerin und Mutter von zwei Kindern eigentlich nie sieht. Der Computer ist ihr Büro, ihre Forschungseinrichtung, Archiv, Kommunikationszentrale. Seit sie vor vier Jahren nach Görlitz zog, hat er sich gefüllt mit Fotos, Briefen und Dokumenten der Menschen, die hier einst lebten und beerdigt wurden. Für sie ist der Friedhof in Görlitz ein besonderer Ort, aber kein „lost place“. „Hier kommen noch Nachfahren her, die ihre verstorbenen Familienmitglieder besuchen. Sie suchen nach ihren Wurzeln, nach Antworten auf offene Fragen. Zugleich ist jedes dieser Gräber verbunden mit Biografien und Lebenserfahrungen, die wichtig sind auch für uns heute.“ Es ist ihr Traum, diese Lebensgeschichten sichtbarer zu machen für möglichst viele. Vor allem für junge Leute.
Eines ihrer vielen Projekte findet deshalb in dieser Woche auf dem Friedhof an der Biesnitzer Straße statt: Knapp 40 Jugendliche aus den USA, Polen, Tschechien und Deutschland pflegen Grünflächen und Grabsteine. Sie werden sich auch mit jüdischer Kultur und Begräbnisritualen beschäftigen. Und mit den Juden aus Görlitz und Umgebung, die hier nach der Pestzeit im 14. Jahrhundert nicht mehr ansässig werden durften. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts war das wieder erlaubt. So entstand ab 1849 der Jüdische Friedhof.
Die jüdische Gemeinde in Görlitz war überschaubar, sie umfasste nie mehr als zwei Prozent der Bevölkerung. Aber sie war sehr engagiert und hinterließ viele Spuren in der Stadt. Die Synagoge etwa, die seit kurzem wieder renoviert ist und heute als Kultur- und Veranstaltungszentrum dient.
Ab 1933 war die Blütezeit der Gemeinde vorbei. Die Beerdigungen nach 1945 lassen sich an einer Hand zählen. Darunter waren auch Nicht-Juden, die ihre jüdischen Partner über den Krieg gerettet hatten. Von einst mehreren Hundert Menschen, die vor der Machtergreifung der Nazis zur jüdischen Gemeinde gehörten, waren 1945 noch zwei übrig. Der Rest war geflohen oder ermordet worden.
Der Friedhof wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der Jüdischen Gemeinde zu Dresden zugeordnet. Er gilt als verwaist und wird von der städtischen Friedhofsverwaltung mit betreut. „Die Gelder reichen für die gröbsten Maßnahmen, für die Sicherung von instabilen Steinen beispielsweise und den Schließdienst“, sagt Chefin Evelin Mühle. Deshalb freut sie sich immer über ehrenamtliche Unterstützung.
Auf der Suche nach Amanda
Lauren Leiderman bleibt neben einem grauen Grabstein stehen. Darauf liegen viele Steinchen. Wer jüdische Gräber besucht, bringt kleine Steine mit, keine Blumen, so ist es Tradition in der jüdischen Kultur. Wie assimiliert und liberal die Görlitzer Juden waren, erahnt man an den Blumenkübeln aus Stein, die vielen Gräbern beigefügt sind, aber längst nicht mehr bepflanzt werden. Einstmals zierten neben jüdischen Symbolen auch Kränze und Blumen aus Metall viele Grabsteine, aber sie wurden gestohlen. Auf einem Grabstein sei bei bestimmten Wetterlagen eine Schmiererei mit SS-Runen erkennbar, meint Lauren.
Neben den Steinchen auf dem grauen Grab lehnen, geschützt durch eine Plastikhülle, die Kopien von zwei altertümlichen, bräunlichen Fotos. Eines zeigt einen Mann, eines eine Frau. „Das ist Amanda Hannes“, sagt Lauren Leiderman. „Für mich hat alles mit Amanda begonnen, mit der Frage, wer sie war.“ Amanda habe ihr Leben ziemlich verändert, ihm eine ganz andere Richtung gegeben. Und eine Aufgabe, „die viel größer und wichtiger ist als ich selbst“.
Vieles trennt die beiden Frauen. Mehrere Generationen, die Religion, die Herkunft, die Lebensverläufe. Dennoch ist die Dame in Sepia mit dem hochgeschlossenen Kleid Lauren Leiderman inzwischen vertraut. Amanda, geboren 1861, starb 1942 in Tormersdorf bei Rothenburg in der Oberlausitz, einer Art Arbeitslager. Manchmal wird es auch als Judenlager bezeichnet. Amanda Hannes war vermutlich trotz des hohen Alters zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen worden. Die genaue Todesursache ist nicht bekannt.
