Lasst uns im Osten doch mal selber machen!

Von Grit Lemke
Auf einmal war das alles wieder da, nach 30 Jahren, mit all den schrecklichen Gefühlen. Man hat das in der Zwischenzeit ja irgendwo in sich ablagern müssen, so etwas kannst du nicht ständig bewusst mit dir herumtragen. Und mir ist richtig schlecht geworden, als ich die Bilder der Pogrome 1991 jetzt wieder gesehen habe, als eine Dokumentation darüber hier öffentlich vorgestellt wurde. Ich habe auch erlebt, dass es sehr vielen so ging wie mir. Die standen bei der Diskussion danach auf und erzählten zum ersten Mal nach drei Jahrzehnten darüber, wie das damals für sie war. Wir haben das ja alles gehört und mitbekommen. Und wir wussten, wie schlimm das war, was da gerade geschah.
Aber da war eben auch die Angst. Und dieser Schock: Das waren unsere Nachbarn und Kollegen, die da gegrölt und Steine auf die Häuser geworfen haben, in denen die Vertragsarbeiter wohnten. Leute, die wir kannten. Und 500 oder mehr Einwohner standen da und haben applaudiert. Leider gab es damals keine wirkliche Chance, damit selbstkritisch umzugehen. Weil in den Medien sofort der ganze Ort als Nazi-Nest bezeichnet wurde. Da haben sich natürlich viele Hoyerswerdaer selbst als Opfer betrachtet, was sie ja zumindest teilweise auch waren, nämlich Opfer der unfairen Stigmatisierung ihrer Stadt als dumpfes braunes Nest voller Idioten.

Diese Verletzungen haben dazu geführt, dass viele verdrängt haben, wer die wirklichen Opfer des Pogroms waren. Die wurden 30 Jahre lang fast vergessen. Was dramatisch für sie war und ist. Man muss sich das vorstellen: Da werden Vertragsarbeiter aus Mosambik von einem Mob angegriffen, und der Staat reagiert darauf, indem er sie wegschafft, ins Flugzeug setzt, aus dem sie in Maputo aussteigen, wo sie noch nicht mal Geld für die Busfahrt nach Hause hatten. Bis heute haben sie nichts bekommen von dem, was ihnen zusteht, nämlich sechzig Prozent ihres Lohns und das Geld aus ihren Arbeitslosenversicherungs- und Rentenverträgen. Geschweige denn eine Entschädigung. Ich finde das furchtbar.
Aber der 30. Jahrestag hat auch gezeigt, dass sich inzwischen vieles geändert hat. Einer der Vertragsarbeiter, David, ist vorher schon mal wieder hier gewesen. Aber niemand hat sich für ihn und seine Geschichte interessiert, niemand! Das war jetzt, bei seinem letzten Besuch, dann doch anders. Endlich ist das Interesse da. Weil in Hoyerswerda inzwischen eine Zivilgesellschaft entstanden ist, die sich kümmert.

Das hat eine lange Vorgeschichte. Die ersten, die sich wirklich gekümmert haben, waren ganz junge Leute. Die Kinder der Menschen, die das damals wie ich bewusst erlebt haben. Die haben in den 2000er-Jahren die Gruppe „Pogrom 91“ gegründet und Material gesammelt, Zeitzeugenberichte, Zeitungsartikel, Fotos. Die haben – wie die 68er im Westen – ihre Eltern gefragt: Wo warst du damals, was hast du 1991 gemacht? Wenn heute noch so viel über das Pogrom bekannt ist, dann verdanken wir das diesen jungen Leuten. Nur – lange hat es ihre Gruppe nicht gegeben. Die haben vor 20 Jahren keinerlei Unterstützung erfahren, von niemandem. Und die haben alle die Stadt längst verlassen, um anderswo zu leben und zu arbeiten.
Dass sich jetzt doch eine Zivilgesellschaft entwickelt hat, die sich um die Erinnerung kümmert, liegt an Menschen, die sich zusammenfanden, um gegen Nazis aktiv zu sein. Die teilen zum Beispiel das Stadtgebiet auf und entfernen Aufkleber, haben hier einen Thor-Steinar-Laden mit diesen Klamotten für Rechtsextreme verhindert und werden aktiv, wenn die rechtsextreme identitäre Bewegung hier Propaganda macht und einen Stand aufbaut.

Vieles geht von der Kulturfabrik aus. Dorthin kommen inzwischen immer mehr Leute aus der Neustadt, der ehemaligen sozialistischen Musterstadt. Es kommen auch solche, die eigentlich gar nicht das klassische Publikum eines solchen Kulturzentrums sind. Aber auch so was hat hier Tradition, und die stammt aus der DDR-Zeit. Man darf nicht vergessen, dass Hoyerswerda damals quasi eine Kulturmetropole war. Es gab eine sehr aktive subversive Szene – in den Achtzigern kamen regelmäßig Leute aus Berlin, Dresden und Leipzig her, weil in Hoy so viele spannende Dinge passiert sind.
Insofern ist das, was jetzt passiert, auch eher eine Wiederbelebung. Als Plattenbauten abgerissen wurden, war das zusätzlich zu den Tausenden weggefallenen Arbeitsplätzen und dem Wegzug so vieler Freunde und Kinder für viele Menschen auch noch eine Vertreibung aus ihrem Zuhause, in dem sie 30 Jahre und länger gewohnt hatten.

