Kommt der Wendepunkt im Prozess um Lina E.?

Schon seit Wochen ist die Polizeipräsenz vor dem Hochsicherheits-Gerichtsgebäude am Dresdner Hammerweg sichtbar erhöht. Schwer bewaffnete Beamte tragen selbst in der größten Hitze ihre schwarzen Uniformen, manche sogar Masken. Sie sichern den Prozess gegen Lina E. und drei Mitangeklagte ab, eine vermeintlich gewaltbereite linksextreme Gruppe aus Leipzig. An diesem Donnerstag könnten es noch mehr werden, egal, wie heiß es ist.
Der Grund ist ein Kronzeuge, der erstmals aussagen soll – und von dem es abhängen kann, wie der spektakuläre Prozess gegen die Leipziger Linken weitergeht. Vorerst sechs Tage sind für die Vernehmung des Szeneaussteigers reserviert.
Seit September 2021 verhandelt das Oberlandesgericht Dresden (OLG) gegen das Quartett, das mit weiteren Komplizen über Jahre gezielt Neonazis ausspioniert, angegriffen und teils schwer verletzt haben soll – in Leipzig, in Wurzen und in Eisenach. Der Name der Hauptbeschuldigten ist längst zum Symbol geworden: Lina E.
Die Studentin der Erziehungswissenschaften ist für die Generalbundesanwaltschaft Kopf einer „militanten, linksextremistischen Vereinigung“. Die 27-Jährige sitzt schon seit November 2020 in Untersuchungshaft. Als Einzige der vier Angeklagten. Wenn sie zum Gericht gebracht wird, kreist noch immer manchmal der Polizeihubschrauber über ihrem Konvoi. Der Staat zeigt Zähne.
Ursprünglich hatte der Staatsschutz-Senat geplant, die Hauptverhandlung noch 2021 abschließen zu können. Doch auch ein Dreivierteljahr und 59 Sitzungstage später ist kein Ende absehbar. Das liegt vor allem an der Arbeit und dem gemeinsamen Agieren der Verteidiger. Kein Angeklagter – neben der nicht vorbestraften Lina E. drei polizeibekannte Linksextreme aus Leipzig und Berlin – hat sich zu den Vorwürfen geäußert. Die Anwälte halten die Vorwürfe für konstruiert, überzogen und vor allem: politisch motiviert. Dass dem Quartett neben gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch auch Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen wird, werten sie als Beleg dafür.
Die Beweislage stellt sich Beobachtern bisher, gelinde gesagt, durchwachsen dar. So wurden bei der Festnahme von Lina E. etwa anonyme Handys sichergestellt, Fotos, die den Weg zu einem Tatort zeigen. Sie wurde auch nach einem Überfall in Eisenach nach einer Verfolgungsfahrt von der Polizei gestellt – im VW Golf ihrer Mutter, an dem falsche Kennzeichen hingen. Die echten lagen im Wagen. Es soll auch DNA-Spuren geben, die E. belasten.
Ein Insider, der auspackt?
Andererseits hat kein Geschädigter Lina E. wiedererkannt, auch keinen Mitangeklagten. Erst letzte Woche teilte der Senat mit, er gehe – anders als die Bundesanwaltschaft – nicht davon aus, dass der Angeklagte aus Berlin an einer der angeklagten Überfälle beteiligt war. Seine Verteidiger konnten ein Alibi nachweisen – ausgerechnet mit Observationsmaterial der Bundesanwältin.
Der Verdächtige war fast lückenlos in Berlin überwacht worden, sein Hauseingang gefilmt, seine Telefonate abgehört – während er laut Anklage in Eisenach gewesen sein soll. Und als wäre das nicht genug, haben mobile Einsatzteams der Polizei nichts voneinander gewusst und sich mehr oder weniger gegenseitig beschattet, wie die Beamten selbst einräumen mussten. Das alles trägt nicht zum Vertrauen in die Arbeit der Ermittler bei.
Doch seit Mitte Juni gibt es eine neue Lage. Da wurde bekannt, dass ein Verdächtiger, mutmaßlicher Komplize und langjähriger Weggefährte der Angeklagten, als Kronzeuge aussagen will. Ein Insider, der auspackt. Etwas Schlimmeres konnte aus Sicht der Angeklagten nicht passieren.
„Verräter“ ist noch eine der milderen Vokabeln, mit denen der Mann von seiner früheren Szene bedacht wird. Es soll auch Morddrohungen geben. Daher haben Polizei und Justiz die Sicherheitsvorkehrungen vor und in dem Prozessgebäude nochmals verschärft. An diesem Donnerstag soll die mehrtägige Vernehmung beginnen – begleitet von einer „Soli-Demo“ und zahlreichen Sympathisanten, die bislang an jedem Sitzungstag im Saal waren.
Doch zunächst dürfte der Senat über den Ausschluss der Öffentlichkeit zu beraten haben. Das fordert Anwalt Michael Stefan, der Rechtsbeistand des Kronzeugen. Bereits am Mittwoch sagte der Vorsitzende Richter in der Verhandlung, dem Senat sei bewusst, dass die Sicherheit des Zeugen nicht nur im Gerichtssaal gefährdet sei, sondern sich seine Gefährdung auch durch das, was er sagt, verschärfen könnte.
Die bittere Ironie ist, dass der Prozess ohne das engagierte Auftreten der Verteidiger wohl längst abgeschlossen wäre – lange, bevor sich der Kronzeuge im April an die Behörden wandte.