Lauren Leiderman wurde 1989 geboren, in Memphis, Tennessee, als Tochter einer baptistischen Familie mit irisch-englischen Vorfahren, die im 17. Jahrhundert in die USA ausgewandert waren. Lauren liebt Musik und studierte klassischen Gesang in Boston. Einige Jahre arbeitete sie als Opernsängerin. „Das ist ein schwieriger Beruf. Man muss immer 100 Prozent geben. Es gibt kaum Raum für anderes, meist auch viel zu wenig Zeit für eine Familie.“ Aber genau das wollte sie: „Eine Mom sein.“
Lauren hatte Freunde, die an der Semperoper tätig waren. 2014 ging sie für ein Jahr nach Dresden, um nachzudenken, sich vielleicht neu zu orientieren. An der Berlitz-Sprachschule arbeitete sie als Lehrerin, unterrichtete Mitarbeiter der Kohlebetriebe in Schwarze Pumpe und Boxberg. In dieser Zeit lernte sie in Dresden ihre große Liebe kennen – einen jüdischen Medizinstudenten, geboren in der Sowjetunion, aufgewachsen in Israel, mit deutschen Wurzeln. „He is my rock“, sagt Lauren, er ist mein Fels. Der Ruhepol, „wenn ich wieder zu viel arbeite und viel zu schnell Denglisch spreche.“ So nennt sie die ihr eigene Mischung aus sehr gutem Deutsch und englischen Einsprengseln. Sie lacht.
Lauren blieb in Sachsen. Die beiden heirateten. „Mein Mann ist kein sogenannter religiöser Jude. Aber jüdische Traditionen sind ihm und seiner Familie wichtig. Wir haben uns einer der jüdischen Gemeinden in Dresden angeschlossen.“ Lauren half mit beim Projekt „Stolperstein“: Sie forschte nach der Geschichte der Juden, für die in der Landeshauptstadt ein Erinnerungsstein gesetzt werden sollte, nahm Kontakt auf zu Nachfahren. Die Arbeit faszinierte sie, weil sie so unterschiedlichen Menschen und bewegenden Biografien begegnete.
Frauenpower in Görlitz
Als ihr Mann vor vier Jahren eine Stelle als Chirurg in Görlitz bekam und die Familie umzog, schloss sich Lauren dem dortigen Stolperstein-Projekt an. Jemand hatte einen Stein bestellt für Amanda Hannes. Es gab ein Hannes-Grab auf dem Jüdischen Friedhof. Verzeichnet waren der jüngere Sohn, der 1914 im Krieg gefallen war, sowie Amandas Mann Max und ihr älterer Sohn, die einen Großhandel für Spielzeug und Lederwaren führten. Beide starben 1918 an der Spanischen Grippe.
Lauren begann, sich digital durch Bibliotheken, Genealogie-Seiten, Archive und Museen in Sachsen, Deutschland und der Welt zu arbeiten. „Frag einfach nach Görlitz, und du bekommst unglaublich viele Informationen“, sagt sie. Eines Tages stieß sie auf eine Frau namens Judy Hannes in Florida. Sie kontaktierte sie per Facebook. Judy Hannes antwortete, vorsichtig zunächst. Amanda war ihre Urgroßmutter. Die beiden Amerikanerinnen schrieben sich hin und her, telefonierten, trafen sich über Zoom. Judy schickte Fotos und Familienbriefe und berichtete all das, was ihr Vater ihr über seine Familie und seine Großmutter Amanda erzählt hatte.
„Das ist eine richtige Frauenpower-Story“, sagt Lauren Leiderman. Amanda engagierte sich nicht nur für den jüdischen Frauenverein, sondern kümmerte sich nach den vielen Schicksalsschlägen um Schwiegertochter Flora und deren beide Söhne. Gemeinsam führten sie den Familienbetrieb weiter. Enkel und Schwiegertochter emigrierten nach 1933. Amanda aber blieb: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, sagte sie ihrer Familie. 1941 musste sie in ein sogenanntes Judenhaus, im Herbst dann in das Arbeitslager. Ihre ehemalige Haushaltshilfe Martha Kunze brachte ihr Essen und einen warmen Mantel. Nach Amandas Tod im Juni 1942 holte sie den Leichnam und sorgte dafür, dass Amanda in Görlitz beerdigt wurde. All dies erfolgte heimlich. Deshalb tauchte der Name nicht auf dem Grab auf.
