Mittwochs von sechs bis acht Uhr wird geschlüpft. Dann picken sich etwa 6.000 Gänseküken aus den Eiern in Lorenz Eskildsens Brutkästen in Königswartha. Mit fiependem Schnattern teilen sie der Welt mit, dass sie es geschafft haben. Niedlich sehen sie aus mit ihrem gelb-braunen Flaum und den braunen Äuglein. Sie sind noch ganz wacklig auf den Beinchen.
In knapp sechs Monaten werden die meisten von ihnen zwischen Klößen und Rotkraut auf weihnachtlichen Festtafeln landen, gefüllt mit Apfel, Beifuß und Orange. Gezüchtet, um geschlachtet und gegessen zu werden – das ist nun mal der Grund, warum der Mensch den Aufwand der Nutztierhaltung betreibt. Die Frage ist: Wie geht es den Tieren? Dürfen sie artgerecht leben, bis sie geschlachtet werden? Oder fristen sie ein erbärmliches Dasein?
Für Eskildsen stellt sie sich nicht erst, wenn die Tiere schon da sind. Sie ist schon bei den Elterntieren relevant.
Der Gänsezüchter stammt aus dem schleswig-holsteinischen Dithmarschen, lebt aber seit über 30 Jahren in Sachsen. Seine Betriebe in Wermsdorf und Königswartha sind vielen bekannt. Eskildsen ist auch Vorsitzender des Bundesverbandes Bäuerliche Freilandhaltung. Die Gans, man darf das so pathetisch sagen, liegt ihm am Herzen.
„Immer größer, besser, weiter – das ist bei uns kein Zuchtziel“, sagt er. So naturnah wie in einer Massentierhaltung möglich sollen Zucht, Aufzucht und Mast laufen, das Schlachten so würdig und qualarm wie irgend machbar.
Echter Sex im Gänsestall?
Leben beginnt mit Sex. Anders als in Putenzuchtanlagen, in denen den Hähnen das Sperma abgezapft und den Hennen mittels Pipette eingespritzt wird, dürfen ihn Eskildens Vögel haben – Gans mit Ganter. Das reduziert zwar die Befruchtungsrate und es gibt mehr Ausfälle, aber die Küken werden auf natürlichem Weg gezeugt. Viel mehr bleibt dem Zufall dabei allerdings nicht überlassen.
Einem Ganter werden vier Gänse für die Dauer einer Brutsaison zugeordnet. Das heißt: Von März bis Ende Juni teilen sie einen Stall von fünf Quadratmetern inklusive Stroh, Nestern, Klappe ins Freiland. Die Eier werden abgesammelt, nummeriert, in die Brüterei gebracht. Auf etwa 40 summiert sich ihre Zahl pro Gans in der Zeit.
Im Elternstall in Königswartha ist es hell und sauber. Kein Gestank nach Gänsekot drängt sich in die Nase. Die Tiere sind das Kapital der Firma. Ihr Wohlergehen sichert den wirtschaftlichen Erfolg.
Sind Gänse wirklich schlau?
Die Zuchttiere sind gechipt. So lassen sich Stammbaum und Zuchtmerkmale immer zuordnen. Die männliche Linie basiert auf der Deutschen Legegans, einer sächsischen Züchtung aus den 1930ern. Als „frohwüchsig und futterdankbar“ beschreibt sie die Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen. Sie bringt die Fleischleistung. Die weibliche Linie kommt von der italienischen Legegans, die Fruchtbarkeit und Legeleistung einträgt.
Dürften sie so leben, wie es ihnen die Gene vorgeben, wären sie monogam und würden nach etwa 15 Jahren, wenn der Tod sie entzweit, um ihren Partner trauern. Die Erkenntnis, dass ihre soziale Intelligenz außerordentlich hoch entwickelt ist, hat dem österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz wohl ähnlich viel Aufmerksamkeit eingebracht wie sein Medizinnobelpreis. Er sah bei der Gans auch sonst Analogien zum Menschen. Neugier zum Beispiel. Und Wachsamkeit.
