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Linksextremistin Lina E. zu Haft verurteilt - aber trotzdem auf freiem Fuß

20 Monate lang verhandelt das Oberlandesgericht Dresden gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte. Jetzt fielen die Urteile: Lina E. muss fünf Jahre und drei Monate in Haft. Während eine Solidaritätsdemo durch Dresden zieht, gibt es für sie eine Überraschung.

Von Karin Schlottmann & Alexander Schneider
 11 Min.
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Die Linksextremistin Lina E. wurde vor dem Oberlandesgericht Dresden zu mehreren Jahren Haft verurteilt.
Die Linksextremistin Lina E. wurde vor dem Oberlandesgericht Dresden zu mehreren Jahren Haft verurteilt. © Sebastian Kahnert/dpa

Dresden. Es wurde eine der längsten und auch eine der turbulentesten Urteilsverkündungen eines sächsischen Gerichts. Im Prozess gegen die Linksextremistin Lina E. sei es in den fast 100 Verhandlungstagen nicht darum gegangen, ob Menschen durch gewalttätige Angriffe verletzt wurden, sondern ob die vier Angeklagten die Taten begangen haben, sagte der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats am Mittwoch. Er begründete ausführlich und sehr detailliert, warum das Gericht im Gegensatz zu den Verteidigern die vier Angeklagten in den meisten Punkten für schuldig hielt.

Wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung sowie wegen Diebstahls und Nötigung verurteilten die fünf Berufsrichter die Hauptangeklagte Lina E. zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Das Gericht blieb damit unter dem Strafantrag der Bundesanwaltschaft, die acht Jahre gefordert hatte. Schlüter-Staats sagte, Lina E. habe in der kriminellen Vereinigung zwar eine hervorgehobene Position innegehabt, sie sei jedoch keine Rädelsführerin gewesen.

Nach langer Urteilsverkündung Überraschung für Lina E.

Am Abend setzte das Gericht den Haftbefehl gegen die 28-Jährige überraschend außer Vollzug. Schlüter-Staats begründete die Entscheidung unter anderem mit der langen U-Haftzeit von zweieinhalb Jahren, der hohen Haftempfindlichkeit und der Erkrankung der 28-Jährigen. Die Reststrafe muss Lina E. erst verbüßen, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Bis dahin muss sich zweimal wöchentlich bei der Polizei melden, darf den in der Akte vermerkten Wohnsitz nur mit Zustimmung des Gerichts wechseln und muss nach ihrem Reisepass auch ihren Personalausweis abgeben.

Auch die anderen Angeklagten müssen mehrere Jahre in Haft. Lennart A. wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, er soll Mitglied der kriminellen Vereinigung gewesen sein. Der dritte Leipziger Jannis R. wurde als Unterstützer zu zwei Jahren und fünf Monaten Haft verurteilt. Ebenfalls wegen Unterstützung wurde Phillip M. aus Berlin schuldig gesprochen. Er muss für drei Jahre und drei Monate ins Gefängnis, in der Strafe enthalten ist auch eine frühere Verurteilung des Amtsgerichts Tiergarten. Weiter urteilte das Gericht, dass die Opfer der linksextremen Angriffe von den Angeklagten Schmerzensgeld in vierstelliger Höhe bekommen sollen.

Nach Überzeugung des OLG-Strafsenats hat die Gruppe zwischen 2018 und 2020 mehrere Überfälle auf Rechtsextremisten in Sachsen und Thüringen begangen. Das Gericht berief sich dabei unter anderem auf Zeugen, auf die Aussagen der Opfer aus dem rechtsextremistischen Milieu, DNA-Spuren, Indizien sowie auf einen Aussteiger aus der linken Szene, einen früheren Mitstreiter.

Tumultartige Szenen im Saal

Nach den Ankündigungen der linksextremistischen Szene, am nächsten Sonnabend mit gewalttätigen Ausschreitungen in Leipzig gegen das Urteil zu protestieren, war mit einer angespannten Atmosphäre im Gericht gerechnet worden. Tatsächlich musste die Urteilsverkündung wegen Störungen mehrfach unterbrochen werden. Schon kurz nachdem Schlüter-Staats das Strafmaß verkündet hatte, unterbrachen Zuhörer ihn mit Sprechchören wie "129 das kennen wir schon, Feuer und Flamme der Repression". Der Paragraf 129 Strafgesetzbuch stellt Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer kriminellen Vereinigung unter Strafe. Nach weiteren lautstarken Zwischenrufen wie "Faschofreunde" und "Scheißsystem" führten Justizwachtmeister zwei Zuhörer aus dem Saal und erteilten ihnen ein Hausverbot.

