SZ + Feuilleton
Merken

Ist Sachsen die Hochburg der radikalen Minderheiten?

Geht es darum, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Gefahr ist, wird oft als Beispiel auf Sachsen verwiesen. Nicht ohne Berechtigung. Ein Gastbeitrag.

 7 Min.
Teilen
Folgen
Immer wieder mobilisieren die selbsternannten "Freien Sachsen" zu Demonstrationen wie hier in Zwönitz. Die rechtsextreme Kleinpartei macht keinen Hehl daraus, dass sie die Demokratie ablehnt.
Immer wieder mobilisieren die selbsternannten "Freien Sachsen" zu Demonstrationen wie hier in Zwönitz. Die rechtsextreme Kleinpartei macht keinen Hehl daraus, dass sie die Demokratie ablehnt. © B&S

Von Gert Pickel

Politische Appelle, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, sind seit einigen Jahren an der Tagesordnung. Kaum ein Politiker oder eine Politikerin, egal welcher Partei, die nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschwört. Man kann sich zumindest darauf verlassen, dass es der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache tut. Das Problem ist nur – keiner weiß so recht, was genau der gesellschaftliche Zusammenhalt sein soll und wen er umfasst. Die Folge sind Deutungskämpfe über beides.

Nehmen die einen an, der gesellschaftliche Zusammenhalt schließe alle Bürger des Staates ein, wie sie gerade auf dem Staatsgebiet leben, würden ihn andere lieber auf in Deutschland geborene Personen ohne Migrationsgeschichte beschränken. Ist für die einen der gesellschaftliche Zusammenhalt eine solidarische, aber plurale Gemeinschaft, setzen andere auf Homogenität, oder ein homogen gedachtes Volk. Diese Deutungskämpfe zeigen uns zumindest eines, nämlich dass es möglicherweise um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht so gut bestellt ist.

3/4 der Sachsen haben Angst um den Zusammenhalt

Als Beispiel für diese Beobachtung wird gerne auf Sachsen verwiesen. Weniger, weil dort die Diskussion über gesellschaftlichen Zusammenhalt bereits früh ihren Anfang nahm, als vielmehr, weil Sachsen als Beispiel für die Krisendiagnose des gesellschaftlichen Zusammenhalts herhalten muss. So werden besonders westdeutsche Medien nicht müde, auf Sachsen zu verweisen, wenn wieder einmal der Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Tendenzen der innergesellschaftlichen Polarisierung zu belegen ist.

Die Demonstrationen von Pegida, eine steigende Zahl rechtsextremer Straftaten in Sachsen sowie die massiven Proteste von Impfgegnern in sächsischen Städten bieten gute Möglichkeiten für eine solche Interpretation. Viele Zeitungsartikel, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt thematisieren, liefern mit ziemlicher Sicherheit ein Beispiel dafür aus Sachsen. Da wundert es dann auch nicht, wenn 2018 (wie schon 2016) der Sachsen-Monitor bei drei Vierteln der Sachsen eine Angst vor dem Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts ermitteln konnte. Nur die Sorge darum, dass die Gegensätze zwischen Arm und Reich zunehmen, wurde mit 82 % häufiger genannt.

Geringes Vertrauen in sich selbst und in andere Menschen

Bei so vielen Sorgen stellt sich natürlich die Frage, was dies bedeutet und was zu diesen Ängsten führt? Zum einen sind es Ängste vor Veränderung und, dass die deutsche Kultur und Lebensart verloren geht. Diese Sorge wurde seit 2015 in starkem Maße auf Zuwanderung und Migration gerichtet, während es zuvor meist eine gefühlte Übergriffigkeit der Europäischen Union war. Die eigene Gesellschaft wird als Gemeinschaft verstanden, die allen Veränderungen trotzen sollte. Vor allem, weil diese Veränderungen von außen an die Gemeinschaft herangetragen werden.

Diese Abwehrhaltung ist allerdings nicht der einzige Grund für die bestehenden Ängste um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ein geringes Vertrauen in andere Menschen und vor allem ein geringes Vertrauen in Politiker tragen dazu bei, sich Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu machen. Es ist vor allem das, was Politikwissenschaftler Responsivität nennen, was man Politikern abspricht. Versprechen sie doch vor den Wahlen das eine und machen dann das andere oder nichts. Vor allem aber verfolgen sie in den Augen der Bürger ihre persönlichen Interessen und nicht die der Bürger, was immer diese auch genau sein mögen.

Die Mobilisierung des Unmuts erzeugt Ängste

Diese Mischung aus Ängsten, Nationalismus und Misstrauen gegenüber der Politik bündelt sich gerade in Ostdeutschland und in Sachsen. Und die Äußerungen werden immer lauter, radikaler und unversöhnlicher. Wie die Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 eindrücklich belegen konnte, werden Kompromisse zunehmend als Verrat an den Prinzipien der jeweiligen Parteien und Politiker angesehen und klare Entscheidungen gefordert, die dann aber am besten mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen.