Auf den Wiesen, auf denen sich die Zuchtgänse ab Juli von der anstrengenden Saison erholen dürfen, blüht jetzt Kamille. Klatschmohn wiegt sich im Wind. Weiß gestrichene Friesenzäune umrahmen die Idylle. Bestünde gerade keine Geflügelpestwarnung und damit Stallpflicht, dürften die Elterntiere in einer Wasserrinne baden. Hier entsteht das Leben. In der betriebseigenen Schlachterei in Wermsdorf endet es.
Schon jetzt gibt es Prognosen, dass das Kilo Weihnachtsgans etwas weniger kosten wird, als die 17 bis 20 Euro, die 2022 dafür gezahlt werden mussten.
Eine Mitarbeiterin zieht einen Bollerwagen voller Eier zur Brüterei. Sie werden in einem der zwölf deckenhohen Brutkästen landen. Und dort: Eier rein – und in 30 Tagen Küken raus? Eskildsen lächelt milde. „Ganz so läuft es nicht ab“, sagt er. Denn das Brüten ist ein komplexer Prozess.
Warum kann ein Kasten die Muttergans ersetzen?
Die Gans betreibt viel Aufwand. Morgens watschelt sie zum Bach, um zu baden und zu fressen. In dieser Zeit kühlt ihr Gelege ab, Wind streicht über die Eier hinweg. Sie kehrt mit feuchtem Gefieder zurück und dreht die Eier um 180 Grad, damit die Dotter nicht an der Schale festkleben. Dann wird gebrütet, konstant bei etwa 38 Grad.
Wärme, Abkühlung, Feuchtigkeit, Frischluft, Drehung: All das muss der Brutkasten in der richtigen Reihenfolge und wohldosiert simulieren. In jeder der fünf Wochen von Befruchtung bis Schlupf sind die Bedürfnisse der Embryonen ein wenig anders. Ein speziell ausgebildeter Brutmeister überwacht, dass die Geräte ihnen genau nachkommen. Fällt nachts der Strom aus, klingelt ihn ein Alarmsystem aus dem Bett.
Sind die Küken geschlüpft, muss alles flink gehen. Die Natur hat die Gänsebabys zwar mit einem Dottersack ausgestattet, der sie 48 Stunden ernährt. Aber dann spätestens brauchen sie Wasser und Futter.
Ein großer Metallkorb voll flaumigen Gewimmels steht vor Andrea Lau und ihren Kollegen. Sacht, aber routiniert greift sie hinein, schnappt sich zwei Gänseküken und prüft, ob der Nabel geschlossen ist. Ihre jahrelange Praxis lässt sie in Sekundenbruchteilen erfassen, ob die Küken vital sind oder noch nicht ganz ausgereift. Die „guten“ kommen in eine grüne Transportbox – und weiter in den sofortigen Verkauf.
Die Mickerlinge landen in einem Korb unter dem Tisch. Greifvogelfutter für Sachsens Tierparks? „Nein, die kommen in unsere Aufpäppelstation. Manche brauchen einfach noch ein paar Tage, bis sie soweit sind“, sagt Andrea Lau.
Die Genetikerin ist die Zucht- und Betriebsleiterin am Standort Königswartha. Studiert hatte sie noch zu DDR-Zeiten an den Genetischen Instituten in Halle und Leipzig. Fachkreise schwärmen noch heute von der Qualität der damaligen Lehre.
Seit 1982 wird in Königswartha Gänsezucht betrieben, Frau Lau ist seit 1985 dabei. „Ich hab‘ schon Federn am Hals“, scherzt sie. Die genetische Reserve, quasi das Juwel, ist hier über die Jahrzehnte erhalten worden. Es gibt Backups an verschiedenen Standorten, damit die Zuchtlinien nicht in Gefahr sind, sollten alle Tiere in der Lausitz durch einen Seuchenfall gekeult werden müssen. Eskildsen hat das zwei Mal in Wermsdorf erlebt. Seine Augen werden starr, wenn er davon spricht.