Als Schlüter-Staats über den Überfall auf einen Kneipenwirt in Eisenach Ende 2019 sprach, reagierten die zahlreichen Unterstützer mit weiteren Unmutsbekundungen. Der Richter sagte, der Senat gehe unter anderem auch deshalb von einer Beteiligung der Hauptangeklagten aus, weil ihr Freund Johann G. ebenfalls am Tatort gewesen sei. Er solle sich schämen, rief unter anderem eine Frau durch die Trennscheibe Richtung Richtertisch. Ein weiterer Störer, der das Gericht beschimpfte, wurde aus dem Saal geführt. Die junge Frau neben ihm rief sichtlich erregt über die Begründung des Gerichts unmittelbar vor den Bediensteten vor ihr: "Beweislastumkehr!" Als die Wachtmeister nun auch sie baten, mitzukommen und den Saal zu verlassen, reagierte sie nicht, ließ sich dann aber hinfallen, als die Beamten sie an den Arm gefasst hatten. Auch sie wurde hinausgebracht.

Die Situation eskalierte nun weiter. Auch ein älterer Herr, der offenbar seinen Unmut geäußert hatte, sollte den Saal verlassen. Es wurde Laut, mehrere Zuschauerinnen schrien, eine Frau riss die Arme nach oben. Es dauerte einige Zeit, ehe die bediensteten die Lage wieder unter Kontrolle bekommen. Neben Bedienstete der Sicherungsgruppe der Justiz kamen auch rund 40 Polizeibeamte in den Saal. So sollte die Lage deeskaliert werden, sagte später ein OLG-Sprecher. Tatsächlich schien es zunächst die Stimmung weiter anzuheizen. Es wurden weitere Hausverbote ausgesprochen, ein älterer Mann, der Vater eines der Angeklagten, durfte danach jedoch wieder in den Saal zurückkehren.

Spontaner Angriff mit den schwersten Folgen

Nach der Mittagspause verlief die Urteilsbegründung deutlich gesitteter. Schlüter-Staats sagte, der Überfall auf einen Kanalarbeiter in Leipzig steche nicht nur wegen der schwerwiegenden Folgen für das Opfer besonders hervor. An der brutalen Tat könne man sehen, wohin es führe, wenn allein das Tragen einer bestimmten Mütze genüge, um ein Leben lang mit den Folgen von Schlägen und Tritten leben zu müssen. Er hoffe, dass diese Attacke Anlass sein könnte, über politisch motivierte Gewalt nachzudenken. Aber wer sich in seinen "ideologischen Schrebergarten" eingrabe, sei wohl nicht mehr zugänglich für solche Anregungen, sagte er unter dem Gejohle von Zuschauern.

Der Familienvater Mitte 30 hatte als Zeuge ausgesagt, dass er in seiner Jugend der rechten Szene angehört habe. Seit dem nicht mehr. Der Mann lebe nicht in Leipzig, habe erst am Morgen des Tattages erfahren, wo er zur Arbeit eingesetzt werde - kurz: anders als bei anderen Geschädigten sei der Kanalarbeiter zufällig zum Opfer geworden. Dieser Überfall sei anders als die anderen Taten vergleichsweise spontan gewesen.

Kronzeuge gibt tiefe Einblicke

Ausführlich ging der Vorsitzende in seiner knapp zehnstündigen Urteilsbegründung auch auf die Rolle des sogenannten Kronzeugen, einem früheren Mitstreiter der Gruppe und guten Freund von Lina E.s Partner Johann G. ein. Für den Kern der Entscheidung habe der Senat den Zeugen zwar nicht gebraucht, doch der Mann habe vieles, was bekannt war, abgerundet. Neu seien seine Aussagen jedoch zu den sogenannten Trainings gewesen.

Die Gruppe habe sich ab Ende 2017, Anfang 2018 intensiv auf solche Überfälle vorbereitet und Szenarien systematisch trainiert. Dazu gehörten etwa die Tatabläufe selbst, dass Angriffe nicht länger als 30 Sekunden dauern dürften oder dass ein Angriff sofort abgebrochen werde, wenn der Gegner etwa ein Messer zieht.

