Jähes Ende für sächsisches Sex-Projekt für Behinderte

Die Klingel ist schon abgebaut. Drinnen im Büro packt Paul Berthold die letzten Kisten zusammen, gefüllt mit Infomaterial, Kondomen und Plüschpenissen. Hund Piko liegt gelangweilt in der Ecke. Ansonsten ist hier nur ein Schreibtisch mit Laptop und Monitor übrig geblieben. Im großen Kalender an der Wand gegenüber endeten die Einträge Ende Juni. Paul ist wütend, er spricht schnell. "Das ist doch Irrsinn", sagt der Mann mit den lila und gelb gefärbten Haaren und dem dicken Ring in der Nase und zeigt –¨mal gar nicht pädagogisch wertvoll – zwei Stinkefinger. Es sind Pauls letzte Arbeitstage für den Verein Pro Familia. Der Sexualpädagoge wird jetzt arbeitslos. Seine Kollegen sind längst alle weg.
Wenn Paul darüber nachdenkt, was in den vergangenen Wochen passiert ist, ringt er noch immer um Fassung. Der 34-Jährige hat in Dresden Soziale Arbeit studiert und danach innerhalb von drei Jahren ein wahrhaft einzigartiges Projekt aufgebaut. Im Mittelpunkt stand das Recht behinderter Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung. Das ist zwar wörtlich nicht im Grundgesetz zu finden, wird aber vom Bundesverfassungsgericht aus Artikel 1 abgeleitet. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Eines jeden Menschen. Sex von Behinderten ist jedoch ein Tabu, über das kaum jemand nachdenken möchte – und schon gar nicht darüber reden.
Genau das wollte "Melisse" ändern. Dahinter verbirgt sich nicht nur eine angenehm duftende Pflanze, die unter anderem gegen Herzbeschwerden hilft. In diesem Fall stand der Name auch als Abkürzung für "Meine Liebe und selbstbestimmte Sexualität", ein Projekt unter dem Dach des Vereins Pro Familia. Obwohl die drei vergangenen Jahre vor allem von der Corona-Krise und all ihren Einschränkungen geprägt waren, haben Paul und seine Mitstreiter in dieser Zeit 41 Schulungen und Infoveranstaltungen umgesetzt, in 100 Sprechstunden beraten und viele Menschen und Gruppen miteinander vernetzt.
Unrealistische Ansprüche
"Viele sogenannte Behinderte haben unrealistische Ansprüche", sagt Paul. "Sie wünschen sich eine blonde Frau mit großen Brüsten und verstehen gar nicht, warum sie keine abbekommen." In anderen Fällen hätten sich bereits Paare gefunden, wüssten aber nicht, wie Sex funktioniert und brauchten Hilfe. "Oder was ist mit dem Mann, der nicht selbst einschätzen kann, wann es okay ist, einer Frau an die Brust zu fassen?" Auf jede dieser Unsicherheiten müsse individuell eingegangen werden. Der eine möchte erklärt bekommen, wie er einen Partner finden kann, der andere muss erfahren, in welchen Situationen er onanieren darf. Eine 35-jährige Frau habe geglaubt, sie habe eine Verletzung, weil sie einmal im Monat zwischen den Beinen blute. Bei seinen Beratungen und Begleitungen hat Paul Berthold Männer zu Tantramassagen begleitet und mit ihnen zusammen Pornos gekauft, er hat an Dildos demonstriert, wie man Kondome benutzt und mit Schraubgläsern gezeigt, wie sich die Körperflüssigkeiten unterscheiden.
Sogar eine Partnerbörse für Behinderte ist in den vergangenen Jahren entstanden. "Herzenssache" verkuppelt kostenlos Menschen in Dresden, Leipzig, Chemnitz, Plauen und Zwickau, wobei der gravierende Männerüberschuss erfolgreiche Vermittlungen erschwert.

All das war "Melisse". Wer heute die Website aufruft, findet dort das Bild eines weinenden Mädchens und dazu eine Erklärung in einfacher Sprache. "Jetzt gibt es nicht genug Geld für ein Folgeprojekt", ist dort zu lesen. Wenn man ein bisschen länger sucht, findet man auf der Seite noch die Abschlussarbeit von Paul Berthold, in der er sich 2015 mit den Grenzen und Chancen der sogenannten Sexualassistenz für Behinderte beschäftigte. Darin erfährt man: Unterschieden wird grob in passive und aktive Sexualassistenz. Zur passiven Form gehören zum Beispiel das Schminken, ein gemeinsamer Besuch im Sexshop, aber auch sexualpädagogische Beratung, während die aktive Form von erotischen Massagen, Hilfe bei der Masturbation bis zum Geschlechtsverkehr reicht und in Deutschland damit als Prostitution gilt.