Das war für sie extrem schmerzhaft, und niemand hat sich darum gekümmert. Die Einzigen, die da etwas getan haben, waren Leute aus der Kulturszene. Die Architektin Dorit Baumeister zum Beispiel. Die hat zusammen mit anderen Engagierten Kunst- und Kulturprojekte angestoßen, in denen das alles wenigstens thematisiert und damit ernst genommen wurde. Und viele Bürgerinnen und Bürger haben sich daran beteiligt. Die Leute hier wollen anpacken.
Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass es hier endlich einmal losgeht mit den Strukturwandelprogrammen, von denen bis jetzt leider kaum etwas zu spüren ist. Wovon übrigens die AfD massiv profitiert, denn die sind ja als einzige total gegen den Kohleausstieg – der aber natürlich unbedingt kommen muss! Davor hat die ganze Region hier total Angst, verständlicherweise, nach den traumatischen Erfahrungen der Neunziger.

Aber Hoyerswerda ist auch da etwas anders als die Umgebung, das darf man nicht vergessen. Hier hat die AfD bei der Bürgermeisterwahl nur 16 Prozent geholt und bei der Bundestagswahl zwar 25, aber dicht dahinter, mit weniger als einem Prozentpunkt, ist als zweitstärkste Kraft die SPD. Die stellt hier auch den Bürgermeister. Ich sehe in meiner Stadt wirklich sehr viel Potenzial. Du hast hier jede Menge kompetente Leute, die Vorschläge erarbeiten für den Strukturwandel.
Umso schlimmer, dass die immer wieder abgelehnt werden. Stattdessen werden ihnen Gutachter zum Beispiel aus München vor die Nase gesetzt. Die wollen den Leuten in Hoyerswerda dann erklären, wie das mit dem Strukturwandel nun gehen wird. Ich vermute mal, auch dieses Ignorieren der eigenen Kompetenzen der Bürger sind Dinge, die bei vielen das Vertrauen in das Funktionieren der demokratischen Strukturen samt dem Prinzip der Mitbestimmung nicht eben stärken.
Doch auch das kennen wir hier seit ewigen Zeiten. In Hoyerswerda ist man es schon aus Ostzeiten gewohnt, dass wir „von Berlin“ vergessen werden, dass wir uns selbst kümmern müssen. Gerade die Neustädter haben sich schon damals eigentlich auch nichts verbieten lassen. Und wenn ihnen etwas verboten wurde, was sie gerne gemacht hätten, haben sie einen Weg gefunden, es trotzdem zu tun.
Man nennt das Eigensinn, und der scheint mir hier, aber auch in ganz Sachsen besonders stark ausgeprägt zu sein. Der Wille, sich nicht alles vorschreiben oder verbieten zu lassen. Und der Politik auf die Finger zu schauen, sie kritisch zu beäugen, widerspenstig zu sein. Klar, das kann auch in die falsche Richtung gehen, wie wir seit Pegida oder Corona mit den Querdenkern und den vielen Impfverweigerern immer wieder sehen. Aber ich glaube, grundsätzlich könnten dieser Eigensinn und eine gewisse Widerspenstigkeit auch gute und sehr demokratische Einstellungen sein.
Und noch etwas kommt dazu: Die Leute hier sehen, wenn irgendwo Hand angelegt werden muss, und machen es dann auch. Wenn sie sehen, dass im Garten vom Nachbarn dringend was zu tun ist oder am Haus etwas repariert werden muss, wenn die Eigentümer das nicht mitkriegen, weil sie zum Beispiel im Urlaub sind, dann packen die an. Als ich einmal einen Hänger brauchte, um Sperrmüll zu entsorgen, habe ich im Freundeskreis gefragt, ob jemand einen hätte. Da haben sich gleich mehrere angeboten. Die brachten mir aber nicht nur den Hänger. Sie haben auch mit angepackt, und als das erledigt war, haben sie gefragt: Wann geht’s morgen weiter?
Das scheint mir auch ein Weg für die Politik und die Medien zu sein: Nehmt ernst, was die Leute für richtig und wichtig halten. Lasst sie auch mal einfach machen, belehrt sie nicht, nutzt das, was sie draufhaben, redet sie nicht runter. Zeigt nicht nur immer auf jene, die AfD wählen, sondern stärkt die anderen, die es nicht tun, die dagegenhalten! Und macht vor allem nicht das, was ich vor Kurzem in einem Bericht über mein Buch in der Sendung Kulturzeit bei 3sat gesehen habe: Der Beitrag schloss mit einer Grußbotschaft aus Hoyerswerda nach Mosambik an die Opfer der Pogrome von 1991. Das war ein total schönes, positives und konstruktives Ende. Aber direkt danach sagte die Moderatorin quasi als angehängtes Schlusswort: „…und bei der Bundestagswahl hat hier ein Drittel AfD gewählt.“ Das war nicht nur sachlich falsch. Das war wie ein nachträglicher Tritt in den Hintern. (Notiert von Oliver Reinhard)