Solche Einblicke hätten für die Einordnung des Organisationsgrades eine erhebliche Rolle gespielt, sagte Schlüter-Staats. Ein noch strukturierteres Vorgehen sei "kaum vorstellbar". Das Gericht habe keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen. Für die Sympathisanten ist Mann ein Verräter, und so wunderte es nicht, dass die Stimmung im Saal bei diesem Thema wieder hitziger wurde.

Richter: Achtenswertes Motiv, aber dennoch Straftaten

Es sei durchaus ein achtenswertes Motiv, Rechtsextremismus entgegenzutreten, räumte Schlüter-Staats ein. Aber dennoch handele es sich bei den Angriffen um Straftaten und nicht um Bagatellen. Jeder Mensch genieße unveräußerliche Rechte unabhängig von seiner politischen Ideologie, dies sei ein zentraler Wert des Grundgesetzes und ein Resultat der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.

Der Prozess, der einer der größten bundesweit gegen Mitglieder der linksextremen Szene war, war auch nach Ansicht des Gerichts ein politisches Verfahren. Schlüter-Staats begründete dies mit dem Motiv der Täter und mit dem seiner Meinung nach erkennbaren Bemühen der Verteidiger, die Angeklagten fälschlicherweise zu Opfern von Polizei und Justiz zu erklären. Trotz der in Teilen nachvollziehbaren Kritik an den Mängeln der Strafverfolgung von Rechtsextremisten bestehe keine Notwehrlage, die die Angeklagten zu ihrem Handeln berechtigen würde, wie es die Verteidiger suggeriert hätten, kritisierte Schlüter-Staats. Deren Vorwurf eines kompletten Versagens im Kampf gegen Rechts sei falsch. Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts habe selbst in mehreren Prozessen hohe Haftstrafen gegen rechtsextremistische kriminelle Vereinigungen verhängt.

Die Behauptung, die Justiz wolle mit diesem Verfahren die juristischen Grenzen testen, wie weit der Begriff der kriminellen Vereinigung ausgedehnt werden könnte, sei "bestenfalls falsch". Ziel dieser Verteidigerstrategie sei es offenbar, die Basis für die Akzeptanz dieser Art von Straftaten zu verbreitern, warf er den Anwälten vor.

Auch das Ende des Prozesses fand unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt: Über Dresdens Stadtgebiet kreiste ein Polizeihubschrauber, das OLG hatte schon um 7.30 Uhr mit dem Einlass begonnen. Zuschauer und Medienvertreter mussten durch Sicherheitsschleusen.

Proteste gab es auch gegenüber des Gerichtsgebäudes: Dort versammelten sich Unterstützer der Angeklagten, demonstrierten gegen Prozess und Urteil. Außerdem wurden dort verschiedene Redebeiträge vorgelesen. Die Demonstranten sprechen von "mageren Indizien", dem Festhalten an Narrativen sowie über die Entsetzung, mit welcher Härte linke Strukturen verfolgt würden.

Im Gerichtssaal selbst sind die rund 150 Zuschauersitzplätze voll belegt, davor wird demonstriert.
Im Gerichtssaal selbst sind die rund 150 Zuschauersitzplätze voll belegt, davor wird demonstriert. © Robert Michael/dpa
Gegenüber dem Gerichtsgebäude wird aus Solidarität für die Angeklagten demonstriert. Es wird Musik gespielt.
Gegenüber dem Gerichtsgebäude wird aus Solidarität für die Angeklagten demonstriert. Es wird Musik gespielt. © SZ/Alexander Schneider
Gegen 8 Uhr kam die Angeklagte am Gerichtsgebäude an.
Gegen 8 Uhr kam die Angeklagte am Gerichtsgebäude an. © Robert Michael/dpa
Seit dem Morgen kreist über dem Gericht auch ein Hubschrauber der Polizei.
Seit dem Morgen kreist über dem Gericht auch ein Hubschrauber der Polizei. ©  Robert Michael/dpa
Neben großem Medienandrang am OLG in Dresden, erwarten die Behörden auch Demonstrationen. Die Polizei hat das Gericht weiträumig abgeschirmt.
Neben großem Medienandrang am OLG in Dresden, erwarten die Behörden auch Demonstrationen. Die Polizei hat das Gericht weiträumig abgeschirmt. © Robert Michael/dpa

Am Sonnabend sind Solidaritäts-Demonstrationen in Leipzig angekündigt worden, es werden Teilnehmer aus der militanten autonomen Szene aus ganz Deutschland angekündigt. Die Polizei bereitet sich mit Unterstützung von Einsatzkräften aus anderen Bundesländern auf Ausschreitungen und schwere Sachbeschädigungen an Einrichtungen der Polizei, der Justiz und bei Unternehmen und Geschäften vor. Am selben Tag sollen in Leipzig zudem ein Fußballspiel, ein Stadtfest sowie ein großes Popkonzert stattfinden. Die Polizeidirektion Leipzig geht von dem größten Einsatz der vergangenen zwei Jahre aus.