Diese Mobilisierung des Unmuts erzeugt wiederum Ängste auf der Seite derer, denen diese Wut entgegenschlägt. Übergriffe auf Politiker, Polizisten, Ärzte, lautstarke Demonstrationen, wo man seine Kinder lieber von der Straße hält, oder die Angst, in ein Impfzentrum zu gehen, weil man Gefahr läuft, dort von Impfgegnern verbal oder körperlich angegangen zu werden, erweisen sich kaum als förderlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Das Vertrauen generell in andere Menschen untergraben

Vor allem untergraben diese Entwicklungen auf beiden Seiten ein zentrales Element des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das Vertrauen in andere Menschen. Dieses sinkt mit bestehenden Ängsten in starkem Maße und produziert tatsächlich eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es ist dann zwar beruhigend, dass die Demokratie immer noch von fast 90 Prozent der Sachsen als die beste Form einer Herrschaft angesehen wird.

Allerdings bereiten die Anreicherungen mit dem Wunsch nach einem Einparteiensystem oder einem starken Führer in der Demokratie dann doch mit Blick auf die Zukunft der deutschen Demokratie doch Sorgen. Schließlich muss man in Europa nicht weit schauen, wohin sich dies entwickeln kann. Die unter dem Banner einer "wahren Demokratie" angetretenen Rechtspopulisten in Polen und Ungarn, schränken den Rechtsstaat ein und kontrollieren einst freie Medien. Schutzpatrone der Demokratie sind sie nicht.

Natürliche Widerspenstigkeit gegen staatliche Lenkung

Und sicherlich, die Erfahrungen der Transformation haben viele Ostdeutsche, nicht nur in Sachsen, verbittert und teilweise in eine Konfrontationsstellung zu den Vertretern der deutschen Demokratie gebracht. Gleichwohl haben die derzeitige Polarisierung und Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie die damit verbundenen Ängste oft nur begrenzt mit diesen Erfahrungen zu tun. Neben einer natürlichen Widerspenstigkeit gegen staatliche Lenkung bricht sich auch ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber dem politischen System sowie ein Misstrauen gegenüber den weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen Bahn.

So wollen nicht wenige weder Zuwanderung noch ein Mehr an sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, Strukturwandel oder persönliche Einschränkungen aufgrund einer Klimastrategie. Selbst wenn Sachsen keineswegs der alleinige Hort rechter Mobilisierung ist, scheint doch hier und in anderen ostdeutschen Bundesländern die Distanz zur deutschen Demokratie in erheblichem Umfang anzuwachsen.

Sie sind keine Vertreter einer schweigenden Mehrheit

Ein nicht unwichtiger Grund mag die durch Rechtspopulisten forcierte Reduktion des Zusammenhalts auf eine immer kleinere Gruppe an Bürgern sein, die eine Polarisierung gezielt vorantreibt. Nun darf man sich von den Zahlen bei Demonstrationen nicht täuschen lassen: Sie sind auf die Gesamtbevölkerung Sachsens bezogen trotz aller Reklamation der Vertretung des Volkes doch nur eine Minderheit. Umfragen zeigen, sie sind auch keineswegs die Vertreter einer schweigenden Mehrheit.

Aber es gilt auch: Diese Minderheit radikalisiert sich und gefährdet dadurch wirklich den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Form von Solidarität und Sozialvertrauen. Sie erhöht durch ihre mediale Präsenz den Eindruck eines Zerfalls des gesellschaftlichen Zusammenhalts gerade in Sachsen. Betrachtet man nüchtern Zahlen zur Haltung gegenüber verschiedenen sozialen Gruppen, dann scheint der gesellschaftliche Zusammenhalt in Sachsen nicht ungefährdet. Sei es die Ablehnung von Muslimen (38 – 62 Prozent), Sinti und Roma (49) oder von Langzeitarbeitslosen (43).

Den radikalen Kräften ist in der Regel das Thema egal

Immer wieder münden das geringere soziale Vertrauen und die Ängste vor dem gesellschaftlichen und gerade kulturellen Wandel in Abgrenzung und Exklusion. Und Abgrenzung wie auch Polarisierung sind die größte Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Entsprechend muss man sich dann doch Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Sachsen machen, wenn es den radikalen und extremistischen Kräften gelingt, auf die eine oder andere Weise für sich Unterstützung zu mobilisieren.

Den radikalen Kräften ist dabei in der Regel das Thema egal, profitieren sie von jeder Form der Spaltung. Denn Ängste verführen Bürger zu glauben, dass etwas radikal anderes möglicherweise besser sei. Oft haben sie nicht vor Augen, dass sie gerade auf diese Weise zur Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts beitragen, den sie fürchten. Angst ist eben kein guter Berater.

Unser Gastautor Gert Pickel ist Professor für Soziologie und Co-Leiter des Forschungsinstitutes Gesellschaftlicher Zusammenhalt am Standort Leipzig. Zusammen mit Steffen Kailitz und Tobias Genswein veröffentliche er unlängst das Buch "Sachsen zwischen Integration und Desintegration" (Springer VS, 247 Seiten, 54,99 Euro).