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So lief die Rückkehr der Imerlishvilis nach Deutschland

Vor fünf Tagen hat ein Gericht beschlossen, dass die Abschiebung aus Pirna nicht rechtens war. Nun ist die Familie aus Georgien zurück - aber nicht vollzählig.

Von Franziska Klemenz
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Familie Imerlishvili ist wieder zurück in Deutschland.
Familie Imerlishvili ist wieder zurück in Deutschland. © Jan Zappner

Norair „Noro“ Martirosov wird heute Mittag nicht wie sonst als Küchenchef Lasagne kochen. An diesem Mittwoch hat er eine andere Mission. Er holt seine Familie heim. 69 Tage ist es her, dass die Polizei Ilona und Ilya Imerlishvili mit ihren sieben Kindern nachts geweckt und abgeschoben hat. Der Großteil der Familie darf jetzt aus Georgien zurückkehren.

Als der weiße Kleinbus gegen 9 Uhr in Pirna los fährt, sitzt Noro noch allein hinter dem Fahrer. Es ist ein Freudentag und doch ein getrübter. Sein Schwiegersohn Ilya und die jüngste Enkelin Lisa müssen in Georgien bleiben. Ihre obligatorischen Corona-Tests vor dem Abflug waren positiv.

Monatelang hat die Familie in Georgien darum gebangt, ob sie in ihr altes Leben zurückkehren darf. Nacht acht Jahren, die sie in Pirna gelebt hatten, haben sächsische Ausländerbehörden nichts darauf hindeuten lassen, dass sie ihre Entscheidung rückgängig machen könnten, argumentierten, dass sie Recht und Gesetz durchgesetzt hätten. Sie täuschten sich. Vergangenen Freitag beschloss das Oberverwaltungsgericht Bautzen per Eilverfahren, dass die Familie nicht hätte abgeschoben werden dürfen.

Fassaden aus Glas, Stahl und Beton umgeben sandfarbene Böden mit dunkelgrauen Linien. Berlins neuer Flughafen BER gibt sich alle Mühe, nüchtern zu wirken. An diesem Vormittag schafft er es nicht. Es ist 11.20 Uhr, als auf einer Tafel voller Zeilen und Lettern das Wort „gelandet“ hinter Tiflis erscheint. Die „Georgian Airways“-Maschine ist nach knapp vier Stunden angekommen.

Seine Enkel fallen Noro um den Hals

Noro harrt im Ankunftsbereich aus. Er hat sich chic gemacht, trägt Goldringe zu dunkelblauem Hemd. Der 51-Jährige umklammert die eine Hand mit der anderen, schüttelt den Kopf, zuckt mit den Schultern. Brandenburger Senioren rollen Schalentrolleys an goldenen Werbe-Autos vorbei, eine Frau mit fuchsienfarbenem Blazer und Hochsteckfrisur hält ein Namensschild in die Luft. An Noro rauscht all das vorbei. Sein Blick fixiert die halbdurchsichtige Tür, die im Sekundentakt Menschen ausspuckt. Mütter mit Hornissen-Sonnenbrillen, Berliner Hipster-Girls mit kurzen Tops.

Noros Handy klingelt. „Es gibt Problem“, sagt seine Tochter. „Ich hatte gerade Angst, aber jetzt sagen sie, dass sie uns unsere Pässe wiedergeben.“ Erst Anfang dieser Woche hat die Landesdirektion Sachsen das Betretungsverbot der Familie für Deutschland aufheben lassen. Offenbar gab es trotzdem Unstimmigkeiten. Die Familie musste ihre Pässe vorerst abgeben, mitkommen, ist über einen anderen Weg nach draußen gekommen.

Noro hastet vor die Tür, vorbei an Taxis, Bussen, grauen Säulen. Dann breitet er die Arme aus. „Opa!“, hallt es ihm entgegen. Sechs Enkel springen nacheinander auf seinen Arm. Er kniet auf dem Boden, von seinem Kopf ist fast nichts mehr zu sehen, zwölf Kinderarme umschlingen ihren Opa. Halb lächelnd und halb weinend folgt ihnen ihre Mutter. Noro steht auf, seine Tochter fällt ihm um den Hals.

Am Flughafen fielen die Kinder ihrem Großvater Norair „Noro“ Martirosov um den Hals.
Am Flughafen fielen die Kinder ihrem Großvater Norair „Noro“ Martirosov um den Hals. © Franziska Klemenz/SZ

„Ich wollte mit Ilya kommen und nicht alleine“

Sie flohen vor acht Jahren gemeinsam aus Georgien, landeten in Pirna. Nie haben Vater und Tochter einander so lange nicht gesehen. Jeden Tag war er nach der Abschiebung in der Wohnung der Familie, um sich ihr nahe zu fühlen. Fütterte Fische, putzte, besuchte Lieblings-Kuscheltiere seiner Enkel. Vor einer Woche hat sich ein Gedanke bei der Familie eingeschlichen, den sie vorher nicht hatten zulassen wollen: „Kommen wir vielleicht doch nicht zurück?“ Dann die gute Nachricht. Unterstützer buchten Direktflüge. Zwei mussten sie wieder stornieren. „Ich wollte mit Ilya kommen und nicht alleine“, sagt Ilona Imerlishvili. „Ich habe viel geweint und ihm gesagt, dass ich nicht ohne ihn will. Er hat gesagt, ich soll fliegen.“