Was passiert mit den Gösseln nach dem Schlupf?
100.000 Gössel verlassen den Betrieb jedes Jahr. 15.000 davon werden als Zuchttiere verkauft, die anderen in die Mast. Die meisten gehen nach Ungarn, Polen oder Tschechien. Die Zuchtgänschen aus der Lausitz genießen einen sehr guten Ruf und erzielen hohe Preise. Je nach Menge zahlen Kunden ab 30 Euro pro Küken. Mastgänse kosten ab Tausend Stück um die sechs Euro.
Heute geht ein Transporter nach Österreich. Gibt es mal einen Stau bei zu großer Hitze, darf der Fahrer die Polizei um Eskorte bitten. „Alles schon passiert. Bevor die Küken sterben“, sagt Eskildsen.
Amtstierarzt Steffen Rüder überprüft vorab, ob die Tiere den langen Fahrtweg überstehen können. „Sie sehen es ja selber: Die Küken sind gesund und munter – wie immer bei Frau Lau.“ Manche von ihnen nehmen den Flieger. Es gibt Bestände in Kanada, Südafrika, England, Schweden, Finnland.
Die Mickerlinge müssen nicht auf Reisen. Sie dürfen gleich in einen eigenen Gänse-Kindergarten quer über den Hof. Unter Wärmelampen dösen sie zusammengekuschelt im frischen Stroh. Von hier aus werden sie zu 7,50 Euro pro Tier an Privatleute verkauft, die sich Gänse zur Selbstversorgung halten möchten, oder sie bleiben in Eskildsens Mast.
Von den drei Standorten seiner Firma werden jährlich etwa 600.000 Küken zur Mast verkauft. Das sind 50 Prozent des deutschen Marktes.
Klingt viel? Ist es nicht. 21.000 Tonnen Gänsefleisch essen die Deutschen pro Jahr. Die Anzahl der Tiere wird nicht erfasst, denn das Individuum spielt in der Massengeflügelhaltung keine Rolle. Nur zehn Prozent der Martins- und Weihnachtsgänse stammen tatsächlich aus deutscher Produktion, der große Rest aus Polen und Ungarn.
Woran erkennt man, dass die Gans ein gutes Leben hatte?
„Deutsche Herkunft sollte beim Kauf die erste Wahl sein“, rät die Verbraucherzentrale. Angaben wie „bäuerliche Aufzucht“ oder „tiergerechte Haltung“ seien nicht geschützt. Sie sagen nichts darüber aus, wie die Tiere gelebt haben.
Eine Gans braucht zu ihrem Glück Auslauf, Gras, Wasser, Artgenossen. Bio- und bäuerliche Freilandhaltung kommen dem am nächsten. Dieser höchste deutsche Standard wird kontrolliert von den Veterinärbehörden. Wer diese Alleinstellungsmerkmale hat, deklariert sie auf der Verpackung ganzer Tiere freiwillig, denn die Haltung ist teuer.
Zehn Quadratmeter Auslauffläche pro Gans gehören mindestens dazu. Doch Zwangsmast und Lebendrupf sind in einigen EU-Ländern wie Belgien, Ungarn, Spanien und Frankreich noch immer erlaubt. Das Problem ist, dass es für einzeln verpackte Fleischstücke keine Deklarationspflicht gibt.
„Oft sind Keulen oder Bruststücke Abfallprodukte der Stopfleberproduktion“, weiß Eskildsen. Dabei bekommen die Tiere mit Hilfe eines Rohres statt der üblichen 200 Gramm täglich bis zu einem Kilo Futter in den Hals gestopft. Die Leber vergrößert sich durch Fetteinlagerung um ein Vielfaches. Die Gänse werden absichtlich krank gefüttert.
Aus der Brüterei in der Lausitz klingt zartes Piepen. Kaum vorstellbar, dass den niedlichen Flauschbällchen ein solches Schicksal drohen könnte.