Pfarrer missbrauchte Ministranten und Familie

Nur ein kleiner Lebensbaum, ein Blumensträußchen und ein Grablicht erinnern an den Menschen, der hier, auf dem Friedhof von Wieste im Emsland, seine letzte Ruhe fand. Kein Grabstein, nicht einmal ein Name. Dabei war er doch ein katholischer Priester. Sogar ein sehr guter, heißt es im Ort. „Er hat uns den Glauben sehr anschaulich erklärt.“
Doch schon die Trauerfeier für Erich G. in der Dorfkirche Ende September 2015 war seltsam überschaubar gewesen: ein paar Geistliche, ein Bruder, die Schwägerin. Im Requiem erklang das aus Schlesien stammende Kirchenlied „Über die Berge schallt“. Es war das Lieblingsstück des verstorbenen Pfarrers.
Jahrzehntelang war G. in Sachsen tätig gewesen: in Riesa, Aue, Zittau, Kipsdorf, Dippoldiswalde, Hainichen und Neugersdorf. Zu seinem Gedenken schrieb der heutige Generalvikar des Bistums Dresden-Meißen: „Möge Gott ihm seine Mühe und Arbeit im Weinberg des Herrn vergelten und ihn in Seiner Gnade und Barmherzigkeit zum Licht der Auferstehung führen.“
Statt Licht aber wirft das Priesterleben von G. mehr Schatten auf die Diözese: Er ist ein Missbrauchstäter. Klaus Reinhard* und Matthias Vogel* versichern, zwei seiner Opfer gewesen zu sein. Beide seien etwa 13 Jahre alt gewesen, als es geschehen sei. Sie halten es für möglich, dass G.s Handeln mehr als ein Dutzend Kinder und Jugendliche traumatisiert hat.

Riesa, Ende Februar. Ein schlichtes Haus am Stadtrand. Auf dem Tisch dampft Kaffee. Klaus Reinhard hat über 50 Jahre geschwiegen, nicht einmal seiner verstorbenen Frau hat er etwas erzählt von „der Sache mit G.“. Nun redet der Endsechziger. Es dränge ihn, seinen Freunden und dem Familienkreis der Kirchgemeinde das Geschehene mitzuteilen. „Sie sollen wissen, dass so etwas nicht nur irgendwo anders ist, sondern auch hier war.“
So etwas wie „die Sache mit G.“. Die habe im Sommer 1963 ihren Lauf genommen, sagt Reinhard. G. sei damals Diakon in Riesa gewesen. „Der war locker, das hat uns gefallen.“ Uns, das waren er und einer seiner damaligen Freunde. Nennen wir ihn Adam. Man habe sich fast täglich nach der Schule in der Kirche getroffen. Der Diakon habe sie dann zum Klettern ins Erzgebirge mitgenommen. Schließlich habe G. ihn und Adam für ein paar Tage nach Zingst an die Ostsee eingeladen. Man sei nicht mit dem Zug gefahren, sondern geflogen, mit einer Iljuschin IL-14 von Leipzig nach Barth. Im Flugzeug habe G. ihm ins Ohr geflüstert: „An der Ostsee gehen wir nackig baden.“ Man sei an den Weststrand gegangen. „Er legte sich nackig an eine große Baumwurzel. Wir trauten uns nicht, uns auszuziehen.“ Dabei sei es zunächst einmal geblieben.

Im Dezember 1963 empfängt G. in Bautzen das Weihesakrament. Aus Riesa sind Reinhard und einige andere Gemeindemitglieder dabei. Nach der Weihe sei man mit einem Robur-Bus zur Primiz, der ersten feierlichen Messe, in die erzgebirgische Heimatgemeinde von G. gefahren, schildert Reinhard. Vier Monate später sei er nach Aue eingeladen worden, der ersten Kaplanstelle von G. „Meine Mutter sagte zu mir: ‚Schön, dass der dich einlädt.‘“
Der Kaplan habe sich in seiner Wohnung ausgezogen. „Wir saßen dann in Sesseln, und ich musste mich auch ausziehen, das war schon komisch, aber er gab mir Zigaretten und ich habe sie geraucht, weil das cool war.“ In der Nacht sei G. zu ihm ins Bett gestiegen. „Ich war wie erstarrt und hatte die Augen zu. Er hat mich angefasst und an mir rumgemehrt. Heute frage ich mich, warum ich nicht aufsprang und ihn anbrüllte.“ Am nächsten Morgen habe er in G.s Sonntagsmesse ministriert. „Ich hätte kotzen können.“
Mit 59 Jahren in den Ruhestand
Danach habe er G. nie wieder getroffen, nur einmal noch habe er ihn von Weitem in der Dresdner Hofkirche gesehen. Sein Freund Adam sei plötzlich nicht mehr zur Kirche gekommen. Danach war nur noch Schweigen.
Bis Reinhard einen Aufruf von Dresdens heutigem Bischof Heinrich Timmerevers liest, in dem er Missbrauchsbetroffene auffordert, sich zu melden. Es kommt zum Gespräch mit dem Bistumsoberhaupt, Reinhard wird Einsicht in die Akte von G. angeboten. Er lehnt ab, weil er befürchtet, „dass eh alles geschwärzt ist“.
Auffällig ist, dass G. bereits mit 59 Jahren in den Ruhestand ging. Zunächst bezog er eine Kirchenwohnung in Seifhennersdorf. Seine Kräfte hätten ihn seit 1992 „in zunehmendem Maße verlassen“, formuliert der Generalvikar im Nachruf.