Unsere Autorin Grit Lemke wurde 1965 in Spremberg geboren und wuchs in Hoyerswerda Neustadt auf. Dort machte sie eine Lehre zur Baufacharbeiterin, war im Theater- und Kulturbereich der Stadt aktiv und an diversen Kunstaktionen beteiligt. Nach einem Studium der Kulturwissenschaft, Ethnologie und Literaturwissenschaft in Leipzig promovierte sie an der Berliner Humboldt-Universität in Europäischer Ethnologie. Seit 1991 ist Grit Lemke in verschiedenen Funktionen für mehrere Filmfestivals tätig und arbeitet als Autorin für Print und TV. Ihr Dokumentarfilm „Gundermann Revier“ war 2020 für den Grimme-Preis nominiert. Vor wenigen Wochen erschien ihr autobiografisches Buch „Kinde von Hoy – Freiheit, Glück und Terror“ (Suhrkamp-Verlag, 255 Seiten, 16 Euro).
Denkanstöße, über die wir reden sollten:
Deutschland könnte „mehr Osten wagen“. Mir dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurde 1990 das westliche System auf 18 Millionen Menschen übertragen. Ostdeutsche Erfahrungen und Ideen wurden dabei kaum oder gar nicht berücksichtigt. Seither scheint der Weg zur Vollendung der Wiedervereinigung ausschließlich zu sein, dass der Osten sich immer mehr dem Westen angleichen soll. Da aber auch das klassische demokratische System westlicher Prägung Krisensymptome zeigt, wäre es eine Überlegung wert, zu fragen: Was könnte bei der Zukunftsgestaltung der Westen vom Osten lernen? Welche positiven und konstruktiven Kräfte könnten ostdeutscher Eigensinn und Gemeinsinn entfalten? Auf Basis welchen Potenzials – wie zum Beispiel die ostdeutschen Erfahrungen mit dem Meistern tiefgreifender Veränderungsprozesse – sollte der Westen ruhig einmal „mehr Osten wagen“?
Lasst die Bürger mehr mitbestimmen. Der Strukturwandel durch den Kohleausstieg betrifft Sachsen in besonderem Maße. Hier gibt es viele Menschen mit Erfahrungen und Visionen, wie sich der Prozess gestalten ließe, ohne 30 Jahre nach den großen Arbeitslosigkeits-Wellen ein zweites Mal den Menschen existenzielle Brüche zuzumuten. Hoyerswerda etwa hat die Hälfte seiner Einwohnerschaft verloren. Solche Erfahrungen fehlen vielen Gestalterinnen und Planern des Wandels aus dem Westen. Gerade auf diesem Gebiet böte sich das Modell der Bürgerräte an, wie es zum Beispiel in Augustusburg praktiziert wird. „Die Bürger wollen keine Wir-Kümmern-uns-Politik“, sagt der dortige Bürgermeister Neubauer. „Sie wollen es selbst in die Hand nehmen.“ Natürlich reicht es nicht, wenn die Politik die Entscheidungen der Räte lediglich zur Kenntnis nimmt.
Finden wir neue Formen von Subbotniks. Die Sachsen packen gerne selber an. Im Haus, im Garten, bei Freunden und Bekannten. Zu DDR-Zeiten taten sie das unter anderem im Rahmen von Subbotniks: freiwillige Arbeitseinsätze etwa von Hausgemeinschaften für Gartenpflege, Aufräumen, Saubermachen oder Reparaturen. Im Laufe der Zeit wurden diese Subbotniks immer weniger freiwillig. Eine neue Form dieser Gemeinschaftsarbeiten böte die Chance, den Gemeinsinn neu zu aktivieren und Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Anregen und dazu aufrufen sollten Kommunen und Vereine, eine Verpflichtung darf daraus natürlich nicht wieder entstehen. Da Sachsen bisher zu Deutschlands Regionen mit dem wenigsten bürgerschaftlichen Engagement gehört, gibt es hier offenbar noch viel aktivierbares Potenzial.
Und was denken Sie? Was wünschen Sie sich von Politik und Gesellschaft in Bezug auf Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung? Wie ließen sich sächsischer Eigensinn und Pragmatismus zum Gemeinwohl nutzen? Schreiben Sie uns gerne an: sz.[email protected] oder SZ, Leserservice, 01055 Dresden.