In Betreuungsverhältnissen ist aktive Assistenz aus guten Gründen ausgeschlossen. Dass die Grenzen bislang nicht scharf definiert wurden, liegt daran, dass es in diesem Bereich so wenige Projekte und Angebote gibt. Ausgebildete Sexualassistentinnen könnten aus Pauls Sicht helfen, Behinderten die sexuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen. "Was ist beispielsweise mit Menschen, die sich nicht selbst befriedigen können, weil sie Spastiken haben?", fragt er. Bordelle könnten diese Lücke kaum füllen. Wenn da einer käme und sein Portemonnaie zeige, weil seine Betreuer ihm das so gesagt haben, dann werde im Zweifel gleich das ganze Geld herausgenommen, statt nur die vereinbarten 50 Euro.
Ob Sexarbeit überhaupt freiwillig sein kann, ist sehr umstritten. Auch das ist ein Grund, warum nicht jeder Zugang zu bezahlten Sexangeboten für Behinderte fordert. Paul würde eine Übernahme der Kosten begrüßen, allerdings war das Bayerische Sozialgericht bei einem Referenzurteil von 2020 anderer Meinung. Damals hatte ein behinderter Mann geklagt, der Sozialhilfeträger müsse ihm die Kosten für erotische Ganzkörpermassagen erstatten. Die Richter wiesen die Klage ab und vertraten die Ansicht, dass es sich bei Sexualkontakten nicht um "Teilhabe am allgemeinen Gesellschaftsleben" handele.
Zärtlichkeiten gegen Geld sind nicht drin
Damit bleibt Behinderten vorerst nur, sich selbst zu kümmern oder auf Menschen zu vertrauen, die das für sie tun. 140 Euro für eine Stunde Zärtlichkeit – in welcher Form auch immer – könne sich allerdings kaum jemand leisten, der in der Werkstatt nicht einmal 300 Euro Monatslohn erhalte, sagt Paul. Dazu kämen weitere Hürden: "In der gesamten Dresdner Innenstadt gibt es beispielsweise eine Sperrzone für jede Form von Sexarbeit", sagt er. Genau in diesem Bereich gebe es jedoch besonders viele Behindertenwohnheime, deren Bewohner deswegen auf bezahlte Frauenbesuche verzichten müssten.
Anerkannte Ausbildungen für Sexualassistenten gibt es bislang kaum. Theoretisch kann sich jede Prostituierte so nennen. Im "Zentrum für Berührungskunst" namens Anukan in Dresden gab es bis zum Beginn der Corona-Krise spezielle Weiterbildungen zum Thema "Sexualbegleitung", für die dort nun jedoch vorerst kein Budget mehr da ist. Laut Website bieten derzeit elf der Masseurinnen sogenannte "Handicap-Massagen" an. Sex ist ausgeschlossen. "Bei praktischen Besuchen benötigen Behinderte wesentlich mehr Aufmerksamkeit und ein spezielles Know How", sagt Anukan-Chefin Katrin Laux. Wenn diese Art von Angeboten gefördert würde, stünde ihre Tür weit offen. "Uns fehlen dafür derzeit nur die Mittel."
Im Jahr 2018 startete Paul Berthold eine Befragung zum Sexualleben von Behinderten in Sachsen und fasste die Ergebnisse in fünf "Sauereien" zusammen. Dabei ging es unter anderem um fehlende Freiräume, da sowohl Angehörige als auch Pflegende und Werkstätten als Orte der Begegnung sexuelle Annäherungen beschränken oder gar unterbinden würden. "Vor allem Angehörige stehen da lieber auf der Bremse, schon aus Angst, es könnte zu einer Schwangerschaft kommen", sagt Paul. "Am Ende, fürchten sie, müssten sie das Kind noch selbst großziehen." Auch die Partnersuche sei ein großes Problem und damit eine der "Sauereien". Außerdem sei fast die Hälfte der Befragten schon mindestens einmal im Leben sexualisierter Gewalt ausgesetzt gewesen.
Diese Ergebnisse machten Eindruck. So schaffte es Pro Familia 2019, von der Landesdirektion Sachsen die nötige Förderung für das Projekt "Melisse" zu erhalten. Immerhin knapp 600.000 Euro für drei Jahre. Dass er nun aus dem Büro in einem Hochhaus an der Strehlener Straße im Dresdner Zentrum ausziehen muss, grämt Paul nicht besonders. Das war ja nicht mal barrierefrei. Dass es nun aber gar nicht weitergehen wird, hält er wiederum für eine Schande und typisch für den Umgang mit behinderten Menschen in unserer Gesellschaft.