Angeblich wegen einer dort lebenden Tante zieht G. 1994 plötzlich ans andere Ende Deutschlands, ins Pfarrhaus Wieste. Und offenbar mit immer noch genügend Kräften ausgestattet, um neue Missbrauchstaten zu begehen. Das belegen Dokumente, die Sächsische.de eingesehen hat. Demnach vergeht er sich im Emsland an zwei seiner Großneffen aus Sachsen, an Matthias Vogel und dessen älterem Bruder Michael. Ihre wahre Identität ist der Redaktion bekannt. Sie muss jedoch geschützt werden, weil beide schwere Verwerfungen in ihrem sozialen Umfeld fürchten.
Die zwei ließen sich in den Sommerferien Ende der 1990er-Jahre als Teenager mehrmals vom Großvater zu G. ins Emsland bringen. Ihren Eltern mangelte es an Geld für einen Familienurlaub. Bereits zuvor hatte der Pfarrer den Jungs Reisen geschenkt, mal nach Teneriffa, mal nach Norwegen. Einen Urlaub spendierte er der gesamten Familie, die das dankbar und vertrauensvoll annahm.
Ein "seltsamer Hang zur Nacktheit"
Wie Klaus Reinhard fällt auch Matthias Vogel G.s „seltsamer Hang zur Nacktheit“ auf. Die Pfarrwohnung in Wieste sei eine „Nackedei-Zone“ gewesen. Tagsüber seien der Ruhestands-Pfarrer, der noch bis ins Jahr 2000 hinein Messen zelebrierte, und er ohne jede Bekleidung herumgelaufen. Vor dem Schlafen habe er seinen Großonkel befriedigen müssen. Das sei „das normalste der Welt“, habe G. ihm erklärt. Das sei „schön und richtig“. Das habe er auch schon in Neugersdorf mit seinen Ministranten so gemacht. All das aber müsse „unter uns bleiben“.
Vogel zufolge habe es zwar keinen unmittelbaren körperlichen Zwang gegeben, aber G. sei derart respektgebietend aufgetreten, dass er und sein Bruder es nicht gewagt hätten, sich aufzulehnen. Ihren Eltern hätten sie aus Scham nichts erzählt. Dass es einen Zeugen gibt, der sagt, sechs Jahre nach dem Fortzug wären mehrere Menschen an Erich G.s alter Wohnung in Seifhennersdorf aufgetaucht („Die standen auf einmal vor der Tür, das waren Missbrauchsopfer.“) – davon weiß Vogel nichts.

Die Übergriffe kommen erst 2011 heraus. Mehr als zwölf Jahre nach den Taten und eher zufällig. Sein Bruder hatte sich zunehmend von der katholischen Kirche abgewendet und weigerte sich nun, sein Kind taufen zu lassen. Die Eltern reagierten mit Verärgerung und Unverständnis. Bis Michael Vogel von Wieste erzählte. Nach der Offenbarung bricht die Familie jeden Kontakt zu G. ab.
Der jüngere Bruder Matthias wendet sich derweil ans Bistum. „Es verfolgt mich überall.“ Später räumt er ein, panische Angst davor zu haben, dass etwas öffentlich wird. Er habe das Gefühl, die Leute starrten ihn an. Fernab der Öffentlichkeit beginnt Dresden-Meißen ein kirchenrechtliches Verfahren gegen G. und bittet um Amtshilfe beim für Wieste zuständigen Bistum Osnabrück.
Dort ist Domkapitular Heinrich Silies zuständig. Er besucht G. Der beteuert, er hätte nie einen Hang zu Jungen gehabt. Die Missbrauchsvorwürfe streitet er ab und schreibt nach Dresden: „12 Jahre! Wer kann sich da noch erinnern.“ Der Fall müsse zugunsten seiner seelischen Verfasstheit ad acta gelegt werden, „damit Ruhe wird“. Er macht Krankheiten und Erinnerungslücken geltend Silies schreibt: „Er wird mauern und abwarten, weil er spürt, so am besten“ weiterzukommen.

Ende April 2012 erstattet das Bistum Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück ermittelt. Ein Amtsrichter vernimmt Matthias Vogel in seiner sächsischen Heimat. Danach schreibt er: „Mein seelischer Zustand ist sehr labil, und ich wünsche mir nur noch Frieden.“