Am Vortag haben sie einander zuletzt gesehen. Symptome haben die beiden Corona-Positiven nicht. In Quarantäne verabschiedeten sie sich trotzdem. „Zum Glück haben wir die Wohnung in Tiflis bis Ende August gebucht und die Schlüssel noch nicht abgegeben“, sagt Ilona Imerlishvili, wischt eine Träne beiseite. „Aber feiern kann ich erst, wenn Ilya hier ist. Wir sind zwölf Jahre in einer Beziehung. Es ist der erste Tag, den ich ohne ihn verbringe.“

In sieben von zwölf Pässen der Familie prangen jetzt schwarze Einreise-Stempel. Noro strahlt. Auf dem Rücken seiner ältesten Enkelin Lika hängt ein funkelnder Pailletten-Rucksack. Sie tippt mit dem Fuß auf den Boden. „Mein Fuß ist in Berlin“, sagt die Elfjährige. „Ich hatte gerade Angst vor dem Mann, der das mit unseren Pässen gesagt hat. Er sah aus wie einer von den Männern, die uns abgeschoben haben.“ Ihr Bruder Luka guckt sich verdutzt um und sagt: „Wir sind nicht in Georgien.“ Die beiden jüngeren Brüder ziehen Koffer hinter sich her, die fast so groß sind wie sie selbst.

„Willkommen Zuhause“

Zweieinhalb Stunden ist der Bus der Familie unterwegs, ehe er vor einem kastanienroten Mehrfamilienhaus in Pirna stehenbleibt. Eigentlich wollten viel mehr Nachbarinnen und Freunde den Moment erleben, sie per Bus vom Flughafen abholen. Wegen der Infektionen kam Noro allein. Die anderen warten vor dem Hof. Die Kinder und ihre Mutter eilen über die Straße, fallen ihnen um den Hals. Eine Nachbarin hat einen Strauß mit Sonnenblumen mitgebracht.

„Willkommen Zuhause“, steht auf einer Deutschlandflagge, die über der Wohnungstür hängt. Noro schließt die Tür auf. Wie ein Bienenschwarm stürmen die Kinder in die Wohnung, zu den Betten, den Spielsachen. Der sechsjährige Nikolos schleppt ein Kuschel-Zebra an, das größer als er selbst ist. Auf dem Regal liegt seine Zuckertüte. Anfang September wird er eingeschult. Sein Bruder Gabriel zielt mit einer bunten Wasserpistole in die Luft, die vierjährige Lisa spielt in dem Zimmer mit den rosafarbenen Betten. „Ich bin wahnsinnig glücklich, ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagt ihre Mutter. Lika grinst und sagt: „Ich will hier nie wieder raus.“

Die Familie bei der Ankunft in Pirna.
Die Familie bei der Ankunft in Pirna. © Franziska Klemenz/SZ

Noch kein dauerhafter Aufenthaltstitel

Einen dauerhaften Aufenthaltstitel hat die Familie noch immer nicht. Streitig ist unter anderem die Frage, ob der Paragraf des Aufenthaltsgesetzes, auf den sich das Gericht bei seiner Entscheidung stützt, wirklich auf die Kinder anwendbar ist.

Als die Familie abgeschoben wurde, lief noch ein Verfahren. Die Familie hatte einen Antrag auf nachhaltige Integration nach Paragraf 25b des Aufenthaltsgesetztes gestellt. Dem Gericht zufolge war es nicht ausgeschlossen, dass der Antrag auf nachhaltige Integration erfolgreich sein könnte, weil Lika und Luka seit vier Jahren erfolgreich die Schule besucht haben. Lika hätte bald ihr Zeugnis der fünften Klasse auf dem Gymnasium bekommen. Es handle sich demnach „um Jugendliche und Heranwachsende, bei denen angenommen werden könne, dass sie gut integriert seien.“

Und für ihren Personenkreis, so das Gericht, sehe das Aufenthaltsgesetztes nach Paragraf 25a die Erteilung eines Aufenthaltstitels vor. Der Paragraf besagt unter anderem, dass „einem jugendlichen oder heranwachsenden geduldeten Ausländer“ eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden solle, wenn „er im Bundesgebiet in der Regel seit vier Jahren erfolgreich eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat.“ Bisher wurde der Paragraf erst für Personen ab einem Alter von 14 Jahren angewendet.

Viele Diskussionen um den Fail Imerlishvili

Aus dem Fall von Familie Imerlishvili sind viele Diskussionen hervorgegangen. Erst am Vorabend debattierten Verbände, Nachbarschaft, Sachsens Kulturbüro, SPD, Linke und Grüne in Pirna darüber, verabschiedeten einen offenen Brief mit Forderungen wie etwa einem Verbot von Abschiebungen bei Nacht. „Diese Abschiebung war keine besonders grausame Abschiebung, sondern gängige Praxis in Sachsen“, hieß es. Nach Imerlishvilis brachten die Behörden weitere Familien nach Georgien. Sie harren dort noch immer aus.

Imerlishvilis werden bald wieder komplett in Deutschland leben, zumindest vorerst. Ilya und Lisa dürfen nachkommen, wenn ihre Tests negativ sind. Ilona und die anderen sechs Kinder müssen fünf Tage in Quarantäne bleiben, können sich danach frei testen lassen. Als „schönstes Geschenk“ bezeichnet Noro ihre Rückkehr. Um Mitternacht hat er Geburtstag. Vorher wird er Lasagne kochen. An diesem Abend nur für seine Lieblingsgäste.​