Mehr als 50 Anträge hätten zuletzt nicht mehr bearbeitet werden können. Wer jetzt noch eine Mail an "Melisse" schreibt, der bekommt eine automatische Antwort mit der Auskunft "Das Büro ist ab sofort nicht besetzt". Alternative Angebote habe er nicht guten Gewissens empfehlen können, sagt Paul. Lehrer seien nicht für sexuelle Aufklärung ausgebildet, an Förderschulen gleich gar nicht. Bei vielen Beratungsstellen würde behinderte Frauen mit Kinderwunsch wie Zwölfjährige behandelt. Nun solle und werde jeder sehen, wie sehr ein sachsenweites Projekt wie "Melisse" fehle.

Wie konnte es so weit kommen? Natürlich ging es ums Geld. "Bis April 2022 standen der Landesdirektion Sachsen lediglich Mittel zur Förderung von Teilhabeprojekten im Jahr 2022 zur Verfügung", sagt Holm Felber, Sprecher der Landesdirektion. Für längerfristige Projekte sollten daher die Anträge entsprechend geändert werden. Daraufhin sei der Antrag für das Projekt "Melisse" zurückgezogen worden. Formal mag das korrekt sein, sagt Paul Berthold. Allerdings sei es "kompletter Wahnsinn", mit dieser Begründung ein Projekt mit drei Standorten und einem Team von mehr als acht Leuten zu beerdigen. So etwas könnte nur langfristig aufgebaut werden.
Michael Welsch, Sachsens Landesbeauftragter für Inklusion, ist alarmiert. "Das Projekt hat im Bereich der Sexualberatung enorme Pionierarbeit geleistet, welche meines Erachtens verstetigt werden sollte", sagt er. "Dass das Angebot derzeit nicht zur Verfügung steht, bedaure ich sehr."
Auch Ines Eisold ist traurig. Um auf Augenhöhe mit den behinderten Menschen kommunizieren zu können, hatte Paul die 35-Jährige mit ins "Melisse"-Boot geholt und sie zur Peer-Beraterin ausbilden lassen. Ines wohnt allein in einer Wohnung in Pirna. Seit ihrer Geburt leidet sie an Spastischer Tetraparese und sitzt im Rollstuhl. In einer Werkstatt der AWO montiert sie im Schichtdienst Autoteile und bekommt dafür 284 Euro im Monat. Sie lernte Paul bei einem Vortrag an der Volkshochschule kennen und entschied sich bald darauf, sein Projekt unterstützen zu wollen. Allein ihre Anwesenheit sollte anderen Behinderten die Sicherheit geben, ihre Fragen loszuwerden. Weil Ines kaum lesen und nicht schreiben kann, wurde für sie ein spezielles Computerprogramm angeschafft, das gesprochene Wörter automatisch in Text umwandelt. Dadurch war sie in der Lage, vom Büro aus E-Mails zu beantworten.

Ines spricht offen über ihre Sexualität. "Ich suche mir meine Partner selbst, aber das kann nicht jeder", sagt sie. Deswegen sei das Projekt so wichtig gewesen. Nach dem coronabedingt schwierigen Start hätten sie und Paul künftig ein Tandem bei sexualpädagogischen Beratungen bilden können. So etwas gibt es in ganz Deutschland noch nicht. Doch "Melisse" ist Geschichte. "Jetzt werden wieder viele behinderte Menschen in den Heimen Ärger bekommen, weil sie bestimmte Dinge nicht wissen", sagt Ines.
Paul Berthold hat sich genug aufgeregt. Jetzt klingt er fast ein wenig resigniert. "Wir haben hier in drei Jahren die Welt verändert. Und dann ist plötzlich alles vorbei, und du wirst arbeitslos." Über den Sommer hinweg wird er die Zeit nutzen, um für die Lebenshilfe als Reisebetreuer mit Behinderten unterwegs zu sein. Von seinen früheren Reisen zeugen etliche Tattoos an seinem Körper, unter anderem ein Fallschirmspringer aus Kühlungsborn auf dem Oberarm und eine italienische Landschaft auf den Waden.
Womöglich wird Paul die Sexualberatung künftig auf anderem Wege fortsetzen. Vielleicht wäre ein eigener Verein die Lösung? Ines und andere Mitstreiter wären sofort wieder an Bord. "Fakt ist: Soziale Arbeit muss gefördert werden, weil die Sprechstunden kostenlos bleiben müssen", betont Paul. Sex sells – aber nicht hier.