Ein Einzelfall ist das nicht. „Auf diesem Friedhof muss man auf das gucken, was fehlt, um ein vollständiges Bild zu haben“, sagt Lauren Leiderman. Das betrifft nicht nur die gestohlenen Verzierungen. Immer wieder steht auf großen Familiengräbern nur ein Name, sind große Flächen leer geblieben, „weil die Partner oder Kinder geflohen oder anderswo getötet worden sind“. Der Stolperstein für Amanda Hannes wurde verlegt, ihre Biografie schrieb Lauren für den Internet-Auftritt des Projekts auf. Durch die Recherche hatte sich eine Fülle von Hinweisen auf andere Görlitzer Juden und das jüdische Leben ergeben, wie es wohl typisch war für eine kleine Stadt im Deutschen Reich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, bis zu den schrecklichen Alltagserfahrungen nach 1933.
Lauren forschte weiter. Am Anfang arbeitete sie ehrenamtlich. Inzwischen hat sie eine Stelle bei der Hillerschen Villa, einem soziokolturellen Zentrum in Zittau. Sie wird vom Deutsch-Amerikanischen Institut Sachsen unterstützt und nutzt verschiedene Fördermittel, um ihre Projekte zu finanzieren. Bei Familienbesuchen in den USA und in Israel sucht sie immer auch Archive auf. Oder ersteigert bei Ebay Lebenszeugnisse von Görlitzer Juden, Rechnungen beispielsweise oder einen Schuhanzieher der Schuhdynastie der Familie Rauch. Sie betreut überdies eine WhatsApp-Gruppe für Angehörige. Anfangs gehörten vier Menschen dazu, mittlerweile tauschen sich dort über 40 Leute aus der ganzen Welt aus. Sie sprechen von sich manchmal als „Goerlitz-Cousins“ oder „Görlitz-Family“.
Über 130 Lebensläufe hat Lauren in ihrem Computer. Darunter auch den von Eva Goldberg, deren kleiner Bruder auf dem Görlitzer Friedhof beerdigt ist. Nach der Pogromnacht 1938 floh die Familie. Eine der ersten Stationen auf dem Weg nach Amerika war die Verwandtschaft in Amsterdam. In der Nachbarschaft von Tante Henni wohnte die gleichaltrige Anne Frank. Im Januar 1939 trug sie sich in Evas Poesiealbum ein. Das Album liegt heute im Holocaust-Museum in Washington. Lauren hat ein Buch aus der Fluchtgeschichte gemacht.
Was wird aus der historischen Feierhalle?
Forschungen zu jüdischer Geschichte in Görlitz, Schlesien und der Lausitz gab es vereinzelt schon zu DDR-Zeiten und nach 1989. Immer wieder suchten Nachfahren den Kontakt, traten bei Zeitzeugen-Projekten auf. Die Görlitzer Sammlungen und die Friedhofsverwaltung bieten Führungen auf dem Friedhof an, das Kulturbüro eine Führung zu jüdischem Leben einst und jetzt.
„Lauren hat jedoch viele neue Impulse und frischen Wind in die Forschung gebracht“, sagt der Historiker Markus Bauer vom Förderkreis Görlitzer Synagoge, der 2013 ein Buch über „Die Juden von Görlitz“ mit herausgab. „Sie nutzt die moderne, digitale Technik, um die Angehörigen zu befragen und sie miteinander zu vernetzen. Das hat schon viele neue Erkenntnisse gebracht.“ Er wünscht sich, dass diese Erkenntnisse weiter erforscht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Vielleicht in Form eines Buches. Auch Lauren denkt über ein Buch nach.
Und Lauren Leiderman hat noch viele Ideen. Die historische Feierhalle auf dem Friedhofsgelände gehört der Stadt, wird derzeit nur als Lagerraum genutzt. „Es wäre ein wunderbarer Ort für Ausstellungen und Bildungsarbeit“, sagt sie. „Ich könnte mir vorstellen, dass man neben den Gräbern kleine Tafeln installiert, die man mit dem Handy scannt und so die Geschichte der Menschen erfährt.“
Zunächst aber steht Ende Juni die jüdische Gedenkwoche an. 60 Gäste werden erwartet aus nahezu allen Kontinenten. Die 94-jährige Renate Muhr wird aus ihrem Leben erzählen. Sie ist eine der letzten Zeitzeuginnen. Auch Amandas Urenkelin Judy Hannes kommt. Sie wird das Grab ihrer Familie besuchen. Dort ist inzwischen der Name von Amanda Hannes eingraviert.