Sachsens Justizministerin ruft zu Besonnenheit auf

Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne) hat die linke Szene im Zusammenhang mit dem Urteilsspruch gegen mutmaßliche Linksextremisten zu Besonnenheit und Gewaltfreiheit aufgerufen. "Unseren demokratischen Rechtsstaat zeichnet aus, dass gegen seine Entscheidungen Rechtsmittel und Protest legitim sind. Gewalt ist es nicht", sagte sie am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Dresden.

Grund- und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Gerichte seien die Grundfesten der Demokratie. "Der Respekt vor unserer freiheitlich demokratischen Verfassungsordnung ist der Maßstab - auch und gerade dann, wenn über rechtsstaatliche Verfahren und Entscheidungen öffentlich diskutiert wird."

Sachsens Innenminister kündigt weitere Ermittlungen an

Auch Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) äußerte sich: „Dass die Täter verurteilt wurden, ist ein wichtiger und starker Erfolg des Landeskriminalamts Sachsen und des Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrum. Den Ermittlerinnen und Ermittlern gratuliere ich zu ihrer Leistung. Dieser Fall gehört mit zu den größten Ermittlungserfolgen Deutschlands im Kampf gegen die linksextreme Szene.“ Das Urteil habe eine starke Signalwirkung und zeige, dass linksextremistische Gewalt nicht toleriert werd.“ Schuster weiter: „Die Ermittlungen verdeutlichen, dass die vier Verurteilten nicht alleine gehandelt haben. Wir werden weiter ermitteln, das Netzwerk weiter aufdecken und sind zuversichtlich, auch weitere Straftäter vor Gericht bringen zu können.“

Auch zu bevorstehenden Demonstrationen am Wochenende in Leipzig äußert sich Schuster. Man rechne mit der Anreise sehr gewaltbereiter Aktivisten und Extremisten, sei aber gut vorbereitet und werde von Polizisten anderer Bundesländer unterstützt. Der Innenminister weiter: „Ich finde es indiskutabel, zu einer mutmaßlich nur der Gewalt dienenden Versammlung am Samstag nach Leipzig aufzurufen, wo viele Hunderttausende an diesem Wochenende friedlich das Stadtfest feiern und die Augen sächsischer Fußballfreunde auf das Landespokalfinale gerichtet sind.“

Bundesjustizminister begrüßt Dresdner Urteil

Reaktionen auf das Urteil kommen auch aus der Bundespolitik. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat das Dresdner Urteil gegen die Studentin Lina E. wegen mehrerer Angriffe auf Rechtsextreme begrüßt. "Extremismus bekämpft man nicht mit Extremismus. Wir müssen unsere liberale Demokratie schützen vor ihren Feinden, doch nicht mit Selbstjustiz", schrieb der Politiker am Mittwoch auf Twitter. Recht und Gesetz gelten für alle, hieß es weiter. "Wo die Grenzen der Rechtsordnung überschritten werden, sind Staatsanwaltschaft & Polizei gefordert."

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sieht eine zunehmende Gefahr durch linksextreme Gewalttäter. "In linksextremistischen Gruppen sind Hemmschwellen gesunken, politische Gegner auch mit äußerster Brutalität anzugreifen", sagte die Politikerin in Bezug auf das Urteil im Fall der mutmaßlich linksextremen Lina E. am Mittwoch. "Im demokratischen Rechtsstaat darf es keinen Raum für Selbstjustiz geben", hieß es in einer Mitteilung. Kein Ziel rechtfertige politische Gewalt.

Faeser mahnte, die Radikalisierungs- und Gewalt-Spirale dürfe sich nicht weiterdrehen. "Unsere Sicherheitsbehörden haben die gewaltbereite linksextremistische Szene sehr genau im Blick und werden weiter konsequent handeln", hieß es. Die Behörden würden zudem die linksextremistische Szene in den kommenden Tagen und Wochen weiter in den Fokus nehmen. (mit dpa)